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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Für die Literatur aber ist der Rundfunk ein veränderndes Medium«

Band 9 der Kritischen Gesamtausgabe der Werke und des Nachlaßes
Walter Benjamins versammelt vorbildlich editiert dessen Rundfunkarbeiten.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Everything I had to know
I heard it on my radio...
So don´t become some background noise,
A backdrop for the girls and boys
(Queen)

Literatur und Rundfunk

»Für die Musik und Journalistik«, schreibt Alfred Döblin in seiner Kasseler Rede »Literatur und Rundfunk« aus dem Jahre 1929, »bedeutet der Rundfunk im wesentlichen kein Novum, er ist da nur ein neues technisches Mittel der Verbreitung. Für die Literatur aber ist der Rundfunk ein veränderndes Medium.« Verändernd, insofern die Hochkultur an ein Massenpublikum herangeführt wird; verändernd aber auch, weil sich neue Möglichkeiten der Vermittlung bieten, die dem stummen, einsamen Lesen die Lebendigkeit der Sprache entgegensetzen. Walter Benjamin hat sich mit diesem Medium jahrelang intensiv auseinandergesetzt, wenngleich er mit Döblin daran festhielt, dass der Rundfunk gewiss nicht das ideale Medium der Literatur sei. Doch so skeptisch wie viele seiner Schriftstellerkollegen war er nicht. Diese sahen im Rundfunk etwas Vulgäres, eine, wie Döblin schreibt, »Unterhaltung und Belehrung plumper Art«. Benjamin hingegen hat mit den Möglichkeiten des Rundfunks literarische Experimente durchgeführt, deren erklärtes Ziel die »Umgestaltung ... des Stoffes« (528) ist.

Rundfunk/Radio

Der Rundfunk (das Radio) war in der Weimarer Republik ein noch recht junges Medium. 1925 kam es zur Gründung des Weltrundfunkvereins und der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), aus der nach dem Zweiten Weltkrieg die Landessendeanstalten hervorgingen. Vorsitzender der RGG war der Hochfrequenztechniker und Radiopionier Hans Bredow, der den Ausdruck »Rundfunk« kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geprägt hat. Bredow war es auch, der 1923/4 für die Einrichtung der ersten Sendernetze verantwortlich zeichnete. Die Funk-Stunde AG Berlin nahm im Oktober 1923 als erste Rundfunkgesellschaft den Sendebetrieb auf. In der Abmoderation der Rundfunkpremiere wird der Hörer noch angewiesen, seine Antenne wieder zu erden.

Es folgten erste Live-Übertragungen von Sportereignissen, und 1926 ging der erste Sender für Kurzwellenrundfunk an den Start. Im gleichen Jahr wurde der von dem Architekten Heinrich Straumer entworfene Funkturm in Berlin anlässlich der dritten großen Deutschen Funk-Ausstellung in Betrieb genommen. Auch die Deutsche Welle GmbH geht im selben Jahr auf Sendung.

Walter Benjamin und der Rundfunk

Walter Benjamin ließ sich von dem neuen Medium inspirieren, gestaltete zwischen 1927 und 1933 rund 80 Sendungen, las Buchbesprechungen, schrieb Hörspiele und didaktisch orientierte Hörmodelle, erdachte Kinder- und Jugendbeiträge (»Fachvorträge für Kinder«), erzählte von historischen Katastrophen und bearbeitete klassische Texte. Über seinen Freund Ernst Schoen, der unter anderem als Programmleiter beim Südwestdeutschen Rundfunk tätig war, knüpfte er 1925 erste Kontakte zum Rundfunk.

Band 9 der Kritischen Gesamtausgabe versammelt in zwei Teilbänden die heute bekannten und überlieferten Texte, »die Benjamin im medienspezifischen Zusammenhang für und über den Rundfunk schrieb.« Diese Texte spielten lange Zeit keine Rolle bei der Verbreitung von Benjamins Werk. Noch im Jahre 1992 begann Heinrich Kaulen seine »Überlegungen zu Walter Benjamins Rundfunkarbeiten« mit dem Satz: »Die Arbeiten ... gehören zu jenem Teil des Benjaminschen Œuvres, der von der Forschung bislang nur wenig beachtet worden ist, obwohl er von seinem Umfang her eigentlich nicht zu übersehen sein dürfte ...«

Bei den Rundfunkarbeiten, so Kaulen, handele es sich um die Schriften, die Benjamin bei seiner Flucht vor den Nazis in seiner Pariser Wohnung zurücklassen musste, und die nur durch Zufall vor der Vernichtung gerettet werden konnten. Viele Texte wurden so erst sehr spät veröffentlicht und erhielten nicht die Aufmerksamkeit seiner philosophischen und literaturtheoretischen Arbeiten. Wenig Beachtung fanden die Arbeiten zunächst auch deshalb, weil sie eben primär für das Radio und nicht für eine Buchveröffentlichung bestimmt waren. Hinzu kommt, dass Benjamin selbst eine reservierte Haltung gegenüber einigen seiner Rundfunkarbeiten hatte.

Hörspiele

Die Edition insgesamt dekonstruiert Benjamins Bedenken bezüglich seiner Rundfunkarbeiten, die er gegenüber Scholem einmal als »Brotarbeit« titulierte. Bereits der erste Text besticht nicht allein durch seinen unnachahmlichen Sprachduktus, sondern ebenso durch die Idee, Hoch- und Volkskultur im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert im Spiegel der eigenen Gegenwart kritisch aufeinander zu beziehen und Volkstümlichkeit und Wissenschaft, Räubergeschichte und Aufklärung miteinander zu verquicken: Das Hörspiel »Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben« will so dem Massenpublikum, das keine Maßstäbe für sein Urteil mehr zur Verfügung, und keine Sprache für seine Empfindungen hat, etwas entgegensetzen und die Hörer (einschließlich der Kinder) als Sachverständige auf seine Seite ziehen (533).

Wer das Stück heute liest, dem werden wundersame, wohlklingende Wörter ins Auge springen. Da taucht zum Beispiel die »Tabagie« auf: ein Lokal, in dem geraucht werden durfte, zu einer Zeit, in der Tabak vorrangig noch in Apotheken erworben werden musste und Gastwirte ihren Gästen anboten, gegen wenig Geld Pfeifen zu mieten und der »trockenen Trunkenheit«, wie Egon Conte das Rauchen einst nannte, zu frönen. Dies führte dazu, dass vor allem einfaches Publikum in den Tabagien anzutreffen war. Es heißt in Benjamins Stück, die Aufklärung sei den Tabagien entsprungen.

Oder nehmen wir die »Kurrendejungen«, ehedem ein Chor an protestantischen Schulen. Die bedürftigen Jungen zogen von Haus zu Haus und sangen für Geld und Brot. Nicht von ungefähr tritt auch Karl Philipp Moritz auf, in dessen Roman »Anton Reiser« die Kurrende ebenfalls eine Rolle spielt. Im Berlin der 1930er Jahre bemühte man sich um eine Wiederbelebung dieser Laufchöre, debattierte jedoch heftig über den Sinn des Herumziehens. Heute noch ist der kirchliche Knabenchor insbesondere im Erzgebirge anzutreffen.

Wir stoßen auch auf Begriffe wie »Motette« (Kirchenmusik), »Scharteke« (ein wertloses Schriftstück oder Buch, etwa eine Hauschronik, ein Kräuterbuch oder eine Postille), »Devanture« (franz. für Schaufenster) oder »Particulier« (Privatperson) und auf die Stimme der Romantik, die keinen Namen hat. Wir begegnen Moritz´ Mitschüler am Hannoverschen Lyceum, dem Dramatiker August Wilhelm Iffland, der in der Mannheimer Erstaufführung von Schillers Räuber 1782 den Franz Moor mimte. Schließlich tritt das 19. Jahrhundert auf, das »die Tyrannei der Minute« begründet habe.

Mit viel Witz kommt auch das Hörspiel »Radau um Kasperl« daher. Kasperl, durch Zufall dorthin gelangt, beschimpft im Rundfunk Politiker und Polizei, weshalb er wegen »Rundfunkstörung« (ein so schönes Wort!) gejagt wird. Es entspinnt sich eine groteske Suche nach dem Flüchtigen, der doch ursprünglich nur auf Bitten seiner Frau Puschi zum Markt gehen und Fisch holen sollte.

Ähnlich wie Kasperl stürmt auch Hauffs Kohlenmunkpeter in einem weiteren Hörspiel das Studio, weil er endlich einmal im »Stimmland«, wie er das Radio tauft, sprechen möchte. Seit 100 Jahren schon ist er, selbst stumm, ins Märchenbuch eingesperrt. Nun bringt er den Holländer-Michel, das Glasmännlein und den Ezechiel sowie die Lisbeth gleich mit. Und tatsächlich wird Hauffs Märchen auf diese Weise äußerst lebendig, obwohl die mediale Verfasstheit der Sendung in einer Publikation natürlich nicht eingeholt werden kann: »Eine gedruckte Ausgabe von Benjamins Rundfunkarbeiten verfehlt notwendigerweise die mediale Besonderheit ihres Gegenstandes«, schreiben die Herausgeber Thomas Küpper und Anja Nowak.

Das letzte abgedruckte Hörspiel widmet sich dem Professor für Experimentalphysik, Georg Friedrich Lichtenberg, der für seine Experimente und Ausflüge in andere Fachbereiche berühmt war. In den Sudelbüchern schreibt Lichtenberg: »Wenn sie auf dem Monde Ferngläser haben wie wir, so müssen sie Troja, Rom und London haben brennen sehen, ja ein Mayer im Mond würde vermutlich bemerkt haben, daß der Flecken, der hier London heißt, von Jahr zu Jahr sich merklich vergrößere.« (SB I, C 203).

Der Mayer im Mond ist Tobias Mayer, Leiter der Göttinger Sternwarte, dessen Mondforschungen Lichtenberg weiterführte. Irving Wohlfarth bemerkte hierzu im Jahre 2002: »Hier wird die Perspektive, von der aus irdische Himmelsforscher den Weltraum erkunden wie ein Spieß umgedreht. Das umgekehrte Perspektiv spießt unseren eigenen naturgeschichtlichen Standort auf.«

Genau davon handelt Benjamins »Lichtenberg«. Hierbei bedient er sich der Ironie Lichtenbergs, wenn er ihn sagen lässt: »An jeder Sache ziehe ich eine Vorbedeutung und mache hundert Dinge an einem Tag zum Orakel.« Lichtenberg sei »ein Mann, der sein Lebensglück und seine Ruhe auf Insekten und Krähen, Träume und Ahnungen baut.« Und er kennt das Schicksal der Bücher: Gegen eines, das gelesen wird, werden tausend bloß durchgeblättert.

Das Hörspiel endet mit der tatsächlich vollzogenen Taufe eines Mondkraters nach Lichtenberg. Der Krater hat einen Durchmesser von knapp 20 Kilometern. Dort hält in Benjamins Hörspiel das Mondkomitee für Erdforschung seine Sitzungen ab.

Die Edition

Die Edition hält neben den Hörspielen auch die didaktisch angelegten Hörmodelle bereit und druckt u.a. die Erinnerungen von Wolfgang M. Zucker, der mit Benjamin zusammen diese Modelle entwarf. Daneben gibt es Vorträge für Kinder und Erwachsene, Gespräche und Texte über den Rundfunk.

Das Themenspektrum ist weit gefasst: Texte über Berlin und den Wandervogel, über Hexen, Caspar Hauser, Literaten (von Hebel über Gide und Brecht bis Kafka und Sieburg), das Puppenspiel und Max Liebermann sowie über den Alchimisten und Hochstapler Allessandro Cagliostro, dessen Leben Vorbild für Schillers »Geisterseher« war und der in E.T.A. Hoffmanns »Sandmann« ebenso eine Rolle spielt wie später in Umberto Ecos »Das Foucaultsche Pendel«.

In allen Texten merkt man Benjamin die kindliche Begeisterung für Sprachspiele an. So macht er sich lustig über das Berliner schöngeistige Publikum, das zwar Interesse, doch kein Wissen besitzt, sich aber einiges darauf einbildet. Oder er doziert selbstironisch über die Intarsien der Rede (Intarsie heißt eine Dekorationstechnik auf Holzschränken und -tischen). Einmal erzählt er an die Kinder gerichtet, er wiege die Worte und Minuten im Radio wie ein Apotheker die Stoffe wiegt, um ein Medikament herzustellen.

Die Edition bündelt diese bis dato recht verstreut publizierten, nicht selten falsch zugeordneten Texte. Die Fülle und Vielfalt der Rundfunkbeiträge wird so ersichtlich. Die Transkription erfährt zudem eine neue Qualität, denn die Gesammelten Schriften wichen teils von den Textvorlagen ab und ergänzten Zitate, wo Benjamin lediglich Platzhalter eingesetzt hat, ohne exakt anzugeben, welches Zitat hier verwendet werden solle. So führt die Edition die Prozesshaftigkeit der Arbeiten vor Augen und unterstreicht diese mit einem Kapitel zu »Entwürfe und Fassungen.« Sie weist Varianten nach und kennzeichnet handschriftliche Korrekturen. Schließlich gibt sie Dokumente zum besseren Textverständnis mit an die Hand. Darunter fallen Rezensionen und ergänzende Texte, die die Resonanz auf Benjamins Beiträge exemplarisch vor Augen führen. Diese akribisch durchgeführte Arbeit von Band 9 der Kritischen Gesamtausgabe, deren Mühen man nur erahnen kann, ist ein absoluter Glücksfall für die Benjamin-Forschung. Sie betont einmal mehr das literarische Talent des Kritikers und Philosophen.

Wenn es stimmt, dass für die Literatur »der Rundfunk ein veränderndes Medium« ist, dann hat Walter Benjamin nicht zuletzt mit seinen Rundfunkarbeiten maßgeblich dazu beigetragen, der Literatur des 20. Jahrhunderts ein neues Gesicht zu geben.

Artikel online seit 17.03.17

 

Walter Benjamin
Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe
Band 9: Rundfunkarbeiten
Herausgegeben von Thomas Küpper und Anja Nowak in zwei Teilbänden
Suhrkamp
Halbleinen, 1544 Seiten
98,00 €
978-3-518-58610-5

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