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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Die Verwandlung der Welt durch den modernen Terrorismus

Carola Dietzes Studie genügt höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen
und eröffnet eine neue Sichtweise auf die Historie terroristischer Gewalt.


Von Jürgen Nielsen-Sikora

Carola Dietzes Studie liefert eine Theorie des Terrorismus, die sie anhand von fünf Fallbeispielen auf die Probe stellt: Felice Orsinis Attentat auf Napoleon III., John Browns Überfall auf Harpers Ferry (West Virginia), Oskar Wilhelm Beckers Attentat auf Wilhelm I. sowie die Ermordung Abraham Lincolns durch John Wilkes Booth und schließlich Dmitrij Karakozovs Anschlag auf Zar Alexandr II.
Die zentrale These des Buches lautet, dass der moderne Terrorismus zwischen 1858 und 1866 entstand und die Welt grundlegend verwandelte.

Ziel und Aufbau des Buches

Die gekürzte und überarbeitete Fassung einer ursprünglich als Habilitationsschrift verfassten Studie zum Terrorismus möchte die gängigen wissenschaftlichen Narrative zur Geschichte des Terrorismus überprüfen, neue Zusammenhänge aufzeigen und ein besseres Verständnis zur Gegenwart des Terrorismus herausarbeiten. Mit den Fallbeispielen sollen die Anfänge des Terrorismus erklärt werden, um nicht zuletzt die Gegenwart des Terrors besser nachvollziehbar zu machen.
Dietzes methodische Frage lautet: Wie lassen sich überhaupt erste wirkmächtige terroristische Anschläge identifizieren? Hierzu versucht sie, den Terrorismus zunächst zu definieren, zentrale Elemente terroristischer Handlungslogiken zu benennen und Ursachen und Wirkungen aufzuzeigen.
Die Entstehung des Terrorismus verortet sie hierbei im 19. Jahrhundert in der sich herausbildenden westlichen Moderne und der zunehmenden Medienberichterstattung.

Die „Erfindung des Terrorismus“ berücksichtigt in den oben genannten Fallbeispielen sowohl den historischen Kontext der Taten als auch die politischen Dynamiken, die Vorbilder der Terroristen, deren Weltbilder, ihre Ideen und Netzwerke.
Dietze liefert mit ihrer Schrift eine transnationale Gesellschaftsgeschichte und eine vergleichende Politik-, Sozial- und Ideengeschichte, bei der die Taten im Zusammenhang untersucht und nicht als Einzeltaten betrachtet werden.
Zu diesem Zweck greift sie auf ein ganzes Arsenal historischer Quellen zurück: Selbstzeugnisse wie Briefe und Memoiren, Polizeiakten, Gerichts- und Gefängnisakten, Depeschen, staatliche Korrespondenzen, Briefe aus der Bevölkerung, öffentliche Erklärungen, parlamentarische Untersuchungskommissionen, Verhörprotokolle, Zeitungsartikel, Reden, Vorträge, Predigten, Publikationen und Fotografien.

Der Angriff auf politische und öffentliche Personen als Vertreter der sozialen und ökonomischen Ordnung unterscheidet sich, so eine der Thesen des Buches, grundlegend von vormodernen Varianten des Terrorismus wie man sie bei den jüdischen Sacarii, den Assassinen oder den indischen Thugs vorfindet: Der moderne Terrorismus ist ein abstrakter Kampf gegen die gesellschaftliche Ordnung, doch keine Wiederherstellung der Ordnung durch Gewalt oder Beseitigung bestimmter Personen. Die Wirkung der Taten auf Dritte wird wichtiger als die Tat selbst.

Das Buch arbeitet dies heraus und zeigt die veränderten Vorzeichen auf. Die terroristische Forderung lautet fortan: Politische Partizipation und nationale Souveränität, persönliche Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde und versteht sich als Fortsetzung der großen Revolutionen mit anderen Mitteln. Die politischen Ideale der Französischen Revolution sowie deren Umsetzung und Verbreitung sind maßgeblich für alle terroristischen Aktivitäten zur Jahrhundertmitte. Die revolutionären Prinzipien Demokratie, Nationalismus und persönliche Freiheit leiten die Ideen der Attentäter.

Theoretische Prämissen

Dietze geht zunächst auf die Problematiken einer Begriffsbestimmung des Terrorismus ein und konstatiert, es gäbe einen kleinsten gemeinsamen Nenner aller Definitionen, die Peter Waldmann bereits herausgearbeitet habe. Demzufolge ist Terrorismus als planmäßig vorbereitete, schockierende Gewalttat gegen die politische Ordnung zu verstehen; eine Tat, die das Ziel verfolgt, einerseits Schrecken zu verbreiten, andererseits Sympathien hervor zu rufen. Moderner Terrorismus sei die spektakuläre Gewaltanwendung mit dem Ziel, einen starken psychischen Effekt wie Angst in der Gesellschaft zu erzeugen, um eine politische Veränderung herbeizuführen. Insofern sei der Terrorismus des 19. Jahrhunderts eine Abart der Emanzipationsbewegungen und in verschiedenster Ausprägung nachweisbar: Entweder ist er sozialrevolutionär, ethnisch-nationalistisch oder rechtsradikal (heute unter Umständen auch religiös) motiviert. Die Französische Revolution bildet in allen drei Varianten stets den Vorraum dieser Formen des modernen Terrorismus.

Hinzu kommt, dass einige gesellschaftliche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen: Die Existenz sozialer Bewegungen, die Komplexität moderner Gesellschaften, die Urbanisierung, Massenmedien und verbesserte Kommunikations- und Transportbedingungen. Es bedarf zudem des Vorhandenseins gesellschaftlicher Missstände und der Vorstellung, die Zustände seien veränderbar. Auch ein Mangel an politischen Partizipationsmöglichkeiten sei ebenso eine Voraussetzung wie aufständische Traditionen und die Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Elite.
Der Terrorist versteht sich insofern in erster Linie als Revolutionär. Sein Terror braucht die Öffentlichkeit, um wirksam zu werden. Seine Botschaften werden über die Medien verbreitet, seine spektakuläre Gewalt sind stets „big news“.

Fallbeispiele

Die von Carola Dietze umfangreich skizzierten fünf Fallbeispiele sollen zeigen, dass der moderne Terrorismus um 1860 erfunden wurde. Den Auftakt terroristischer Gewalt macht hierbei

Felice Orsini

Orsini ist ein Anhänger der revolutionären italienischen Bewegung, seine Familie ist Teil eines weit verzweigten Adelsgeschlechts. Anfangs ist er Mitarbeiter Giuseppe Mazzinis, wird jedoch später aus der Bewegung verbannt.
Wegen seiner revolutionären Aktivitäten bereits zum Tode verurteilt, kann er 1856 aus dem Kerker fliehen. Orsini leidet jedoch an Depressionen und Angstzuständen, an Geldsorgen, Schmerzen und diversen Verletzungen.
Der Grund seiner revolutionären Umtriebe ist die Blockade der Nationsbildung in den italienischen Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er zeigt sich unzufrieden mit den Erfolgen der Bewegung „Junges Italien“ und macht Napoleon III. für den politischen Stillstand mitverantwortlich. Denn dieser unterdrückte die Unabhängigkeitsbewegung in Italien mit aller Härte. Das gescheiterte Attentat, das minutiös beschrieben wird, war in Europa und den USA eine mediale Sensation. Dietze beschreibt nicht nur die Tat und den anschließenden Prozess, sondern analysiert auch die Motive, skizziert die Hinrichtung Orsinis und zeigt die politischen Folgen auf, die sich durch die mediale Berichterstattung ergeben und nicht zuletzt auch zu einer Radikalisierung der Politik in Amerika führt. War Orsini ein Freiheitskämpfer oder doch bloß ein Krimineller, lautet die Frage, die sich bis heute immer wieder stellt.

John Brown

John Brown stammt aus Conneticut. Die Familie übt die Berufe des Gerbers, des Schuhmachers und Farmers aus. Brown ist Mitglied der abolitionistischen Bewegung. Sie fordert gleichberechtigte Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft für alle Afroamerikaner, ein Ende der Sklaverei und der Diskriminierung. Es ist eine vom messianischen Protestantismus inspirierte moralische Bewegung, die sich die Fortsetzung und Vollendung der amerikanischen Revolution als Ziel gesteckt hat. Für sie ist die Sklaverei die Summe aller Verbrechen.

Die Radikalisierung Browns erfolgt laut Dietze um 1839. Brown glaubt, Gott habe ihn beauftragt, die Sklaven zu befreien. Aus diesem Grunde greift er mit Unterstützung einiger Gleichgesinnter die Stadt Harpers Ferry mit dem Arsenal und den Waffenmanufakturen des US-Militärs an. Sein Überfall auf eine militärische Einrichtung kalkuliert ganz bewusst mit der öffentlichen Wirkung.
Ein mögliches Vorbild ist hierbei Felice Orsini, dessen Tat rasch auch in den USA bekannt und wohl von Brown rezipiert wurde.
Brown verliert bei dem Angriff zwei Söhne und wird selbst schwer verletzt. Führende Intellektuelle wie Emerson und Thoreau schlagen sich auf seine Seite, wodurch die Tat nochmals verstärkt Aufmerksamkeit erlangt.
Man erhängt schließlich den Attentäter, und abermals berichtet die Presse sehr ausführlich darüber. John Brown stirbt als Märtyrer für die Sache der Sklaven in den USA. Seine Tat hat erheblich zum Ausbruch des Sezessionskrieges beigetragen. Positive Stellungnahmen zu Browns Überfall kommen insbesondere aus Europa.

Weiterentwicklung des Terrors durch Nachahmer

Weitere drei Anschläge interpretiert Dietze als terroristische Nachahmer, die jedoch zugleich den Terror weiterentwickelt hätten.
Es handelt sich hierbei um Oskar Wilhelm Beckers (Student der Rechts- und Staatswissenschaften in Leipzig) Attentat auf den späteren Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1861, die Ermordung Abraham Lincolns 1865 durch den Schauspieler Jon Wilkes Booth und das Attentat des Studenten Dmitrij Karakozov 1866 auf Zar Alexandr. II, das die Epoche des Terrorismus in Russland eröffnete.
Alle drei Taten habe man, so Dietze, bis dato zu den klassischen politischen Attentaten gezählt. Doch diese Gewaltakte entsprächen exakt der Definition des Terrorismus und seien als Nachfolgetaten jener Gewaltakte von Orsini und Brown zu werten. Darüber hinaus hätten sie den Terrorismus als Taktik weiterentwickelt und das Bekennerschreiben erfunden.

Ohne Zweifel genügt Carola Dietzes voluminöse und quellengesättigte Studie höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und eröffnet eine neue Sichtweise auf die Historie terroristischer Gewalt. Abseits davon ist das Buch aber auch für interessierte Laien gut lesbar. Dazu tragen die verständliche und klare Sprache und die mitreißenden, lebhaft geschilderten Fallbeispiele bei. So sei auch all jenen, die sich abseits akademischer Dispute über die Geschichte des modernen Terrorismus und die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert informieren möchten, dieses Buch ganz besonders empfohlen.

Artikel online seit 01.02.17

 

Carola Dietze
Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866
Hamburger Edition
752 Seiten, 33 Abbildungen, 5 Karten
42,00 €
978-3-86854-299-8

Leseprobe

 


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