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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Eine erschütternde Archäologie des Sozialen

Didier Eribons Rückkehr nach Reims.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« ist außergewöhnlich, weil mit keinem anderen Werk vergleichbar. Das Buch ist Autobiografie, soziologischer Selbstversuch, Familien- und Gesellschaftsgeschichte. Was jedoch besonders bemerkenswert ist: Es ist nicht nur großartige, nachdenkliche Literatur, sondern gleichwohl eine exzellente philosophische Studie, die ein erschütterndes Sittenbild der französischen Gesellschaft liefert.

Eribons Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung mit seinen Eltern, insbesondere mit seinem verstorbenen Vater, Fabrikarbeiter seit seinem 13. Lebensjahr und gewalttätiger Trinker, später Frühpensionär und demenzkranker Pflegefall. Die Familie wohnt in Reims, dort, wo Adenauer und de Gaulle die deutsch-französische Freundschaft besiegelten. In den 1950er und -60er Jahren teilt sich die Stadt in zwei Klassen: Großbürgertum – und arme Arbeiter, zu denen Eribons Familie zählt.

Gewalt und elende Lebensumstände prägen die Kindheit; Depressionen, Melancholie, familiäre Kränkungen und Beleidigungen sind an der Tagesordnung. Es ist die Welt der Kriminalität, der Teenager-Schwangerschaften und Abtreibungen, der Waisenhäuser und emotionalen Kälte. Umgeben von Analphabeten, von Krankheit und geschundenen, schmerzerfüllten Körpern, wächst Eribon in einem sozialen Umfeld auf, das ihn zeitlebens tief prägen wird. Zwischen ihm, dem homosexuellen und wissbegierigen Jungen, und seinem jähzornigen und homophoben Vater tun sich wahre Abgründe auf. Die Mutter arbeitet als Putzfrau, ist Hausfrau, später Fließbandarbeiterin und Symbol für die Tristesse der französischen Kleinstädte und Dörfer. Während sie in der Fabrik stundenlang Deckel auf Gläser schraubt, um ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, taucht dieser immer tiefer ein in die Werke von Aristoteles, Kant und Marx. Die Welt der Eltern aber ist gekennzeichnet vom sozialen Wohnungsbau, von den urbanen Ghettos und Banlieus, aber auch von den klassischen Rollenmuster. Die Perspektivlosigkeit des Prekariats ist überall greifbar. Ihr Alltagsrassismus sitzt tief.

Eribon flieht im Alter von 20 Jahren vor seiner eigenen Familie, bricht alle Kontakte, auch zu seinen drei Brüdern, ab, und geht nach Paris. Dort studiert er und kehrt nun nach einigen Umwegen als Universitätsprofessor nach Reims zurück, um »die Gegend meiner selbst« (Jean Genet) zu erkunden und um sich mit sich selbst auszusöhnen. Für einen Dialog mit dem Vater, für ein erstes Gespräch überhaupt, ist es allerdings längst zu spät.

Das Buch wirft Fragen nach dem sozialen Schicksal auf. Es ist, wie Eribon treffend formuliert, eine Archäologie des Sozialen. Er schämt sich nicht seiner Homosexualität, sondern seiner sozialen Herkunft, von der er sich nur mit Hilfe seiner Kontakte zu anderen Schwulen aus anderen sozialen Milieus befreien kann. Eribon musste sein soziales Kapital kappen, es tilgen, um der zu werden, der er ist. Doch dieser Weg, den er beschreibt, ist kein leichter. Er ist voller Steine, voller Wut und Verzweiflung, voller Maskeraden und Fluchtmanöver und voll von sozialen Demütigungen.

Auf seinem Weg vom Arbeiterjungen zum Professor, beseelt von dem Wunsch, zur Hochkultur zu gehören, imitiert er den bürgerlichen Jargon.  Doch er kann seinen Ekel vor dem Gehabe und den kulturellen Konventionen der bürgerlichen Welt nicht verhehlen. Das Sprechen muss er neu lernen, die eigene Ausdrucksweise permanent überwachen.

Einen Höhepunkt in diesem Kontext bildet gewiss die Tirade gegen den bürgerlichen Philosophen Raymond Aron, für Eribon das Musterbeispiel eines Söldners und Auftragsschreibers für die herrschende Klasse. Ihm attestiert er eine glanz- und kulturlose Prosa, und er bemängelt dessen Phrasenverliebtheit, Oberflächlichkeit und Selbstgefälligkeit. Am schlimmsten aber wiege, dass dem Bürgertum jegliches Klassenbewusstsein fehle, da sie nicht mit solch schlimmen Erfahrungen in der Kindheit konfrontiert worden seien wie die armen Arbeiterklassen. Diese Kluft ist auch in der akademischen Welt immer wieder spürbar. Denn seinen Habitus kann niemand vollständig verleugnen: Eribons Aufstieg aus diesem Milieu in das der Oberschicht lässt bei ihm selbst einen »gespaltenen Habitus« (Pierre Bourdieu) zurück. Er kennt das Elend aus eigener Erfahrung. Die Erfahrung kennzeichnet jedoch auch seinen Habitus in der akademischen Welt. Arroganz gegenüber weniger privilegierten Schichten ist ihm suspekt.

Eribons Buch selbst ist von diesem Zwiespalt beseelt. Man erhält einerseits tiefe Einblicke in die französische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts und stößt auf Sartre, Lacan, Foucault und andere Denker; andererseits steigt Eribon immer wieder hinab in die Hölle der einfachen Leute und übt vehement Kritik etwa an der sozialen Selektion, die durch das Schulsystem manifestiert wird.

Darüber hinaus bietet er einen Erklärungsansatz für den Aufstieg der Rechten nicht nur in Frankreich an. Einst seien, so Eribon, seine Eltern links gewesen, aus reinem Protest gegen das, worunter sie litten. Mit dem Aufstieg der Linken in Frankreich zu Beginn der 1980er Jahre habe bei den Linken jedoch eine Metamorphose eingesetzt, die ihr Wesen entkernt habe. Die Beziehung zum Volk ging verloren. Ernüchterung, Verdrossenheit und das Gefühl politischer Vernachlässigung gingen hiermit einher. Diese politische Lücke füllt heute der Front National in Frankreich, andere rechte Parteien in Europa übernehmen ähnliche Funktionen. Mit ihren leeren Versprechungen wirken sie gerade auf jene ein, die voller Neid und Selbsthass und auf der verzweifelten Suche nach Identität sind: Die Wutbürger und Unzufriedenen, die Polterer und Hasskommentatoren und die Europa-Feinde – voller Missgunst, Häme, Groll und Herzlosigkeit, voller Ressentiment und diffusem Rachedurst, und zu allem Überfluss auch noch peinlich humorlos und ohne jeglichen Bezug zur Welt der Ideen, Gedanken und Bücher.

Ihnen hält Didier Eribon eine Stelle aus Sartres Genet-Buch entgegen: »Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.« Und Hass ist definitiv der falsche Weg.

Artikel online seit 03.02.17

 

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
edition suhrkamp
Broschur, 240 Seiten
18,00 €
978-3-518-07252-3

Leseprobe

 


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