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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Von der Schönheit, der Verführung, der Zerstörung

Über Gerhard Falkners Roman »Apollokalypse«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Könnte man nicht einmal, so habe ich mich immer wieder gefragt, eine Rezension mit einem so fulminanten Anfang beginnen, dass der Rest gar keine Rolle mehr spielt? Mit einer Götterdämmerung: Nacht, Walkürefelsen, Nornen? Mit drei Hexen, Donner, Blitz und Regen. Mit einem armen Tor im Studierzimmer? Oder mindestens mit einem fulminanten Zitat: »Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten.«

Apollokalypse (»Apollo, das Prinzip des Schönen, Kalypso, das Prinzip der Verführung, und Apokalypse, das Prinzip der Zerstörung«) ist die Lebensgeschichte des Dichters Georg Autenrieth, 1950 in Süddeutschland geboren, Kind zweier Väter und Doppelgänger seiner selbst. Ein Mann mit merkwürdigen Freunden und tragischen Liebschaften.

Da ist zum Beispiel Isabel »Bella« Kauffmann, Muse und Geliebte seines besten Freundes, des verrückt gewordenen Künstlers Heinrich Büttner. Der setzt sich ein gestopftes Hühnchen auf seinen Ständer und adaptiert Rilke: »Sein Schwanz war im Vorüberziehn der Hühner / so steif geworden, dass ihn nichts mehr hält / ihm war, als ob es nur noch Hühnerpussies gäbe / und hinter Hühnerpussies keine Welt.« Dieser Büttner formt noch aus seinem Selbstmord ein Kunstwerk.

Und da ist die Bulgarin Billy, die sich von hochrangigen Soldaten gern den Finger in den Anus stecken lässt. Auch sein Kumpel Dirk Pruy ist ein »Advokat des Afters«, der aus seinem Kot das Horoskop liest. Er »hatte eine halbe Stunde nach dem wohlsortierten Frühstück das über die Sigmaschlinge in die Ampulle des Mastdarms geschobene Unverdauliche und Entwässerte des Vortags zu einer recht beachtlichen Walze geformt.«

Autenrieth selbst ist ein nicht minder kauziger Zeitgenosse, der nach eigener Zeitrechnung dahinlebend unermüdlich durch die Weltgeschichte reist: Bayern, Berlin-Mitte (»geronnen wie altes Blut«), USA, Osteuropa, während im Hintergrund die Jahre von Adenauer, Baader-Meinhof und dem Faserzement verblassen. Autenrieth ist immer on the road, wird eins mit seiner Umgebung und seinen Bekannten, verschwindet wieder, wird unsichtbar, um plötzlich als ein Anderer wieder aufzutauchen.

In seiner Lebensgeschichte geht es um alles: Um Schwarze Magie, den schrägen Osten, schnelle Autos, freie Liebe, antike Mythen, Whisky, LSD, David Bowie und den Steglitzer Kreisel. Ja, im Roman prallen sogar Florentiner Manierismus auf Sexualpraktiken und Moralvorstellungen der Gegenwart. Marcel Broodthaers meets Alice Miller, Martin Kippenberger kreuzt die Wege von Durs Grünbein und Hannelore Elsner. Brüllend komisch ist diese Geschichte, die dabei nur so von Sprachwitz sprüht und sich immer wieder selbst aufs Korn nimmt, etwa wenn  Autenrieths Vermieterin meint, das sei doch ein schlechter Roman, denn man wüsste als Leser ja gar nicht, worum es eigentlich geht. Man könne sich ja nicht bis zum Ende damit abkaspern, »einen Zusammenhang zu entdecken.«

Entdecken lassen sich aber unzählige literarische Anspielungen, Reflexionen und Einschübe. Neben Proust stehen Thomas Mann, Kafka, Nabokov, Steinbeck und viele andere Pate für die irrwitzigsten Geschichten aus dem Leben des eigenwilligen Protagonisten. Paradigmatisch ist das Kapitel »Auf der Sprache nach der verlorenen Zeit«, in dem es gleich zu Beginn heißt: »Lange Zeit bin ich spät schlafen gegangen. Meist fielen mir dann aber die Augen so schnell zu, dass ich gar nicht die Zeit hatte, meinen letzten Gedanken zu Ende zu denken.«

Großartig sind die Personenbeschreibungen, zum Beispiel die über den Engländer: »Eines Tages tauchte sie (Billy, Verf.) mit diesem Engländer bei uns auf, Nigel, ein Typ wie Burroughs, dem die Knochen aus dem Gesicht sprangen und den man nie essen sah, aber mit einem Lachen so breit, dass man mit dem Wagen einparken konnte. Seine Venen waren preußisch blau und gedrillt wie militärische Kordeln. Ein typischer New-Brit-Typ, langschädelig, Koteletten, Harre auf die Stirn geklebt, fanatisch, schlaksig, in Tunnelklamotten. Man hatte den Eindruck, Golders Green, Marylebone und Elephant & Castle hätten ihn aus ihren innigsten Merkmalen erschaffen und gemeinsam zur Welt gebracht.«

Oder der namenlose Typ auf der Party mit dem Gesicht eines toten Spanferkels, »mit Ringen im Ohr und einer grünen Haarfahne über dem Gesicht. Daneben ein mit seinem Bier redender und an seinen Nachbarn gelehnter Stiefelknecht, unter dessen Kleidungscode mit lauter Ketten um die Speckschwarte das rammdösige, schweinigelhafte, innerlich verfettete sächsische Stammtischgeschwätz hervortrat. Der Lärm brach sich fortwährend wie eine Brandung.«

Ich könnte immerzu zitieren. Ein Buch, dessen fulminanter Beginn in ein noch fulminanteres Finale mündet. Lesen!

Artikel online seit 24.10.16
 

Gerhard Falkner
Apollokalypse
Roman
Berlin Verlag
432 Seiten, Hardcover
22,00 €
978-3-8270-1336-1

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