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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Das verlorene Paradies

Massum Faryars wehmütiger Afghanistan-Roman
»
Buskaschi oder Der Teppich meiner Mutter«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Februar 1982. Über die Türkei reist der junge Afghane Schaer nach Deutschland aus. Er flieht vor den Unruhen, die seit einigen Jahren einen dunklen Schatten auf sein Heimatland werfen. Der Fünfundzwanzigjährige stammt aus Herat im Tal des Flusses Hari Rud. Historische Bauten, einfache Häuser aus Lehmziegeln, Basare, verschlungene Gassen und Händlerviertel prägen das einstige Florenz Asiens. Dort hat er das Gymnasium besucht und studiert anschließend Medizin in Kabul, der „Stadt der Gärten und goldenen Lichter“. Doch die politischen Unruhen, die seit April 1978 das Land in Aufruhr versetzen, lassen Schaer keine andere Wahl als die Flucht. Denn Entführungen, Verhaftungen, Verhöre, Folter und Blutrache sind an der Tagesordnung. Vater und Bruder sind bereits tot.

Die nächsten 25 Jahre seines Lebens verbringt Schaer, zugleich Erzähler der Geschichte, in Deutschland, ehe er im Jahre 2008 wieder nach Afghanistan reist, um seine dort noch lebende, doch totkranke Mutter zu besuchen. Die Reise weckt Erinnerungen an die Geschichte des Landes. Die Mutter stirbt kurz nach Schaers Ankunft, woraufhin im Sohn die Geschichte des Vaters wieder zum Leben erweckt wird. Damals, im Jahr 1964, hat der Vater ihm in Etappen die eigene Biografie erstmals erzählt.

Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei dem Teppich der Mutter zu. Es ist der einzige Gegenstand, der all ihre Umzüge mitgemacht hat und bis zu ihrem Tod erhalten geblieben ist. Der Teppich war ein Geschenk des Gemüsehändlers Osman Khan an den Vater, der ihn der Mutter zur Verlobung reicht. Dargestellt ist ein Buskaschi-Wettkampf. Den traditionellen afghanischen Reiterwettkampf hat der Vater einst gewonnen. Der handgewebte Teppich zeigt die Reiter, wie sie um eine geschlachtete Ziege wetteifern. Eine grausame und wunderschöne Szene zugleich.

Im Roman symbolisiert der Ziegenkadaver Afghanistan nach dem politischen Umbruch. Die Reiter sind die mächtigen Herren eines inzwischen wertlosen Landes. Buskaschi wird zum Sinnbild für die Geschichte Afghanistans. Der Dogmatismus politischer Überzeugungen und religiöse Ideologien wirtschaften das Land herunter. Die Aufbruchstimmung der 1960er und frühen 1970er Jahre nimmt ein jähes Ende. Galt die afghanische Gesellschaft zur Mitte des Jahrhunderts als aufgeklärt und weit weniger politisiert, so versinkt das Land spätestens mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 im Chaos und zerbricht an nicht enden wollenden Machtkämpfen. Es gibt keine Gesetze, keine Justiz, kein Parlament, keine Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung mehr.

Lange zuvor schon war Afghanistan Spielball russischer und britischer Kolonialinteressen. Kriege im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Folge. 1919 wird Afghanistan unabhängig, 1933 wird es zur konstitutionellen Monarchie. 1973 stürzt Daoud Khan den König und ruft die Republik aus. Nur fünf Jahre später wird er selbst durch Nur Taraki gestürzt. Die Sowjetunion unterstützt Taraki. Der Bürgerkrieg weitet sich in den 1980er Jahren zum Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt aus, die Taliban gehen ab Mitte der 1990er Jahre aus dem politischen Chaos gestärkt hervor.

Der Protagonist Schaer reist 2008 insofern auch in die eigene Kindheit zurück und lässt die Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert Revue passieren. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte des Vaters, der vom eigenen Vater verstoßen wird. Er findet Zuflucht bei einem weisen Mann namens Talib Asis. Doch der aufgeklärte Muslim muss 27 Jahre seines Lebens unschuldig im Gefängnis verbringen. Scharif ist ein einfacher Mann. Aber er wird ein angesehener Unternehmer und heiratet sogar die Frau seiner Träume. Er importiert Autos und Toilettenpapier, exportiert Rohstoffe und Trockenfrüchte. 1960 gewinnt er den Buskaschi-Wettkampf. Die ganze Welt wird in der Lebensgeschichte des Vaters zur Buskaschi-Arena. Wer den Kampf in dieser Welt gewinnen will, muss über Leichen gehen.

„Ich verstehe mich als einen nachahmenden Teppichweber, dessen Geschichte einem Muster folgt, dem eine uralte Vorlage, der Teppich meiner Mutter, zugrunde liegt“, sagt Schaer, als er die Geschichte des Vaters nacherzählt und über sein eigenes Leben Bericht erstattet. Dieser Bericht ist Familiengeschichte und Geschichte Afghanistans zugleich. Angelegt als Bildungsroman greift er eine alte Tradition des Orients auf, indem er ein Panorama verwandtschaftlicher Beziehungen ausbreitet. Zum Freundeskreis des Vaters gehören nicht nur Muslime, sondern auch Juden und Hindus. Der tiefe, doch aufgeklärte Glaube im Anschluss an den persischen Mystiker Rumi wird zum Motto der Erzählung: „Der Islam ist eine Religion der Harmonie ... Stammt nicht das Wort Dschihad von Dschahd, welches Fleiß und Tugend bedeutet, ab? Haben nicht die Wörter Islam und Salam eine gemeinsame Wurzel? ... Wer einen einzigen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit und die Menschlichkeit in seinem Herzen.“ Dies geschieht Ende der 1970er Jahre als alte und lange währende Freundschaften Opfer von Intrigen und Herrschsucht werden.

Von der ersten Szene an, in der der kleine Schaer zusammen mit seiner Mutter das Frauenhamam als Sinnbild des Paradieses besucht, ist der Leser von Massum Faryars erstem Roman gefesselt. Trotz der vielen historischen Details, den Gleichnissen und an orientalische Märchen erinnernden Geschichten besticht Faryars Buch durch seine klare und schnörkellose Sprache. Die 650 zauberhaften Seiten halten nicht nur eine wundervolle Liebesgeschichte bereit; sie sind vor allem die Liebeserklärung an ein geschundenes Land und seine Geschichte. Auf jeder Seite spürt man die Wehmut über dieses verlorengegangene Paradies, das Afghanistan einst gewesen ist.

Artikel online seit 30.06.15
 

Massum Faryar
Buskaschi oder Der Teppich meiner Mutter
Roman
Kiepenheuer & Witsch
656 Seiten
978-3-462-04674-8
22,90 €

Leseprobe

 

 


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