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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Michel Foucault - Wanted dead or alive

Die Strafgesellschaft. Vorlesungen 1972/73

Von Peter V. Brinkemper

 

Beeindruckend an der Suhrkamp-Edition der »Vorlesungen« von Michel Foucault sind: ihre nicht völlig authentifizierte Intimität, bereits im Original, dazu die Asynchronizität der Publikationen (wie wenn 9 Symphonien und ihre kammermusikalischen Vorstudien in vertauschter Reihenfolge erschienen) sowie die sich immer stärker verflechtende, geradezu serielle Polythematik.

Zugleich sind die Vorlesungen von Kafkas Schatten verdunkelt, von einem testamentarischen Publikationsstop im Falle des Ablebens des Autors oder von dem popkulturellen Vorwurf von Piratenpressungen und Raubkopien. Einwände, die Daniel Defert als enger Freund Foucaults und kundiger Nachlassverwalter erwogen und einsichtig unterlaufen hat. So konnten Tonbandaufnahmen und die erhaltenen Manuskripte miteinander abgeglichen und in verständiger Transkriptions-Buch-Mischform publiziert werden, als wären der Meister und sein im Fluss befindliches Denken live zugange. Die Verlage Le Seuil and Gallimard haben einen Aufruf auf ihre Seite gestellt, um entsprechend Bänder und Aufnahmen an ihre Adresse zu erhalten: »Wanted: audiotapes of Foucault's 1973 lectures.« Die Stimme als antreibendes Movens der Edition, als Faden durch das Konvolut der Notizen.

Die Vorlesungen sind von 1970-84 (1984 war Foucaults tragisches frühes Todesjahr) verfasst und am College de France gehalten worden. Sie sind der reichhaltige Untergrund, auf dem die Themen der buchförmigen Hauptwerke gedeihen und erblühen. Zugleich stellen sie die bisherigen Einteilung des »kanonischen« Buchwerkes in abgetrennten Phasen infrage:

Phase 1: die archäologische Aufarbeitung des Wissensbegriffs als Formation von strukturell weiträumigen Diskursen;

Phase 2: die vielfältige Genealogie der Disziplinargesellschaften in exemplarischen Beispielen;

Phase 3: die Stärkung des Individuums durch die Techniken des Selbst, sich selbst zu regieren, und sein aktiver Widerstand gegen die Strategien der sozialen und staatlichen Gouvernmentalität durch die Kunst der Selbstregentschaft.

Es sieht ganz so aus, als ob diese Themen und Aspekte - durch das nun gleichzeitig mögliche Lesen der Hauptwerke und der aufschlussreichen Vorlesungen - stärker im Verbund rezipiert werden können.

Buchautor und Forscher im Spiegelbild der Vorlesungen

Foucault setzte als Buchautor ein mit dem Thema Wahnsinn als Provokation der Vernunft, als Extremform der Ausgrenzung, Demenz und Entmündigung und doch auch als die andere Seite einer unerschrocken in dunkle Gefilde weiter vordringenden Aufklärung und als historisch wandelbare Projektionsfläche zwischen Ausschluss, Behandlung und sogar Kooperation mit irren Insassen durch die Strategien einer immer geschmeidigeren Rationalität (»Wahnsinn und Gesellschaft« 1961).

Es folgte die »Geburt der Klinik« (1963) als Ort der Entwicklung einer universitären Medizin, die Theorie und Praxis, Rationalismus und Empirismus immer komplexer zu differenzieren und miteinander zu verzahnen lernt. Die »Ordnung der Dinge« (1966) skizzierte eine strukturalistische Archäologie der Humanwissenschaften, die nicht naturalistisch auf biologische, ökonomische und soziale Zusammenhänge reduziert werden, sondern von bestimmten wissenschaftstheoretischen und soziopolitischen Diskursen und Paradigmen gesteuert sind, die ihrerseits sorgfältig interdisziplinär rekonstruiert werden, ohne jede Beschönigung durch geisteswissenschaftlichen Idealismus.

In »Überwachen und Strafen« (1975) kommt Foucault zum ersten Mal in einer besonders überzeugenden Weise dazu, seine bisherigen Ideen zu konkretisieren: Er weist die Strukturierung und Transformation des älteren schwerfälligen Strafsystems der Abschreckung (bis zum prä-absolutistischen Feudalismus) zu einem verfeinerten Apparat der Überwachung im Zuge der Aufklärung nach: Zunächst werden die vormaligen Strafpraktiken und Ausschlusssysteme am Subjekt des verurteilten und entrechteten Täters dargestellt, die archaischen Formen der Verstümmelung, Tötung, Züchtigung und Verbannung. Sie werden durch Überwachung und Inklusion ersetzt, der körperlich zu dezimierende Täter mutiert zum Objekt einer radikalen Erziehung, zum moralisch zu bessernden Delinquenten, der in neu konzipierten Gefängnissen einen juridisch-ethischen Ort zugewiesen bekommt, an dem er sich der Reue zu unterwerfen und den Läuterungsprozess selbst zu übernehmen hat. Dabei bedient sich Foucault einer Fülle historischer Spuren und Zeitzeugen, um die Frage nach der Ausübung von Macht in realer und diskursiver Hinsicht für die Formation von Staat, Gesellschaft und für die Heranbildung von Individuen zu stellen. Das einzelne Subjekt erscheint innerhalb wie außerhalb von Gefängnissen als Prägung, als Objekt, als Insasse, vor allem durch die Macht externer Kräfte und Schranken, aber auch als eigensinnige, resistente Zelle einer Subjektivität, trotzalledem, für eine unzerstörbare Lebensgestaltung, die noch in den widrigsten Situationen sich nicht völlig das Heft der Führung des eigenen Lebens und der Entscheidungsmacht aus der Hand nehmen lässt.

Ähnlich ist die Buch-Serie »Sexualität und Wahrheit« (1976-84) auf die Differenzierung der Diskurse zur Sexualität zwischen abendländischer Eingrenzung, Beobachtung, klinischem Geständnis und fernöstlich entgrenzter Lust-Praxis angelegt; unterschiedliche Methoden der Analyse und der Praxis zwischen Untersuchung, Verdammung, Verdrängung, Verführung, Befreiung und Entschränkung führen dazu, dass Foucault den Begriff der Macht gerade auf dem sexuellen Feld immer stärker individuell und positiv als aktives Medium der gesamten eigenen Lebensgestaltung und Lebensführung versteht und im Kontext sozialer und staatlicher Normen dem Kampf der Minderheiten eine weitsichtige coole pragmatische Basis gibt (Männer, Frauen und Homosexuelle).

Foucaults Vorlesungen am College de France (1970-84) sind in folgender Reihenfolge in Deutsche bisher bei Gallimard oder Le Seuil erschienen und (noch nicht=n.n.) übersetzt worden: Über den Willen zum Wissen (1970/71) F 2011, D 2012; Die Strafgesellschaft (1972/73) F 2013, D 2015; Die Macht der Psychiatrie (1973/74) F 2003, n.n.; Die Anormalen (1974/75) F 1999, n.n.; In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) F 1997, D 1999; Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78) F 2004, n.n.; Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik (1978/79) F 2004, n.n.; Die Regierung der Lebenden (1979/80) F 2012, D 2014; Subjektivität und Wahrheit (1980/81) F 2014, D 2016; Hermeneutik des Subjekts (1981/82) F 2001, D 2004; Die Regierung des Selbst und der anderen I. (1982/83) F 2008, D 2009; Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. (1983/84) F 2009, D 2010.

Allein diese Liste deutet an, wie sehr die französische Edition und die deutschsprachige Übersetzungs- und Publikationspraxis sich sprunghaft und labyrinthisch zwischen den Vorlesungen und den Werken hin und her bewegen. Es sieht so aus, als werde der historische und systematische Kern des Gesamtwerkes ebenso verdichtet wie nuanciert.

Auch im Falle der »Strafgesellschaft« (1972/73) leisten die älteren Herausgeber Francois Ewald und Alessandro Fontana (dieser bis zu seinem Tode 2013) sowie der jüngere Mitstreiter und Nachfolger Bernard E. Harcourt (Jahrgang 1963, französischstämmiger New Yorker) gute Arbeit, ebenso die Übersetzerin Andrea Hemminger. Harcourt selbst hat eine doppelte Vita, als Professor oder Dozent zwischen gesellschaftskritischer Theorie des Strafens und der Überwachung, im juridischen und politischen Sinne, aber auch als Aktivist und Anwalt für Menschenrechte von Gefängnisinsassen, die zum Tode oder lebenslänglich (ohne Revision) verurteilt wurden, was gerade bei jungen (farbigen) Straftätern bis hin zu Kindern Probleme impliziert. Der Hauptsitz der mit ihm verbundenen NGO Equal Justice Initiative ist in Montgomery, Alabama, dem Ort, an dem Martin Luther King und Rosa Parks ihre historischen Bürgerrechts-Erfolge erstritten. Aber diese NGO sieht sich auch konfrontiert mit einer Nation, aus deren Bundesstaaten immer wieder erschütternde Nachrichten von polizeilichem Rassismus und Gegengewalt dringen, während die Gefängnisse mit weit über 2 Mio. Insassen traurige industrielle Rekorde melden. Hier ediert also jemand, der die politische Lektion von Foucault zwischen Theorie und Praxis, Lebensreflexion und aktiver Gestaltung gelernt hat und in vollem Umfang praktiziert.

Michel Foucault tritt auf – vor einem Berg von Mikrofonen

Man muss sich vorstellen, wie Michel Foucault ab den 1970ern in den Hörsaal trat und vom interessierten Publikum und einem Berg von Mikros, Tonbandgeräten und Cassettenrecordern erwartet wurde:

»Wenn Foucault die Arena betritt, eiligen Schritts vorwärtspreschend, wie jemand, der zu einem Kopfsprung ins Wasser ansetzt, steigt er über die Sitzenden hinweg, um zu seinem Pult zu gelangen, schiebt die Tonbänder beiseite, um seine Papiere abzulegen, zieht sein Jackett aus, schaltet die Lampe an und legt los mit hundert Stundenkilometern.« Am Ende stürzen aus den auf 300 Sitzen zusammengepferchten 500 Studenten und Zuhörer eine gewisse Anzahl scheinbar auf Foucault zu, dann an ihm vorbei und schalten, ohne mit ihm ein Wort zu wechseln, ihre Aufnahmegeräte ab und verdrücken sich »getrost« (Faust) nach Hause. Ewald und Fontana betonen, dass Foucault in den entsprechenden Vorlesungen umfangreiche »Erkundungen« für zukünftige Bücher vornahm, den Unterricht nicht reproduktiv, sondern kreativ und transparent anlegte, im Sinne der laufenden Forschungsinteressen. Das sichert diesen Vorlesungen, etwa im Unterschied zu dem Begleitcharakter der Lectures eines Immanuel Kant, einen materialreichen, eigenständigen, wissenschaftsrelevanten Status.

Die Logik der Strafe, der Macht und des Bürgerkrieges

Die einzelnen Vorlesungen stellen jede für sich ein denkerisches Erlebnis dar: Zunächst die einfache phänomenologische Analyse der traditionellen Strafe, erstens als Ausschluss und Deklassierung, zweitens als ökonomischem Freikauf und kapitalisierbarer Versklavung, drittens als körperlicher Folter, Brandmarkung bis hin zur Todesstrafe (die in Frankreich 1981 abgeschafft wurde und die derzeit der Front National wieder einführen will), das Alphabet des Martyriums (Enthauptung der Adligen, Erschießen der Offiziere, Erhängen der Bürgerlichen, Verbrennen der Ketzer, Vierteilen oder Verstümmeln der Verräter und Diebe) und viertens der plötzliche unversehrte Einschluss der Verurteilten in einer neu erbauten Anstalt zur Besserung als aufkommender Strategie zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert. Insgesamt tritt die Strafe in ihrer moderateren diskriminierenden Kontribution wie in ihrer tödlich-verletzenden und brutal anprangernden Form als Äußerung einer überlegenden Macht auf, die im Zeitalter der Aufklärung das Rad der Folter, Fron und Versklavung zerbricht und den Weg einer elementaren Erziehung und Resozialisierung einschlägt.

Foucault geht dabei epistemologisch gegen die Theorien der legalen Abschreckung und Befriedung von unterlegenen Bürgern durch die Herrschaft und Sanktionierung einer dominierenden Schicht vor. Er nimmt skeptisch an, dass Strafsysteme, trotz gegenteiliger Behauptungen (Kant), immer weit unterhalb von universalen ethischen und sozialen Normen errichtet werden, im Auftrag sich selbst privilegierender Gruppen und Klassen, die die Strafen angeblich per Gesetz für alle, aber vor allem für bestimmte andere aufrührerische bzw. widerspenstige Gruppen und Klassen verordnen lassen. Foucault attackiert aus der Erfahrung der französischen Revolution Hobbes’ ängstlichen Dualismus zwischen der Friedhofsruhe staatlicher Macht und dem nur vorstaatlich tobenden Zustand des Bürgerkriegs (als Krieg eines jeden gegen jeden). Nach Foucault existiere der Bürgerkrieg als »Matrix aller Machtkämpfe, aller Machtstrategien und folglich auch die Matrix aller Kämpfe um und gegen die Macht« als »Dauerzustand«, gerade unter und in staatlicher Herrschaft, von der Basis der Bürger und der Entrechteten bis in die Spitzen der Macht. Hobbes leugne die Fortsetzung des Bürgerkrieges und Konfliktmodus im Staat, wo er nur könne, gleichsam gegen alle konkrete historische Erfahrung. Der Staat kenne den Krieg nach außen, gegen andere Staaten oder fremde Gruppierungen, aber auch nach innen, als von der Politik, Polarisation und Spaltung gesteuerten Bürgerkrieg.

Strafe sei daher nicht nur für ein Vergehen zu verhängen, für eine begleichbare Schädigung oder Rechnung, wie im privatrechtlichen Falle der Wiedergutmachung und Entschädigung, sondern für ein Verbrechen am Mitbürger und vor allem gegenüber der Gesellschaft selbst. Der Kriminelle verletze nicht nur Freiheit und Güter der anderen (oder gar seine eigenen), er sei ein »Feind der Gesellschaft«, er breche den Krieg gegen die Gesellschaft vom Zaum und müsse daher auch vom Staatsanwalt angeklagt und verfolgt werden. Durch die strafrechtliche Isolation des Kriminellen von System der materiellen Forderungen und Konflikte, wie sie das Mittelalter kannte, wird ein »Public Enemy« konstituiert, der historisch im Umfeld der Französischen Revolution recht unterschiedlich ideologisch besetzt wird.

Da wird der Katalog der Todsünden auf verschiedene Formen sozialer Randexistenzen projiziert: Landstreicher, Nichtsesshafte, Diebe und Bettler, sogar Bettelmönche werden, ohne Verständnis für christliche Askese und Mitleidsethik, als unproduktive, nicht integrierbare, faule und müßiggängerische Elemente diskriminiert. Der Verbrechertum beginnt in der Absonderung und im Unterwegssein, Physiokraten sehen in den Landstreichern »gefräßige Insekten«. Gegen diese Plage schlängt Le Trosne folgende Maßnahmen vor: Die Versklavung und Zwangsarbeit; die Vogelfreierklärung mit entsprechenden Brandzeichen; den Einsatz einer bewaffneten Bauernwehr; die Treibjagd mit Lynchmord und bei massiver Invasion den Aufstand der Massen. Le Trosnes Text ist ebenso reaktionär wie progressiv in seiner Gewaltätigkeit, er wendet sich gegen die Landstreicher und zielt implizit auch auf die illegitime Herrschaft der adligen Ausbeuter, denen es endlich an den Kragen gehen sollte. Die Diskussion über das Für und Wider der Todesstrafe entbrennt 1791 in Frankreich. Gegen Rousseaus Tötungsoption gegen Mörder und Verbrecher, die dem Contrat Social zuwider handelten, spricht sich ausgerechnet Robespierre für die Erhaltung des Lebens aus: ein festgenommener Krimineller sei wie ein gefangener gegnerischer Soldat oder sogar wie ein wehrloses Kind zu behandeln.

Die Geburt des Gefängnisses in England, Frankreich und den USA

Unter der Oberfläche der bekannten Sentenzen laufen verschiedene biopolitische Entwicklungen ab: England musste nach dem Verlust der amerikanischen Kolonien 1776 zunächst auf Deportationen nach Nordamerika von rund tausend Verurteilten pro Jahr verzichten, erst mit der von Cook 1770 entdeckten Australischen Ostküste lief die Ausschiffung der Delinquenten wieder an. Zeitgleich wurde die Einführung von Gefängnissen in England erwogen. Jeremy Benthams berühmter Entwurf des britischen und europäischen Gefängnisses als zentral einsehbares Panoptikum ist nach dem Vorschlag seines Bruders gestaltet, der Häfen, Docks und Schiffsfahrtsarchitekturen mit der Funktion der Gesamtüberwachung von Arbeitszusammenhängen, also nützlichen Tätigkeiten plante, was zum Überblick eines Utilitaristen passt.

Die französische Vision des Gefängnisses basiert auf der Philosophie des Freiheitsentzuges als der tiefgreifendsten Strafe überhaupt (Duport), im Kombination mit der Stärkung der Richterämter. Während in Mittelalter und früher Neuzeit die willkürliche Einkerkerung als Vorstufe von späteren drakonischen Strafen bekannte despotische Praxis war, bilden sich ab 1791 rasch Untersuchungsgefängnisse, Gerichtshäuser und Gefängnisse für definitiv Verurteilte heraus, in Kantonen, Arrondissements, Departements, in Zentralgefängnissen und Militärstraflager (Brest, Rochefort und Toulon). Foucault macht darauf aufmerksam, dass die älteren Modelle von Strafe, Ehrverlust, Vergeltung und Sklaverei durch ein feineres Instrumentarium um den kapitalistischen Parameter der proportional abzuleistenden Lebenszeit im Gefängnis als Strafmaß ersetzt werden. In gewisser Weise erhält die Strafe eine standardisierte Lohn-Form im größeren biographischem Maßstab. Den sich hier anbietenden Kurzschluss zwischen Haftzeit und möglicher Produktivität als Arbeitskraft im Gefängnis, also eine einfache industrielle Verrechnung lehnt Foucault ab (wie sie vor allem in brutal geführten Zuchthäusern mit Zwangsarbeit auf Feldern, in Minen und Steinbrüchen bis zum Umfallen exerziert wurde).

Dagegen spricht auch ein anderer Typus von Gefängnis: Die von den Quäkern in Philadelphia (zuerst das Walnut Street Jail) landesweit errichteten »Buß- und Besserungsanstalten« (Penitentiary). Nicht in der Logik der Rechtsprechung, sondern im Raum des lokalen, unzulänglichen Gefängnisses und des immer wieder willkürlichen Strafvollzugs machen sich christliche Überlegungen breit: Das Gefängnis wird wie das Asyl »ein von der Religion besetzter Ort«. Eine Gesellschaft von Quäkern übernimmt den Aufbau und die Verwaltung eines vorbildlichen Strafwesens in Pennsylvania. Sie sind Gegner der Todesstrafe, Emigranten, die ihren eigenen Glauben frei ausleben wollen, sie stehen in Konflikt mit der britischen Administration und erstreben mit der Unabhängigkeit der amerikanischen Gründungsstaaten auch für die Kriminellen den Ausbau von Einzelzellentrakten und die Abschaffung kollektiver Unterbringung an. Der Knast und das Zuchthaus als Brutstätte unkontrollierter Gewalt und zusätzlicher Kriminalität sollen beseitigt werden.

Mit dem Ziel der inneren Umkehr in starken Mauern, also einer religiös motivierten Isolationshaft, die nur von spärlich eingeplanten Gesprächen mit Inspektoren und Priestern unterbrochen wird, um das Psycho-Management in die richtige Richtung zu lenken. »In dieser völligen Verlassenheit von jeglichen Lebewesen« werde der Häftling »dazu gebracht, in sich zu gehen, über seine Verfehlungen nachzudenken, deren Bestrafung er so bitter fühlt.« (La Rochefoucauld) Ganz im Geiste von Nietzsche resümiert Foucault: Der »Eindruck von der Althergebrachtheit des Gefängnisses« sei nur scheinbar »tief in unserer Kultur verwurzelt«, weil das reformatorische Prison »mit dem Gewicht der christlichen Moral versehen wurde. Sie verleiht ihm eine historische Tiefe, die es nicht hat.« »Buß- und Besserungsanstalt« – »Wie kann man tatsächlich von Buße sprechen in einer Zeit, in der die Gesellschaftstheorie und das (...) Strafwesen voraussetzen, dass es ein Verbrechen nur dann gibt, wenn die Gesellschaft geschädigt wird, und Strafe nur, insofern die Gesellschaft sich zu verteidigen hat, und dass zwischen Sünde und Verbrechen, Strafe und Buße kein grundsätzlicher Zusammenhang besteht?«

Foucaults Vorlesung »Die Strafgesellschaft« ist auch in der Folge ein luzides Buch, dessen verzweigte Überlegungen und exemplarische Befunde bis heute nicht ihre Wucht und Aktualität verloren haben: Die aufklärerische Verfeinerung der Strafe und der Repression, die Geburt einer Vielzahl von Gefängnisformen, die Anstrengung, die Gesetze, die Rechtsprechung sowie den Strafvollzug landesweit zu standardisieren und zu variieren, die klinisch-psychologische Expansion der Kontrollmethoden und Manipulationen innerhalb der Gefängnismauern, der Aufbau einer analogen polizeilichen Überwachung und Fahndung im bürgerlichen Alltag, das Arsenal der methodischen Präzisierungen und Verbesserungen, vom Constable bis zum FBI, außerhalb der Gefängnisse, auf der Straße, in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, die fabrikförmige Kapitalisierung der Zeit als Gefangener, zwischen innerem Befinden und äußerem Verhalten, und die immer wieder religiös verbrämte Moralisierung des nackten Strafvollzuges. Und dabei doch immer wieder die Genese eines gefolterten, geschundenen und wieder auferstehenden Subjekts, dessen Konstitution die Archaik des Strafens zugunsten einer arbeitsteiligen psychologisch kontrollierenden Moderne abstreift. All dies bereitet den Aufbau einer effektiven und nach außen immer unauffälliger vorgehenden Disziplinargesellschaft vor. Deren spätere Gefängnismodelle stehen als Vorbild und Schrecken bis heute in Kontinuität und spiegeln die jeweilige äußere Wirklichkeit wider: Bastille, Alcatraz, Folsom, Dachau, Stammheim, das nordirische Maze Prison und Abu-Ghuraib. Wer es nicht glaubt, lese die Geschichte der Namen und Ereignisse durch, um Parallelen und Unterschiede festzustellen. In der Guantanamo-Gefängnisbibliothek steht auch Kafkas »Strafkolonie«. Gibt es je ein Entkommen? »Papillon« lässt grüßen.

Artikel online seit 05.09.16

 

Michel Foucault
Die Strafgesellschaft
Vorlesungen am Collège
de France 1972–1973
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Suhrkamp
444 Seiten
44,- €
978-3-518-58621-1

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