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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Camouflagen der Wirklichkeit

Greg Grandin analysiert in »Kissingers langer Schatten«
das Erbe von Amerikas umstrittensten Staatsmann

Von Gregor Keuschnig

Man muss Greg Grandins "Kissingers langer Schatten" wirklich bis zum Schluss, d. h. inklusive der Danksagung am Ende des Buches lesen. Denn hier finden sich nicht nur die üblichen Worte an Helfer, Lektoren, Freunde oder Familie sondern auch der Dank an den 2011 verstorbenen Christopher Hitchens. Zugleich emanzipiert sich Grandin von Hitchens Vorgehensweise in dessen Anklageschrift "Die Akte Kissinger" aus dem Jahr 2001. Hitchens "selbstgerechte Empörung" habe verhindert, die "Wirkungsmacht seiner [Kissingers] Ideen…zu erklären". Er sei derart auf sein Studienobjekt fixiert gewesen, dass die "äußeren Bedingungen seines [Kissingers] politischen Handelns unreflektiert" geblieben wären. Dadurch sei ihm "Wesentliches entgangen".

Grandins Kritik ist deshalb so bemerkenswert, weil man sie ebenso auf sein Buch anwenden kann. Obwohl er mehrfach einer Dämonisierung Kissingers das Wort redet, passiert genau dies. So, als würden die Fakten nicht ausreichen, flüchtet er sich in zuweilen abenteuerliche Kausalitäten und, was noch schlimmer ist, in Vermutungen. So wird berichtet, dass Kissinger den Krieg zwischen dem Irak und den Iran ("Erster Golfkrieg" von 1980 bis 1988) befürwortet, seinerzeit "die Iraker als ein Gegengewicht gegen den revolutionären Iran" gesehen und Unterstützung für Saddam Hussein vorgeschlagen habe. So weit, so gut. Als reiche dies nicht aus, bringt Grandin noch einen vermeintlichen Ausspruch Kissingers: "Schade, dass sie [Irak und Iran] nicht beide verlieren können". Das Problem ist allerdings, dass es Kissinger gesagt haben soll, was zwar sowohl im Text als auch in einer Fußnote am Ende der Seite klargestellt wird: "Dieses Zitat ist nicht zweifelsfrei belegt". Aber warum erscheint es dann überhaupt im Buch? Grandin benennt mit Raymond Tanter, einem ehemaligen Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats der USA, noch einen Kronzeugen, der gesagt haben soll, dass Kissinger im Oktober 1980, also rund vier Wochen nach Beginn des Krieges, dass die "Fortsetzung der Kämpfe zwischen Iran und Irak im Interesse Amerikas sei". Eine Quelle für dieses Zitat fehlt dann allerdings.

Es gibt mehrere solcher "können wir davon ausgehen"-Formulierungen, die dann teilweise zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung weitergeschrieben werden. Etwa wenn behauptet wird, dass die amerikanischen Bombardements auf Kambodscha zwischen Februar und August 1973 den "Sieg der Kommunisten" verzögert und damit die "hartgesottenen Extremisten im Umfeld Pol Pots die Oberhand" gewonnen hätten. Hierfür fehlen jegliche Indizien. Auch die These, dass Nixon ohne Watergate die Bombardierungen wieder aufgenommen hätte, da Nordvietnam den Friedensvertrag mit militärischen Angriffen sabotierten, sollte in einem solchen Buch nicht als Tatsache erörtert werden.

Kambodscha 1970

Eine Aktion der Nixon-Regierung verfolgt  Grandin geradezu obsessiv: Die Bombardierung Kambodschas 1970 (und später dann Laos'). Immer wieder kommt er darauf zurück. Diese Form von "Politik" steht für ihn exemplarisch für das Prinzip Kissinger. Die USA hätten ein neutrales Land angegriffen, damit ein intaktes politisches System mutwillig gestürzt (Sihanouk), durch einen korrupten Militär ersetzt (Lon Nol) und am Ende ein Terrorregime an die Macht gespült (Pol Pot). Diese Aktion wäre die Blaupause für die späteren amerikanischen Interventionen in der Welt. Seitdem sei es politisch opportun auch neutrale Staaten anzugreifen, sofern man dort Terroristen vermute. Grandin zieht eine gerade Linie von Vietnam/Kambodscha 1969ff bis zu den heutigen Drohneneinsätzen der Obama-Regierung.

Grandin argumentiert moralisch, was zwar opportun ist, aber (siehe oben Hitchens) für eine Betrachtung des Phänomens Kissinger zu kurz greift. Zumal wenn man elementare historische Tatsachen ausblendet. Es ist zwar richtig, dass Kambodscha formal ein neutrales Land war. Aber – das erwähnt Grandin auch – die Vietcong hatten im kambodschanischen Hinterland Rückzugsorte und Waffenlager gebildet. Die kambodschanische Regierung, die nicht so fest im Sattel saß wie dies suggeriert wird, war weder willens noch militärisch in der Lage, diese Eindringlinge zu  bekämpfen. Wie neutral ist ein Land, das über wesentliche Teile seines Territoriums die Kontrolle verloren hat? In Laos tobte bereits seit 1963 zwischen den nationalistisch-kommunistischen von Nordvietnam unterstützten Pathet Leo und den Regierungstruppen ein Bürgerkrieg, in den Südvietnam und die USA kurz darauf eingriffen. Auch in Laos gab es also keinen "Frieden".

Die Bombardierung Kambodschas stellte nicht unbedingt eine Neuigkeit dar, was Grandin am Rande erwähnt. Seit 1965 wurden dort angebliche oder tatsächliche Rückzugsgebiete der Vietcong mit stiller Duldung Sihanouks und unter großer Geheimhaltung bombardiert. 1969 begann von amerikanischer Seite zunächst verdeckt die Operation "MENU": eine großflächige und intensive Bombardierung Ostkambodschas (und später auch von Laos). Akribisch beschreibt Grandin nun, wie diese Operation "MENU" unter Vorspiegelung falscher Bombardierungsziele abgewickelt worden sein soll, weil der Schein gewahrt werden sollte. Kissinger habe, so Grandin, persönlich eingegriffen, damit die Einsatzbefehle und andere Dokumente nicht auf außervietnamesische Regionen lauteten. Dabei habe er gegenüber Nixon und dem Kabinett darauf bestanden mit wuchtigen Schlägen vorzugehen, was schließlich auch genehmigt wurde.

In einer Fußnote erwähnt Grandin, dass ein Bericht über die Bombardierung Kambodschas in der New York Times 1969 ohne Echo geblieben war. Nixons Fernsehansprache vom Mai 1970 löste dann große Proteste in den USA aus; es gab das Kent-State-Massaker. Die Veröffentlichung der Pentagon-Papers ein Jahr später durch Daniel Ellsberg, den Grandin als "Anti-Kissinger" charakterisiert, hat dann die landesweite Empörung noch weiter befördert und Untersuchungen losgetreten. Vor lauter Eifer vergisst Grandin allerdings zu erwähnen, dass die Pentagon Papers sich nicht auf Nixons und Kissingers Schandtaten alleine kaprizierten, sondern ein Kontinuum amerikanischer Interventions- und Kriegspolitik offenbarten.

Als hätte es keine Domino-Theorie gegeben

Zwischenzeitlich bekommt man den Eindruck, Kissinger habe in der amerikanischen Politik seit mehr als 50 Jahren eine Art von Paten-Status und mindestens die Präsidenten Nixon und Ford seien damals wahlweise Marionetten oder Opfer von Kissinger gewesen. Die paranoid-schizophrene Persönlichkeit Nixons wird nur am Rande erwähnt. Vermutlich passt es nicht in Grandins Konzept, dass Nixon bereits 1960 als Vizepräsident unter Eisenhower waghalsige Interventionen befürwortete, wie beispielsweise in Bezug auf Fidel Castro, den er mit einer Invasion aus Kuba vertreiben wollte. Warum analysiert Grandin, der doch Professor für Geschichte an der New York University ist, nicht die offenen wie versteckten Operationen und Kriegseinsätze der USA in den 1950er und 1960er Jahren (beispielsweise Mossadegh 1953, Libanon 1958, Schweinebucht-Invasion 1961) sondern zitiert stattdessen ausgiebig und mit einer gewissen Monotonie aus der Bachelor-Arbeit des 27jährigen Henry Kissinger von 1950, aus der dann je nach Lage passende Sätze herausgeschält werden?

Der gravierendste Fehler des Buches besteht jedoch darin, dass der wichtigste Grundsatz der amerikanischen Nachkriegs-Außenpolitik außer in einem Satz am Ende des Buches, als es um den Interventionismus der USA der 1980er Jahre in Mittelamerika geht, überhaupt nicht vorkommt. Gemeint ist die sogenannte Domino-Theorie Eisenhowers, die sich bereits 1950 manifestierte als die USA dem Verbündeten Südkorea gegen den nordkoreanisch-chinesischen Angriff beistanden. Eisenhower formulierte seine Doktrin 1954 (ohne jemals die Bezeichnung "Domino-Theorie" verwendet zu haben): Wenn ein Land kommunistisch werde, so die These, würden bald auch die benachbarten Länder dem Kommunismus durch kriegerische oder andere Infiltrationen erliegen. Daher müssten die USA jede weitere Verbreitung kommunistischer Staaten Einhalt gebieten. Man muss diese Ansicht nicht teilen, aber man sollte sie zumindest zur Kenntnis nehmen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die US-Außenpolitik damit gerechtfertigt wird.

Die Domino-Theorie prägte fast bis zum Ende des Kalten Krieges das außenpolitische Handeln der USA. Grandin beschäftigt sich ausgiebig mit einigen dieser Schweinereien, aber dass er dies nicht in den Kontext der Zeit stellt und stattdessen Kissinger zum Paten des US-Interventionismus erklärt, zeugt entweder von unzureichenden historischen Kenntnissen oder absichtsvoller Lesertäuschung. Hierzu gehört auch, dass die imperialen Eingriffe der Sowjetunion (DDR 1953/1961, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968 nebst Breschnew-Doktrin) und China (Tibet 1951/1959) und deren Unterstützung sogenannter Freiheitskämpfer unter den Tisch gekehrt werden. Grandins Versuche, Kissinger als alleinigen Erfinder des Kambodscha-Bombardements und somit als Galionsfigur der Verrohung des Vietnamkrieges und ähnlicher Scheußlichkeiten (Indonesien, Chile, Mittelamerika, Afghanistan, Naher Osten) zu installieren sind leider unterkomplex.

Kissinger, der erbärmliche Opportunist

Auch die theoretischen Untersuchungen Grandins überzeugen nur teilweise. Er entdeckt bei Kissinger eine Art perverse "Philosophie der Tat". Dieser habe, so der Vorwurf, sogar mit dem lokal begrenzten Einsatz von Atomwaffen gedroht. Das war in der Tat hochriskant. Aber wieder unterschlägt Grandin entscheidendes, denn schließlich bestand die Perversion des Kalten Krieges unter anderem darin, das Drohpotential der Atomwaffen in die virtuelle Waagschale zu werfen. Grandin zeigt dies soger indirekt, indem er die Lösung der sogenannten Kuba-Krise erwähnt, die eben nicht nur darin bestand, dass die Sowjets ihre Atomraketen aus Kuba abzogen sondern eben auch die USA die vorher stationierten Sprengköpfe aus der Türkei wieder entfernten.

Kissinger habe stets äußerste Härte der Bombardements auf Vietnam und Kambodscha befürwortet, so Grandin. Als Belege dienen hierfür unter anderem einige wenige Sätze der aufgezeichneten Gespräche zwischen Nixon und ihm. Dies hat wenig Belegkraft. Aber auch hier ist das Buch besser als es zunächst den Eindruck hat. Denn es gelingt dem Autor an anderer Stelle den erbärmlichen Opportunismus Kissingers aufzuzeigen. Als Nelson D. Rockefeller, den Kissinger unterstützte, als Präsidentschaftskandidat der Republikaner unterlag, hatte Kissinger im August 1968 Nixon noch als große Katastrophe für die USA bezeichnet. Dennoch diente er sich diesem sofort an und schaffte es im Dezember 1968, fünf Monate später, also noch vor Amtsantritt Nixons, im Amt als Nationaler Sicherheitsberater mit großzügigen Vollmachten zur Umgestaltung der Behörde ausgestattet zu werden. Kissinger redete dem Kommunistenhasser Nixon, den in den 1950er Jahren dem "Ausschuss für unamerikanische Umtriebe" angehörte, mit großer Könnerschaft nach dem Mund. Ähnliches zeigt Grandin auch im Verhältnis Kissingers zu Reagan, den er zunächst gar nicht ernst nimmt, dann jedoch hoffiert, um ihm von außen Ratschläge geben zu können.

Die unterschätzte Referenz

Meist unergiebig dagegen die fast rührende Beschäftigung Grandins mit Kissingers Bachelor- und Promotionsarbeiten. Er findet Zitate von Kant, analysiert den Kontext in dem sie stehen und weist mittels eines Experten nach, dass Kissinger den kategorischen Imperativ falsch verstanden und missinterpretiert habe. Kissingers Hang zum Bellizismus wird  in dessen Rezeption von Oswald Spengler verortet. Spenglers Geschichtsdeterminismus lehnte Kissinger allerdings ab, was richtig dargestellt wird. Daher hätte Grandin besser eine zutreffendere Referenzgrösse herangezogen, die Kissinger ganz sicher kannte, aber womöglich nicht zitatwürdig war. Tatsächlich ist Kissingers Denken nahezu deckungsgleich mit den Thesen des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz und seiner posthum publizierten Schrift "Vom Kriege. Beide sehen den Krieg als "bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln". Auch die Kissinger von Grandin zugeschriebene "Härte" erklärt sich aus Clausewitz, der postulierte, dass es im Krieg "in der Anwendung [der Gewalt]…keine Grenzen" geben könne, da es "ganz allein darauf ankommen, den Gegner niederzuwerfen". Krieg ist für Kissinger wie Clausewitz nicht mehr (und nicht weniger) als "ein ernstes Mittel für einen ernsten Zweck". Auch die Frage, warum Kissinger zunächst Friedensgespräche zum Vietnamkrieg sabotierte, sie dann aber später, nach vielen Jahren selber führte, erklärt sich mit dem Militärstrategen des 19. Jahrhunderts, der vorsieht, dass der Krieg "aufgegeben werden" müsse "sobald…der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann". Die "Folge davon" müsse, so Clausewitz kühl, "der Friede" sein.

Natürlich hat Grandin Recht, wenn er die einzelnen "Spielfelder" von Kissingers Kaltem-Krieg-Domino als gescheiterte Unternehmungen darstellt. Aber warum muss er dabei die "Befreiungsbewegungen" in Vietnam und anderen Ländern wie beispielsweise Angola, Rhodesien (später Zimbabwe) oder Mozambique verklären und leugnet damit die fast durchgängige Unterstützung dieser Gruppen durch die Sowjetunion und/oder China? Warum schwärmt Grandin davon wie Fidel Castro mit seinen Truppen Kissinger in Angola "schachmatt" setzte? Zumal diese Darstellung in mehrfacher Hinsicht ungenau ist. Zum einen hieß der General, der die kubanischen Truppen in Angola befehligte, Arnaldo Ochoa (und er erlitt Jahre später ein schreckliches Schicksal). Und zum anderen handelte es sich bei dem Bürgerkrieg in Angola um einen klassischen Stellvertreterkrieg: Die Sowjetunion unterstützte die MPLA-Rebellen und später dann die kubanischen Soldaten, die an der Seite der MPLA kämpften, mit Waffen und Munition. Die Unterstützung der UNITA erfolgte durch Südafrika, die wiederum durch die USA indirekt versorgt wurde. Dabei weist Grandin zu recht auf die Massaker der UNITA unter Jonas Sawimbi hin (die natürlich indirekt wieder Kissinger zugeordnet werden). Über die Metzeleien der MPLA geht er wortlos hinweg.

Interessant ist die Janusköpfigkeit der Regierung Nixon/Kissinger in den 1970ern, als man einerseits mit großer Brutalität einen Krieg gegen ein kommunistisches Vietnam führte andererseits jedoch einen Ausgleich mit China suchte und die Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion forcierte. Grandin schreibt auch hier etwas voreilig Kissinger den Löwenanteil zu. Tatsächlich war es Anfang der 1970er Jahre geopolitisch günstig auf China zuzugehen. Zum einen war das Land nach der Kulturevolution vor allem ökonomisch geschwächt und die USA suchten neue Absatzmärkte. Die Allianz zwischen China und der Sowjetunion bekam ideologische Risse. Die Chinesen hatten 1969 ihre Militärberater aus Nordvietnam abgezogen. Es kam sogar vermehrt zu Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern (die dann Ende der 1970er Jahre in einen kurzen Krieg mündeten). Wenn man von Korea absah, war China zu einem halbwegs neutralen Akteur in Indochina geworden. Diese Gelegenheit wollte Nixon nutzen um den Keil zwischen den kommunistischen Mächten UdSSR und China zu vertiefen. Die Annäherung war also ebenfalls an der Politik des Freund-Feind-Schemas ausgerichtet.

Der Feind meines Feindes…

Das Grandin den Bogen von Vietnam 1969 bis zum Irak 2003 spannt, ist interessant, sofern er den imperialen Politikstil der (Supermacht) USA thematisiert. Tatsächlich hatte Kissinger auch den Irakeinmarsch 2003 gutgeheißen und das auch nie bestritten, wie man 2007 im Interview mit Christian Amend nachlesen kann: "Ich war dafür, einzumarschieren, Saddam abzulösen und dann das Ganze zu einer internationalen Operation zu machen, wie auf dem Balkan", so Kissinger. Das Interview ist übrigens sowohl ein Musterbeispiel für Kissingers Dünnhäutigkeit als auch der von Grandin angesprochenen Uneinsichtigkeit, die sich auch in offiziellen Anhörungen zeigte. Kissinger habe keine "moralischen oder idealistischen Argumente zur Rechtfertigung" vorgebracht. Dabei ist die Sache ziemlich einfach: Er kann sie nicht vorbringen, weil es sie nicht gibt bzw. das, was vorgebracht wird, sind nichts weiter als Camouflagen der Wirklichkeit. Die Außenpolitik der USA, die Kissinger mitprägte aber nicht erfand, war nach dem Zweiten Weltkrieg interventionistisch und nicht mehr wie nach dem Erfolg im Ersten Weltkrieg 1918 isolationistisch. Für Kissinger, der als Jude vor den Nazis in den USA Schutz fand, war eine isolationistische Supermacht, die Nazis oder Kommunisten global wüten lässt, undenkbar. Dies entsprang jedoch nicht dem Impetus der Verbreitung der Menschenrechte und der Demokratie, wie den Neokonservativen unter Bush jr. dies mit großem Gestus erklärten. Es ging Kissinger am Ende nur darum, das jeweils größere Übel zu verhindern. Hierfür sah er die USA als imperiale Macht legitimiert.

Daher ist sich Kissinger nie einer Schuld bewusst gewesen und leugnet bis heute beharrlich Fakten, die die Sinn- und Ruchlosigkeit der von ihm mit zu verantwortenden Politik aufzeigen. Und deshalb ist es auch problematisch in Kissinger einen intellektuellen Kopf zu sehen, der welthistorischen Weitblick gezeigt hat bzw. zeigen könnte. Dies ist eine der größten Missverständnisse. Kissinger verband auf fast vulgäre Art und Weise die Domino-Theorie mit dem Clausewitz'schen Krieg-Politik-Schema, das er um die Möglichkeiten der Mittelstreckenbomber des 20. Jahrhunderts erweiterte. Er diente sich Präsidenten an, die nahezu hysterisch antikommunistisch eingestellt waren. Er lernte aus der Gegenöffentlichkeit zum Vietnamkrieg und "perfektionierte" das Leitmotiv des Kalten Krieges: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Wo es ging versuchte er nun die direkte militärische Intervention zu vermeiden und unterstützte über den CIA oder andere diffuse Organisationen unappetitliche Diktaturen in Afrika oder Südamerika. Diese Form des Stellvertreter-Interventionismus ermöglichte den USA mit den kommunistischen Imperien Sowjetunion und China einigermaßen normale diplomatische Beziehungen aufrecht zu erhalten.  

Es gibt kaum ein besseres Bild für die Kurzsichtigkeit und Dummheit dieser Freund-Feind-Politik, die manche professorale Schreibartisten als Geopolitik adeln, als die Begegnung des Irak-Gesandten der USA Donald Rumsfeld mit Saddam Hussein 1983. Damals als Bollwerk gegen den verhassten Iran, wurde acht Jahre später gegen ihn eine weltweite Koalition wegen der Besatzung Kuwaits geschmiedet und 2003 galt er dann als veritabler Hitler-Nachfolger und wurde unter anderem von ebendiesem Rumsfeld vernichtet.

Trotz seiner Fehlerhaftigkeit und Tendenz ist "Kissingers langer Schatten" ein lesenswertes Buch. Im Idealfall führt es zu einer neuen Beschäftigung mit imperialer Politik im Kalten Krieg und darüber hinaus. Dabei fällt auf, dass das missionarische Element der neokonservativen Weiterverbreitung der Menschenrechte und Demokratie Einzug in der politischen europäischen Linken gehalten hat, wie man zuletzt an der Intervention in Libyen sehen konnte. Der Erfolg war ähnlich der der amerikanischen Politik: Dem Chaos folgte ein noch größeres Chaos. Hier böte sich Kissinger als Schulungsbeispiel an.

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Artikel online seit 3ß.03.16
 

Greg Grandin
Kissingers langer Schatten
Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Kotte und Thorsten Schmidt
C.H.Beck Verlag
296 Seiten, Gebunden
24,95,- €
978-3-406-68857-7


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