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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Im Minenfeld

Kurt Gritschs
umfassende Darstellung des Kosovo-Konflikts »Krieg um Kosovo«
analysiert
Geschichte, Hintergründe, Folgen

Von Lothar Struck

Am 24. März 1999 begann die NATO im Rahmen ihrer Aktion "Operation Allied Force" mit der Bombardierung des Territoriums der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien (im nachfolgenden der Einfachheit halber und in Abgrenzung zu den anderen Kriegen des zerfallenden Jugoslawien wird diese Intervention "Kosovokrieg" genannt). Jugoslawien bestand 1999 aus den Teilstaaten Montenegro und Serbien, inklusive des Kosovo. Offizielles Ziel der Operation war es, die Regierung Slobodan Miloševićs zum Rückzug der Armee und paramilitärischen Kräfte aus dem Kosovo zu zwingen und damit weitere sogenannte ethnische Vertreibungen an der albanischen Zivilbevölkerung zu verhindern. Jugoslawien hingegen sah durch UÇK-Truppen den Schutz der serbischen Minderheit im Kosovo gefährdet. Die Verhandlungen um einen Status des Kosovo waren zuvor in den Verhandlungen von Rambouillet gescheitert. "Operation Allied Force" wurde ausschließlich als Luftkrieg betrieben. Bombardiert wurden dabei nicht nur militärische Einrichtungen im Kosovo, sondern auch in anderen Landesteilen Serbiens und in Montenegro, inklusive sogenannte strategische Ziele und zivile Gebäude. Insbesondere der Luftschlag auf die chinesische Botschaft in Belgrad und die Bombardierung des Fernsehgebäudes erregten Aufsehen. Am 9. Juni 1999 wurden die kriegerischen Handlungen durch die Unterzeichnung des "Abkommens von Kusanovo" eingestellt.  

Obwohl das Ereignis bereits vor mehr als 17 Jahren stattfand stutzt man immer noch, wenn es um die Beschreibung der Jugoslawien-Kriege geht. Der obige Versuch die Geschehnisse um den Kosovokrieg kurz und prägnant und dabei dennoch neutral zu formulieren, ist ein Drahtseilakt. Wann ist etwas real und wann "sogenannt"? Ab wann fühlt sich eine Seite verbal und rhetorisch benachteiligt? Welches Wort, welche Formulierung ist schon Propaganda? Was ist verharmlosend, was alarmistisch?

Der österreichische Publizist Kurt Gritsch verfolgt die Ereignisse um das zerfallende Jugoslawien seit Jahrzehnten. Er hat eine Fülle von Aufsätzen insbesondere zum Kosovo-Krieg 1999 verfasst und sich mit den historischen, politischen, geostrategischen und medialen Implikationen beschäftigt. Mit seinem Buch "Krieg um Kosovo – Geschichte, Hintergründe, Folgen" (erschienen im Universitätsverlag "innsbruck university press") legt er nun die Bilanz seiner Recherchen und Studien vor.

Traditionalisten gegen Revisionisten

Gritsch weiß vom rhetorischen Minenfeld des Themas. Zu Beginn schlägt er daher vor, die divergierenden Lager und deren Vertreter zu identifizieren um dann eine neutrale Position zu versuchen. Gritsch unterscheidet zwischen traditionalistischer und revisionistischer Argumentationsausrichtung, die für die gesamte Bewertung der Jugoslawienkriege gilt. "Der Traditionalismus blendet die Hintergründe des kroatisch-muslimischen Krieges sowie die Mitverantwortung Kroatiens und der bosnischen Regierungstruppen für die Eskalation der Kampfhandlungen aus", so Gritsch. In Bezug auf den Kosovo sehen die Traditionalisten die UÇK als Befreiungsorganisation und weisen wie schon in den vorherigen Kriegen den Serben mehr oder weniger die Alleinverantwortung für die Eskalation zu. Revisionisten gehen von einer Schuld von beiden Seiten aus und verorten die Ursachen für die Kriege in "ungelösten sozialen und ethnischen Spannungen". "Im Unterschied zu Traditionalisten differenzieren Revisionisten zwischen Serben aus Kroatien, Bosnien und Serbien und den Anliegen ihrer Führung. Der Untergang Jugoslawiens war sprachlich kein Determinismus oder Fatalismus suggerierender 'Zerfall', sondern eine 'Zerstörung' im Zuge eines Bürgerkriegs", so Gritschs Definition. Revisionisten differenzierten "zwischen regulären Armeeeinheiten und Paramilitärs, eine bis heute umstrittene und von Traditionalisten abgelehnte Unterscheidung." Während Traditionalisten "Operation Allied Force" als "humanitäre Intervention" darstellten, würden Revisionisten "von einem von verschiedenen Interessen beförderten 'NATO-Angriff'" sprechen.

Der letzte Punkt zeigt die Fehleranfälligkeit des Vorhabens. So kann man sehr wohl von einem "Angriff" der NATO sprechen, ohne damit dem revisionistischen Lager zuzusprechen. Und es ist möglich, die Angriffe für eine notwendige Maßnahme halten, ohne sie damit mit dem Euphemismus der "humanitären Intervention" zu etikettieren. Problematisch wird es, wenn Gritsch das Massaker von Srebrenica ebenfalls in diese Dualität einsortiert. Demnach wäre man Traditionalist, wenn man von 8.000 Toten ausgehe und Srebrenica als Massaker bezeichne. Revisionisten hingegen gingen von einer niedrigeren Anzahl Opfer und "von wechselseitigen Massakern innerhalb eines Bürgerkrieges aus". Diese Unterscheidungen wirken in Anbetracht der Tatsache, dass Srebrenica aus guten Gründen als Genozid eingestuft wurde, fast ein wenig anstößig.

So notwendig Sprachkritik gerade in Zeiten eines Krieges ist, so wichtig bleibt die Differenzierung, um voreilige, affektartige Lagerbildungen zu vermeiden. Entscheidend sollte nicht nur ein jeweils verwendetes Wort ("Angriff", "Zerfall", "Intervention") haben, sondern vor allem der Kontext, in dem diese Worte oder Formulierungen fallen. Indem Gritsch das reduktionistische Gut-oder-böse-Spiel betreibt, leistet er dem Vorschub, was er eigentlich verhindern möchte. Das schadet seinem Anliegen.

Die "neutrale" Position, die Gritsch für sich in Anspruch nimmt, besteht unter anderem darin, NATO und USA die Hauptschuld zuzuweisen. Der Kosovokrieg sei nicht mehr aber auch nicht weniger dazu ausersehen worden, der NATO im 50. Jahr ihres Bestehens und nach dem Wegfall des Kalten Krieges eine neue Existenzberechtigung zu finden. Mit dem Angriff wandelte sie sich vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis, so Gritsch. Die humanitären Aspekte, die zur Rechtfertigung herangezogen wurden, dekonstruiert er dabei glaubhaft als vorgeschoben, vor allem im Hinblick auf eine Akzeptanz in der deutschen (und auch österreichischen) Öffentlichkeit. Gritschs These geht dahin, dass die Lage im Kosovo "für die NATO ein Glücksfall war, der es ihr ermöglichte, sich unter Beifall zahlreicher Intellektueller und trotz dezenter Zurückhaltung weiter Teile der Bevölkerung westlicher Länder von einem Verteidigungs- in ein Angriffsbündnis zu wandeln."

Schattenprovinz Kosovo

Ausgiebig fächert Gritsch die Geschichte des Kosovo auf. Schließlich wird der Fokus auf die Zeit ab den 1980er Jahren gelegt. Durch die Verfassungsreform der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien des Jahres 1974 war das Kosovo innerhalb der Teilrepublik Serbien eine autonome Provinz geworden, die zwar de jure Serbien politisch unterstand aber de facto einen republikähnlichen Status im Staatspräsidium erhielt. Dennoch gab es bereits 1981 erste Sezessionsbestrebungen des Kosovo. Gleichzeitig nahen die Spannungen und Diskriminierungen innerhalb der Volksgruppen zu. Obwohl die Albaner mehr als 80% der Bevölkerung stellten, war die Verwaltung (vor allem Polizei und Justiz) serbisch dominiert. 1989 nahm Milošević den Autonomiestatuts des Kosovo (und auch der Vojvodina) zurück, um seine Macht im Staatspräsidium zu festigen. Ibrahim Rugova, der albanische Führer der gemäßigt-sezessionistischen LDK-Partei, rief danach zu einem Boykott der Bürokratie durch die Albaner auf.  Man begann eine Schattenverwaltung mit albanischen Strukturen aufzubauen. Man gab sich eine eigene Verfassung und hielt sogar ein Referendum über die Unabhängigkeit ab. "87 Prozent der Gesamtbevölkerung bzw. 99,8 Prozent der Albaner stimmten angeblich dafür.  Dies alles geschah mit stiller Duldung der Serben. "Die serbischen Behörden behinderten die verbotenen Untergrundwahlen im Mai 1992 kaum", so Gritsch. Die Gräben zwischen den Volksgruppen vertieften sich allerdings weiter.

Vor allem verbesserte sich die Lebenssituation der Albaner nicht. Ausführlich schildert Gritsch, wie nun Strömungen innerhalb der albanischen Bevölkerung stärker wurden, die sich mit den Aktionen Rugovas nicht zufrieden gaben und bereit waren für eine Sezession des Kosovo auch Gewalt auszuüben. Die UÇK, deren Wurzeln bis in die 1980er Jahren hinein reichten, wurde zu einer neuen, treibenden militärischen und politischen Kraft der Albaner. Vertreibungen von Serben und Mordanschläge auf serbische Einrichtungen nahmen zu. Mehrmals betont Gritsch, dass die serbische Polizei (und wohl auch Militär) unverhältnismäßig hart reagierten. Schließlich brutalisierte sich dann auch noch das Vorgehen der UÇK-Truppen.

Der vierte Konflikt

Ende 1995 wurde mit dem Vertrag von Dayton der Bosnien-Krieg beendet. Der sich immer deutlicher abzeichnende Konflikt im Kosovo kam bei den Verhandlungen nicht zur Sprache. Milošević wurde vom Westen gebraucht, um Dayton zu ermöglichen. Im Sommer 1998 eskalierte die Lage im Kosovo; es kam zu wechselseitigen Anschlägen und Übergriffen mit Toten auf beiden Seiten. Dies führte zu massiven Fluchtbewegungen innerhalb des Kosovo; zeitweise wurden rund 250.000 Binnenflüchtlinge gezählt. Albaner flohen vor serbischer Polizei wie auch Serben vor UÇK-Kämpfern. Im September verabschiedete der Weltsicherheitsrat der UNO eine Resolution, in der beide Seiten aufgefordert wurden, ihre Aggressionen einzustellen. Im Oktober 1998 kam es nach massivem Druck der USA, die auch militärische Schläge gegen Serbien nicht mehr ausschlossen, zu Verhandlungen, die zur Holbrooke-Milošević-Vereinbarung führten. Serben und Albaner verpflichteten sich darin  zur Rückführung der Flüchtlinge und zur Einstellung jeglicher Kampfhandlungen. Mit der "Kosovo Verification Mission" (KVM) wurde eine neutrale Beobachtergruppe bestehend aus unbewaffneten Militärbeobachtern, Polizisten und Zivilisten erschaffen, die die Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen kontrollieren und mittelfristig freie Wahlen vorbereiten sollte.

Gritsch beschreibt ausführlich, mit welchen Schwierigkeiten die KVM von Anfang an zu kämpfen hatte. So wurde die angestrebte Anzahl von 2000 Beobachtern nie erreicht, da viele Länder entgegen ihren Beteuerungen kaum Personal zur Verfügung stellten. Die Quote betrug nie mehr als 65%, und die wurde erst wenige Tage vor dem Krieg im März 1999 erreicht. Merkwürdig war zudem mit William Walker einen amerikanischen Diplomat an die Spitze zu stellen, der als dubios galt und unter anderem verdächtigt wurde, als stellvertretender Botschafter der USA in Honduras die Contra-Bewegung in Nicaragua unterstützt zu haben.  

Zunächst schien sich jedoch die Lage im Kosovo zu entspannen, wenn auch immer mehr die UÇK ihre politischen und territorialen Einflüsse erweiterte, Machtvakua ausnutzte und zunehmend als Hoheitsmacht auftrat. Die KVM hatte dies entweder nicht mitbekommen oder billigend in Kauf genommen. Im Januar 1999 flammten die Kämpfe erneut auf. Trauriger Höhepunkt war das sogenannte  Massaker von Račak vom 15. und 16. Januar. Mindestens 40 Leichen wurden in dem kosovarischen Dorf entdeckt, die, wie es hieß, von serbischen Sicherheitskräften ermordet worden seien. Während die serbische Seite behauptete, es habe sich um UÇK-Kämpfer gehandelt, die von der Polizei bei einer Kampfaktion getötet worden seien und nachträglich in zivile Kleidung gesteckt worden waren, betonte die albanischen Seite, dass es sich um Zivilisten gehandelt habe. Dubios war die Rolle von Walker, der mit rund 30 Journalisten zum Fundort der Leichen gekommen war, und, so Gritsch, "keine Sperrung des Gebiets veranlasst und nach dem Bericht eines Augenzeugen sogar zugelassen, dass die Toten mediengerecht positioniert wurden. Ohne Voruntersuchung sprach er vor laufender Kamera von einem 'Massaker', für das er die serbische Seite verantwortlich machte."

Schlüsselereignisse

Račak war eines der Schlüsselereignisse, mit denen die Öffentlichkeit auf die vermeintlichen Barbareien der Serben eingeschworen wurde. Bis heute ist unklar, ob es sich bei den Opfern um UÇK-Kämpfer oder Zivilisten handelte. Vieles spricht dafür, dass man die Wahrheit nicht mehr wird aufdecken können. Während Gritsch auf das Massaker von Račak sehr genau eingeht, behandelt er einen zweiten Zwischenfall, der ähnlich entscheidend zur öffentlichen Meinungsbildung beitrug, überhaupt nicht. Dabei handelt es sich um den sogenannten Rogovo-Vorfall, bei dem mindestens 24 Menschen zu Tode gekommen waren. Račak und Rogovo – beide Gemetzel wurden medial genutzt zur Einstimmung der Bevölkerung für eine wie es schien unabwendbare, kriegerische Intervention. Dabei wurde auf die "Wiederbelebung des […] aus dem Bosnien-Krieg stammenden Vergleichs Serben = Nazis" zurückgegriffen. Während in den Resolutionen der Vereinten Nationen und in den OSZE-Berichten immer wieder beide Seiten zur Mäßigung aufgerufen wurden, kolportierten die Medien nahezu ausschließlich die Schuld bei den Serben.

Noch gab es eine Chance für eine Verhandlungslösung – die Konferenz von Rambouillet, die am 6. Februar 1999 begann. "Russland, Italien und auch Frankreich versuchten, die erzwungenen Verhandlungen in Rambouillet als letzte Chance einer politischen Lösung zu nutzen, Großbritannien, Deutschland und die USA verwendeten sie als Rechtfertigung für den angestrebten Krieg", so kommentiert der Autor die Situation. Richtungsweisend war, dass auf albanischer Seite erstmals der UÇK-Führer Hashim Thaçi die Delegation anführte. Ibrahim Rugova, der bisher die Verhandlungen für die Albaner geführt hatte, gehörte zwar zur Delegation, aber dominiert wurde sie von den Vertretern der UÇK. Dies bedeutete eine Radikalisierung der Position der Albaner.

Über das Scheitern der Verhandlungen ist viel diskutiert worden. In den Nachrichtenmedien wurde unisono die jugoslawische Seite hierfür verantwortlich gemacht. Ein paar Monate später, noch während des Krieges, sickerte dann der geheime Zusatzparagraph (Passus 8, Annex B) durch, mit dem Serbien uneingeschränkt und unkontrolliert reguläre NATO-Truppen auf seinem Territorium hätte dulden müssen. Gritsch erklärt den Unterschied eines ähnlichen Passus zum Dayton-Abkommen, in dem "Milošević der NATO die Nutzung des gesamten jugoslawischen Territoriums zu Transportzwecken gestattet hatte". Nun wollte man Jugoslawien zwingen, dass der NATO die "Benutzung aller benötigten Bereiche und Anlagen für Manöver und Stationierung" ermöglicht werden sollte. Jugoslawien wäre demnach eine Art besetztes Land gewesen, in dem NATO-Truppen Exterritorialität beansprucht hätten. Selbst ein Hardliner wie Henry Kissinger verstand, warum die Serben dies nicht akzeptierten.

Gritsch macht das Scheitern jedoch nicht ausschließlich an diesem Zusatzparagraphen fest. Jugoslawien habe keinen echten Versuch unternommen, "den Konflikt durch weitgehende Autonomie zu befrieden und glaubte stattdessen, das Problem nur in der Bekämpfung einer kleinen Gruppe von Terroristen zu erkennen." Aber natürlich habe auch die "Kompromisslosigkeit der UÇK-Vertreter", die sich ihrer Sache sicher gewesen waren, zum Misslingen beigetragen. Und schließlich sei die "Kriegszielpolitik der USA" Schuld gewesen.

War der Krieg das Ziel?

Der letzte Punkt ist heikel. Gritsch geht davon aus, dass die NATO von Beginn an den Krieg gegen den ungeliebten Unruhestifter Milošević wollte. Er deutet an, dass man in Rambouillet hierfür zuweilen die Forderungen an die serbische Seite noch einmal aufstockte, nachdem sich dort eine gewisse Kompromissbereitschaft gezeigt habe. Die NATO sei fixiert gewesen im Kosovo ein Exempel zu statuieren und ihre Existenzberechtigung als Interventionsbündnis neu zu formulieren. Eine solche Anschuldigung erfordert einen Beleg. Aber außer der gebetsmühlenartigen Wiederholung der Geburtstags-These (fast ein Dutzendmal) bleibt er einen solchen Nachweis schuldig.    

Erstaunlich ist, dass Gritsch die deutsche Schröder-Regierung als treibende Kraft zusammen mit den USA sieht: "Deutschland wiederum erkannte unter der Regierung Kohl, fortgesetzt und intensiviert unter der Regierung Schröder, die historische Chance, militärische Einschränkungen, die noch aus dem verlorenen Zweiten Weltkrieg resultierten, endgültig zu überwinden." Diese Einschätzung ist nicht ganz korrekt. Zum einen hatte die Regierung Kohl eine Art Scheckbuch-Außenpolitik betrieben, in dem man sich mehr oder weniger vornehm aus militärischen Aktionen heraushielt, sich dann jedoch großzügig den Kosten beteiligte.

Ohne die rot-grüne Regierung von ihrem Verschulden exkulpieren zu wollen, sollte man die Ereignisse im Herbst/Winter 1998 noch einmal vergegenwärtigen. Die Eskalation im Kosovo ereignete sich während des Interregnums zwischen der am 27.9.1998 abgewählten Regierung Kohl und der designierten neuen, rot-grünen Regierung. Um Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien zu erzwingen, drohte die NATO im Herbst 1998 unverhohlen mit militärischen Luftschlägen. Schröder und Fischer (designierter Kanzler bzw. Außenminister) besuchten Anfang Oktober 1998 Clinton und Albright. Amerikanische Berater hatten bei der Beteiligung der Anti-NATO-Partie der Grünen an einer neuen deutschen Regierung Alarm geschlagen ob der Bündnistreue Deutschlands. So mussten Schröder und Fischer schon vorher einen Antrittsbesuch abstatten. Am 16. Oktober 1998 kam es im Bundestag zu einer Sondersitzung – noch einberufen von der Regierung Kohl und in der "alten" Zusammensetzung des Bundestags. Es sollte darüber abgestimmt werden, ob der Bundestag Luftschlägen der NATO gegen Jugoslawien und einer Beteiligung der Bundeswehr daran zustimme, falls es nicht zu einer Verhandlungslösung komme. Mit überwältigender Mehrheit stimmten außer der PDS alle Fraktionen – also auch SPD und Grüne - diesem Beschluss zu. Dabei hatten Milošević und Holbrooke bereits drei Tage vorher ein Abkommen unterzeichnet. 

Am 27. Oktober 1998 erfolgte auf der neuen, konstituierenden Sitzung des Bundestags die Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler. Die Kriegsgefahr schien zu diesem Zeitpunkt gebannt. Der "Antrittsbesuch" bei Clinton hatte Wirkung gezeigt. Zur NATO stand im  Koalitionsvertrag: "Die neue Bundesregierung betrachtet das Atlantische Bündnis als unverzichtbares Instrument für die Stabilität und Sicherheit Europas sowie für den Aufbau einer dauerhaften europäischen Friedensordnung." Die Grünen mit ihrer skeptischen, teilweise sogar ablehnenden Haltung zur NATO waren eingeknickt. Unter dem Punkt "Bundeswehr" steht dort: "Die Bundeswehr dient der Stabilität und dem Frieden in Europa. Als fest in das atlantische Bündnis integrierte Armee ist sie im Sinne von Risikovorsorge weiterhin zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen." Ein halbes Jahr später sollten sich diese Worte als Phrasen entpuppen.

Das "Umfallen" von SPD und Grünen bei der Abstimmung vom 16. Oktober hatte zwar im Herbst 1998 keine entscheidende Bedeutung, bildete dann allerdings im März 1999 die Grundlage zur Beteiligung Deutschlands an der "Operation Allied Force". Eine erneute Abstimmung im Bundestag fand nicht mehr statt, was bei vielen Beobachtern und Mandatsträgern auf Unverständnis stieß (und inzwischen durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr möglich wäre). Einer der Gründe war sicherlich der Widerstand der grünen Basis, die auf einem außerordentlichen Parteitag bestand. Fischer verknüpfte seine Position als Außenminister mit dem Abstimmungsergebnis und erreichte schließlich die Zustimmung der Delegierten. Auch Schröder hätte mit Gegenstimmen aus den eigenen Reihen rechnen müssen, was sich nicht zuletzt am Rücktritt von Oskar Lafontaine als Finanzminister und Parteivorsitzender der SPD am 11. März 1999 zeigte, den Lafontaine nachträglich neben Differenzen mit Schröder in der Finanzpolitik auch mit der sich abzeichnenden Kriegsentscheidung begründete. 

Vieles spricht dafür, dass die deutsche Teilnahme am völkerrechtwidrigen Bombardement der NATO auf Jugoslawien nicht direkt Großmachtsinteressen entsprang. Bei Schröder dürfte es sich eher um eine Mischung aus vulgärem Opportunismus und vorauseilendem Gehorsam der amerikanischen Regierung gegenüber handeln, der man glaubte, etwas "beweisen" zu müssen. Fischers Taktik bestand darin, den Krieg als bittere, aber notwendige Intervention darzustellen und situierte die Legitimation im historischen Kontext der deutschen Geschichtsbewältigung.

Instrumentalisierungen

Zunächst wurde das Massaker von Srebrenica von 1995 als Beweis für die Monstrosität der Serben herangezogen. Srebrenica wurde "als Konsensdemonstration" herangezogen um "für ein militärisches Eingreifen in den 'Jugoslawien-Krieg' zu werben." Als dies nicht den gewünschten Erfolg zeigte, wurde der Holocaust ins Spiel gebracht und mit der Parole "Nie wieder Auschwitz" die Verbrechen des Nationalsozialismus instrumentalisiert. Die Lage im Kosovo wurde mit dem Menschheitsverbrechen des Holocaust verglichen. Gritsch geht sogar so weit, die deutschen und österreichischen Grünen, einst Friedensaktivisten, auf die psychoanalytische Bewältigungs-Couch zu legen, denn, so der zutreffende Befund, es waren vor allem konservative politische Geister, die sich gegen diese Pseudo-Kriegslogik aussprachen oder zumindest größere Anstrengungen bei den Verhandlungen forderten. Es gelingt dem Autor gut, die radikal manichäische Stimmung der Zeit einzufangen. Wer nicht für die "humanitäre Intervention" war, war ein Freund von Milošević und rechtfertigte damit dessen ethnische Vertreibungen.

Die veröffentlichte Meinung in den Medien im März 1999 war deutlich: Milošević muss Einhalt geboten werden. Gritsch hatte in Rahmen einer "Forschungsarbeit FAZ, Süddeutsche Zeitung, taz, ZEIT und Spiegel zwischen 24.3.1999 und 10.6.1999, also zwischen Kriegsbeginn und Kriegsende, quantitativ nach der Erwähnung von Intellektuellen sowie qualitativ in der inhaltlichen Analyse von Essays und Interviews zum Krieg untersucht". Seine Ergebnisse sind interessant, denn ausgerechnet die taz, die mit Erich Rathfelder einen der vehementesten journalistischen Bellizisten jahrelang ein ausgiebiges Forum bot, schneidet noch am besten ab, während Spiegel- und FAZ-Leser am Ende den Eindruck haben mussten, dass die Mehrheit der Intellektuellen hinter dem Krieg stehen würden. Gritsch definiert dabei den Begriff des Intellektuellen in diesem Zusammenhang nicht genau. Meint er damit auch Journalisten, Friedensforscher und Politikwissenschaftler? Wer sollen diejenigen gewesen sein, die ihre Bedenken äußerten oder widersprachen?

Leerstellen

Es gehört auch zur Wahrheit, dass sehr viele Kulturschaffende und Intellektuelle den Angriff befürworteten. Die Gewissen der Bundesrepublik von Grass über Enzensberger bis Habermas – sich in der stets richtigen Gesinnung wähnend  - stimmten wenn auch zum Teil zähneknirschend zu. Dennoch ist es überraschend, dass Gritsch als einzigen Widerstreiter in dieser Kriegs-Besoffenheit Peter Handke entdeckt, der bereits 1995 mit seinen Texten zu Jugoslawien für Furore gesorgt hatte. Handke hatte die durch innerjugoslawische Nationalismen entstandene und durch westliche Politiker beförderte Zerstörung Jugoslawiens, seines Arkadien, gebrandmarkt und gleichzeitig die einseitige Verurteilung der Serben in den Medien heftig kritisiert. Handke setzte 1999 seine Kritik mit zum Teil drastischen Worten fort, was ihm überaus bösartige Kritik einbrachte; Gritsch listet einige Äußerungen von Journalisten und Politikern über ihn auf, die zum Teil weit unterhalb der Gürtellinie zielten. Bedauerlicherweise aber nimmt Gritsch Handke dahingehend nicht ernst, in dem er behauptet, der österreichische Schriftsteller habe aus einer Art Gerechtigkeitsimpuls heraus einseitig Partei für die Serben ergriffen. Handkes Motivationen waren andere. Und schließlich hatte er immer wieder betont nicht für die Serben zu sein, sondern "mit den Serben". Wenn man dieses Selbsturteil Handkes nicht übernimmt, müsste man belegen, wann Handke dezidiert für die serbische Politik eingetreten ist. Eine solche Textstelle ist mir nicht bekannt.

Gritschs Schilderungen der Ereignisse des Kosovokrieges selber und dessen medialer Darstellung sind eher spärlich. Auch wenn er nicht beabsichtigt hatte, eine Chronik des Krieges zu schreiben überrascht es sehr, dass er mit keinem Wort den sogenannten "Hufeisenplan" erwähnt, den der damalige deutsche Verteidigungsminister Scharping als Beleg für die systematische Vertreibung der Kosovo-Albaner und damit als einen weiteren Stein im verlogenen Begründungsmosaik für den Krieg heranzog. Nach allem, was man heute weiß, war der "Hufeisenplan" eine Fälschung. Aber es "passte" in den Kontext der "humanitären Intervention". Weiterhin überrascht, dass im Buch der Vertrag von Kumanovo, der den Krieg schließlich beendete, kaum erwähnt, geschweige denn analysiert wird.

Geopolitische Pflöcke einschlagen

Stellt sich die Frage nach den wirklichen Gründen für den Krieg. Gritsch sieht das "zentrale politische Motiv" der Intervention in der "Etablierung [einer] neuen militärischen Weltordnung" nebst "Ersetzung des UNO-Sicherheitsrats durch die NATO bei gleichzeitiger US-Vorherrschaft im Militärbündnis". Gritsch übersieht allerdings, dass die USA bei der Bewältigung und Befriedung der  Jugoslawienkriege zunächst den Europäern und Vereinten Nationen den Vorrang gelassen hatten. Erst als die diplomatischen Bemühungen zur Beilegung des Bosnien-Kriegs mehrmals krachend scheiterten, griff die Regierung Clinton diplomatisch und schließlich auch militärisch ein.

Eine wichtige Rolle spielten militärstrategische und geopolitische Interessen. Russland befand sich acht Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ökonomisch und politisch in einer sehr schwachen Position. Der dem Westen freundlich gesonnene Präsident Boris Jelzin hatte durchaus einflussreiche innenpolitische Gegner und war zudem gesundheitlich angeschlagen. Da die Zukunft der politischen Ausrichtung Russlands nach einem Ende von Jelzins Präsidentschaft völlig offen war, wollte man vorher unverrückbare Pflöcke einschlagen. So erweiterte man den Einflussbereich des Nordatlantikbündnisses, indem man die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn wenige Tage vor dem Ausbruch des Kosovokrieges zu Vollmitgliedern der NATO machte. Jugoslawien/Serbien war der geographisch westlichste Verbündete Russlands. Indirekt konnte man mit der Domestizierung der Serben den Einfluss der Russen auf dem Balkan eindämmen.

Nach Slowenien, Kroatien und Bosnien drohte nun abermals ein Krieg mit entsprechenden Flüchtlingsströmen auf dem Balkan. Slobodan Milošević war zum vierten Mal der Unruhestifter. Somit ist naheliegend, dass man auch einen Machtwechsel in Belgrad anstrebte, um den Unruheherd ein für alle Mal zu befrieden. Dabei hätte man allerdings die Erfahrungen in der Vergangenheit heranziehen können, dass solche Operationen eher den Zusammenhalt in der Bevölkerung steigert. Am serbischen Oppositionspolitiker und späteren Ministerpräsidenten Zoran Đinđić, der unter bis heute ungeklärten Umständen 2003 bei einem Attentat ums Leben kam, konnte man dies exemplarisch beobachten: Đinđić war politisch ein erbitterter Gegner Miloševićs, verurteilte jedoch vehement die Bombardements der NATO. 

Mehrmals war Milošević vor den Drohungen der Amerikaner respektive der NATO eingeknickt. So versuchte man es auch dieses Mal. Im Herbst 1998 schien das Rezept noch erfolgreich zu sein. Gritsch belegt, dass die Serben sich mehr oder weniger an die Vereinbarungen des Holbrooke-Milošević-Abkommens gehalten hatten. Der große Störenfried war die erstarkte UÇK, die sich als territoriale Ordnungsmacht gerierte. In der Bewertung der UÇK vollführten die USA eine 180 Grad-Wendung. Lange Zeit war sie als Terrororganisation geführt worden. Plötzlich wurde sie zur "Befreiungsorganisation". Auch dies war ein strategischer Schritt der Amerikaner: Im Fall der Notwendigkeit einer militärischen Intervention könnte die UÇK als Bodentruppe eingesetzt werden. Da bestimmte wohl die Aussage Bismarcks, der Balkan sei "nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers" wert, auch die amerikanische Richtung.

Ausführlich geht Gritsch auf die ökonomische Situation Jugoslawiens seit Ende der 1980er Jahre ein. Hierin erkennt er eines der zentralen Motive zum Auseinanderbrechen des Staates. So erreichte 1989 die Inflationsrate vierstellige Ziffern, im Dezember 1989 lag sie bei 2665 Prozent. Um frisches Geld zu erhalten, musste Jugoslawien längst die Auflagen von Weltbank und IWF erfüllen, was insbesondere im strukturschwachen Serbien zu Massenentlassungen führte, da die Staatsbetriebe nicht mehr konkurrenzfähig waren. Als die Kriege 1991 begannen, war das Land praktisch bankrott. Entsprechend sieht Gritsch die Intervention im Kosovo 1999 als "Umgestaltung der Nationalökonomie nach neoliberalem System". Aus der desolaten Wirtschaftslage wollte man Profit schlagen. "Militärs und Geheimdienste pflegen Kontakte zum Finanzestablishment, die internationalen Finanzinstitutionen kollaborieren mit dem Nordatlantikpakt und seinen verschiedenen ‚Friedens‘-Missionen und konkurrieren um die Finanzierung des fälligen Wiederaufbaus und seine Gewinne."

Die Zahlen, die Gritsch nennt um den Kosovo als lukrative Beute des Neoliberalismus darzustellen, sind nicht sehr überzeugend. Die wirtschaftliche Potenz des Landes ist schwach, die angeblich so reichen Rohstoffvorkommen werden entweder bis heute kaum ausgebeutet oder sind ökologisch nicht mehr praktikabel (Lignit). Das Bruttoinlandsprodukt des Kosovo betrug 2013 rund 7 Milliarden US-Dollar, das ist vergleichbar mit Niger oder Kirgisistan. Hatten die Sezessionen Sloweniens und Kroatiens und, mit Einschränkung, Bosniens noch zur Implementierung neuer Absatzmärkte im Sinne der globalisierter Wirtschaft geführt, so war und ist der Kosovo bis heute ein ökonomisch rückständiges Gebiet.

Insgesamt mehren sich gegen Ende des Buches die Wiederholungen und Redundanzen. Gelegentlich scheint es so, als habe Gritsch seine über Jahre entstandenen Aufsätze einfach hintereinander als eigenständige Kapitel abgedruckt und nur manchmal mit ein paar verbindenden Worten zu bereits Gesagtem versehen.

Seine Medienkritik wird mit Ausführung zum Konzept des Friedensjournalismus nach Johan Galtung unterfüttert. Dabei wäre man damals mit einer weniger meinungsverseuchten Journaille schon zufrieden gewesen; den Rest hätte man sich schon selber denken können. Warum der Meinungsstrom besonders in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmedien derart eindimensional verlief, bleibt ein Phänomen. Da "Regierungsdruck als Grund für pro-albanische und NATO-freundliche Berichterstattung […] nicht nachweisbar" ist, versucht Gritsch die Antwort unter anderem im Konformitätsdruck in den Redaktionen zu finden: "Die Karriereleiter führt eher über Betroffenheitsberichte denn Hintergrundrecherche, und den richtigen Feindbild-Riecher zu haben, entscheidet oft über die Höhe des Einkommens." Sehr instruktiv sind seine Ausführungen über die Inszenierungen, denen Medienkonsumenten ausgesetzt sind.

Trotz der angesprochenen Leerstellen mangelt es an Fakten und auch (leider) Meinungen in dem Buch nicht. Auf den 295 Seiten gibt es insgesamt 1299 Fussnoten. Dabei zeigt der Autor keinerlei Berührungsängste und zitiert Friedensforscher, Bellizisten, Traditionalisten wie Revisionisten, Politiker, Journalisten und Geostrategen. Ein kleiner Makel ist, dass auch aus Texten zitiert wird, die von zwielichtigen Figuren wie Jürgen Elsässer verfasst oder herausgegeben wurden (einmal weist Gritsch auf Elsässers Wandlung vom Links- zum Rechtsradikalen hin). Hier wäre weniger mehr gewesen.

Artikel online seit 10.08.16

 

Kurt Gritsch
Krieg um Kosovo
Geschichte, Hintergründe, Folgen
Insbruck University Press
2016, brosch., ca. 302 Seiten
978-3-902936-83-7
29,90

 


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