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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Lebensillusion in Hochform

Valentin Groebners Essay »Ich-Plakate« über »
Eine Geschichte des
Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine«

Von Patrick Wichmann

Die Werbeindustrie kommt kaum noch ohne sie aus: Tausende Gesichter lachen uns täglich an. Sei es von Zeitungs- und Zeitschriftenseiten, aus dem Fernseher oder herab von gigantischen Plakatwänden. Ob Mode, Hygiene, Technik – sie wissen scheinbar spielend, was wir brauchen. Und sie sagen es uns unverblümt, das »Ich« und das »Du« sind ihre Sprache. Doch warum müssen es (scheinbar) echte Menschen sein? Warum die persönliche Ansprache? Der Historiker Valentin Groebner hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser »Ich-Plakate« gemacht.

Allzu leicht wäre angesichts dieser Allgegenwart das kulturkritische Lied anzustimmen. Dass die Massenproduktion eine Entwertung oder gar Entzauberung des Individuums bedeute, dass uns die personifizierende Werbung tagtäglich manipuliere. Diesem naheliegenden Reflex jedoch verfällt Groebner nicht, stattdessen widmet sich der Schweizer Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance seinem Thema mit auffallend wohltuender Unaufgeregtheit. Schließlich stehen auch nicht die Funktionsweise der Werbung im Mittelpunkt dieses Essays, sondern die Kontinuitätslinien, die sich in diesen Werbegesichtern als »Identitätsmaschinen« manifestieren. Und damit die Dekonstruktion dieser Bilder als authentische Darstellungen von Individuen.

Unnötig zu sagen, dass die Heiligenbilder und Ikonen des Mittelalters keine realen historischen Akteure abbilden. Stattdessen sollten diese abertausendfach kopierten Gesichter ihre ganz eigene Funktion erfüllen, die Eigenschaften der abgebildeten Heiligen auf die Besitzer der Bilder übergehen etwa. Dass ein ähnlicher Befund allerdings auch für Herrscherporträts, Renaissancemalerei und sogar die Fotografie möglich ist, diesen Beweis führt Groebner im Verlauf seines rund 150 Textseiten starken Essays. Möglich ist ihm dies – insbesondere im Bereich der Fotografie, deren Darstellung »echter« Personen sich schwerlich leugnen lässt – durch den neuerlichen Verweis auf die Funktion. Denn ob Bilder von der Front oder harmlose Urlaubsfotografien, sie alle folgen einem konkreten Ziel und verlieren durch Inszenierung, Retusche und Co. den letzten Grad an Authentizität. Und von eben jener inszenierten Fotografie ist es nur noch ein kleiner Sprung bis zu den omnipräsenten Werbeplakaten.

»Vom Gesicht auf dem Bild führen dicke, mit starken Wünschen und Identifikationsmechanismen aufgeladene Kabel zurück zu demjenigen, der es anschaut«, heißt es bei Groebner. Oder anders gesagt: Man sieht, was man sehen will – und fühlt sich unwillkürlich persönlich angesprochen. »Das Bild eines Gesichts ist in seiner langen Geschichte nicht als eindeutiges Zeichen für jemandes Einzigartigkeit gebraucht worden, sondern vor allem als Instrument der Metamorphose, der Möglichkeit, sich in jemand anderes zu verwandeln.« Ja, mehr noch: Bei der Betrachtung von Porträts, gemalt oder fotografiert, neigen wir dazu, im Gesicht der Abgebildeten bestimmte Emotionen erkennen zu können, imaginieren gar unwillkürlich ganze Biographien. Lebensillusion in Hochform.

Dass Groebners Essay in eine universitäre Landschaft passt, die derzeit stark um das Konstruierte kreist, dürfte ihm gewiss nicht schaden. Aber er ist zugleich ein kluger Parforceritt durch die Disziplinen. Groebner betont nicht die (selbstverständliche) Künstlichkeit der Werbeplakate, sondern schafft ein Verständnis dafür, dass die Darstellung von Gesichtern seit je geschönt ist. Und das ist durchaus von tagesaktueller Relevanz, verringert es in Zeiten der technologischen Allverfügbarkeit doch die Erregung um all die unersättliche Selbstrepräsentation, die in Selfies und Co. ihren Ausdruck findet. Die Unaufgeregtheit Groebners überträgt sich so dank der historischen Dimension auf den Leser. Der Witz des Humanisten Pietro Bembo, dass ein Bild dem Abgebildeten mehr ähnle als dieser sich selbst, mag nie angebrachter gewesen sein als heute – aber er ist auch bereits gut 500 Jahre alt.

Artikel online seit 27.07.16

 

Valentin Groebner
Ich-Plakate
Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015.
209 Seiten
22,99 EUR.
978-3-10-002403-9

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