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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Man muß leben, mehr nicht«

Christoph Heins neuer Roman
»Glückskind mit Vater« offenbart
den hypersensiblen Kern eines Menschen, der auf sein Leben nur
schicksalhaft und mit Schande zurückblicken kann.


Von Gregor Keuschnig

In einem Gespräch aus dem Jahr 1993 mit Carsten Gansel, das im neulich vom Verbrecher-Verlag herausgegebenen Gesprächsband "Literatur im Dialog" abgedruckt wurde, hatte Christoph Hein sich selber als "Chronisten" bezeichnet, der nur das beschreiben könne, was er mit seinen Augen gesehen habe. Seinen Chronistenstatus hat Hein auch danach nie aufgegeben, obwohl er zwischenzeitlich mit zahlreichen anderen Etiketten wie "politischer Autor" versehen oder gar unsinnigerweise als Ostalgiker bezeichnet wurde. Seine Helden seien allesamt "Trotzköpfe" hieß es einmal (als sei dies schon ein literaturkritisches Kriterium); ein andermal verortete man sie im intellektuellen Milieu. Letzteres stimmt nicht, denn "Willenbrock" war ein braver Autohändler, in "In seiner frühen Kindheit ein Garten" portraitiert Hein in einer Mischung aus Verklärung und Kitsch den RAF-Terroristen Wolfgang Grams und in "Landnahme" wird das Leben eines Unternehmers erzählt, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hatte.       

Abgesehen von einem sich erst im weiteren Verlauf erschließenden kurzen Prolog begegnet man in Christoph Heins neuem Buch "Glückskind mit Vater" der Hauptfigur Konstantin Boggosch zunächst als 69jährigen Rentner in der (ost-)deutschen Provinz mit seiner zweiten Frau Marianne, die infolge einer Hüftoperation gehandicapt ist. Boggosch ist dort als ehemaliger Lehrer und Schuldirektor bekannt und geschätzt. Ein rundes Gründungsjubiläum des Gymnasiums steht an, und eine junge Journalistin der Lokalzeitung möchte ein Interview mit ihm. Es sollen alle noch lebenden ehemaligen Schuldirektoren zu Wort kommen und auf einem Bild posieren. Aber Boggosch ist mürrisch und weist die Journalistin nach kurzer Bedenkzeit ab. Seine Welt sei untergegangen, sagt er in einer Mischung aus Resignation und Verbitterung. Gleichzeitig geht ein Brief vom Finanzamt an einen gewissen Konstantin Müller ein.

Aber es ist alles ganz anders, als man zunächst vermutet. Der Brief ist, wie sich bald herausstellt, ein Irrtum, aber beide Ereignisse werfen die Erinnerungsmaschine an, die Erzählung beginnt und es wird vom "Er" zum "Ich" gewechselt. Als Konstantin am 14. Mai 1945 geboren wird, ist der SS-Brigadeführer Gerhard Müller, Konstantins Vater, bereits von einem polnischen Standgericht als Kriegsverbrecher exekutiert worden. Sukzessive erfährt der Leser von den Verbrechen des Vaters, der eine Chemiefabrik besaß und dort Zwangsarbeiter beschäftigte. Außerdem plante er ein zusätzliches Kriegsgefangenenlager, bevor er nach Polen und Russland abkommandiert wurde und dort Massaker initiiert. Die Mutter war Fremdsprachenlehrerin und stammt aus bildungsbürgerlichem Haushalt. Sie wird als unpolitischer Mensch und etwas naiv geschildert. Konstantin erklärte sie zum "Glückskind", denn die Schwangerschaft habe verhindert, dass sie 1945 bei der Eroberung durch die Rote Armee vergewaltigt wurde.

Die Zeit nach 1945 ist entbehrungsreich, aber vor allem geprägt durch die von Beginn an spürbare Sippenhaftung. 1948 hatte die Mutter für sich und die Kinder (neben Konstantin  Gunthard, den zwei Jahre älteren Bruder) ihren Mädchennamen Boggosch übernommen. Aber es half nichts: Das Stigma, Ehefrau bzw. Kind eines Kriegsverbrechers gewesen zu sein, lässt sich auch im Alltag nicht verheimlichen. Selbst an der Schule werden die Brüder gemobbt. Während Gunthard mit einem Onkel im Westen Kontakt hat, der die Verbrechen des Vaters verharmlost und sich sogar (teilweise erfolgreich) für eine Rehabilitation einsetzt, leidet Konstantin unter der Schuld, das Kind eines Nazi-Verbrechers zu sein. Die Familie bleibt existentiell bedroht, denn als Lehrerin kann die Mutter nicht mehr arbeiten und selbst Übersetzungsarbeiten verwehrt man ihr. Zu Hause werden die Kinder von ihr mehrsprachig erzogen; es gibt Tage an denen man nur russisch oder nur französisch sprechen darf. Aber die Brüder sehen keine Zukunft in der sich bildenden DDR. Trotz guter Noten dürfen sie als Söhne eines Kriegsverbrechers nicht zur Oberschule, was die Voraussetzung für ein späteres Studium wäre. Der einzige Vorteil ist, dass sie auch für den Wehrdienst ausgemustert werden.

Während Gunthard sich scheinbar mit dem System arrangiert und nur auf einen günstigen Augenblick wartet um in den Westen zu gehen und dort in der Fabrik seines nazistischen Onkels zu reüssieren, träumt Konstantin von der französischen Fremdenlegion. Tatsächlich gelingt ihm Ende der 1950er Jahre mit gerade 14 Jahren die Flucht nach Frankreich. Da der Leser aus dem Eingangskapitel weiß, dass er später einmal Lehrer und Schuldirektor sein wird, ist es offensichtlich, dass es mit der Fremdenlegion nicht klappt. Stattdessen macht Konstantin die Mittlere Reife in Frankreich und verdingt sich zum Lebensunterhalt in einem Antiquariat (der Französisch-Unterricht der Mutter zeichnet sich aus). Er freundet sich mit dem Antiquar und seinen Freunden an; fast ein väterliches Verhältnis entsteht. Und er trifft junge Franzosen, wird zum Cineasten. Aber auch hier holt ihn die Geschichte seines Vaters wieder ein. Der Antiquar und seine Freunde waren in der Résistance, hatten aktiv gegen die Nazis gekämpft. Und wieder ringt Konstantin mit seiner imaginären Schuld, die die Schönheit und Freiheit dieser Zeit trübt. 

Und dann kommt auch noch das Heimweh dazu. Just in dem Moment als die Mauer im August 1961 gebaut wird und viele noch die DDR verlassen, will Konstantin wieder hinein. Es gelingt ihm mit einiger List, dies zu erreichen und auch – erstaunlicherweise – ohne langfristige Sanktionen. Hier trifft er seine geliebte Mutter wieder, entfremdet sich immer mehr von seinem Bruder, der nicht in den Westen gegangen ist, sondern beschlossen hat, sich dem System anzupassen und mitzuschwimmen. Konstantin wird Antiquar in der nächstgrößeren Stadt, lernt ein Mädchen kennen und heiratet. Eine Bewerbung an der Filmhochschule Babelsberg scheitert im letzten Augenblick (die Kraft der Akten ist derart stark, dass sie nicht durch Talent getilgt werden kann) und von nun an folgt man Konstantin Boggosch auf seinem mäandernden Lebensweg, den nicht wenigen Schicksalsschlägen, den zögerlichen Neuanfängen (zu groß die Furcht, wieder enttäuscht zu werden) und den wenigen glücklichen Augenblicken.

Konstantin gelingt es nicht die Ungnade seiner späten Geburt, die er einmal halb bitter, halb belustigt als "Vatermal" charakterisiert, zu überwinden. Er geißelt sich mit ewiger Bürde. Dennoch wird er Jahre später Lehrer und schließlich sogar Direktor an einer Schule. Aber der an sich selbst gerichtete Imperativ, "das Leben für etwas ein[zu]setzen, das das Leben lohnt", scheitert, nicht zuletzt wieder an den Zeitläuften der Geschichte, Und so wird nach der Wende der seinerzeit so regimetreue DDR-Bonze, den Konstantin jahrelang als seinen Vorgesetzten zu ertragen hatte und der sich dann plötzlich in den Westen abgesetzt hatte, wieder sein Chef. Boggosch resigniert halbwegs, fügt sich in das Schicksal als "kleiner Kunstlehrer" und hält wacker bis zur Verrentung 2010 durch.

Manches am Buch befremdet. Etwa der am Ende sich in Hass steigernde, leicht manichäisch angehauchte Bruderkonflikt. Oder einige arg gewollte Wendungen, wie z. B. "Gunthard" als Vorname des Bruders, womit sich dessen spätere Gesinnung schon früh zeigt. Auch das besonders im Mittelteil additiv-betuliche Erzählen der einzelnen Lebensstationen ist zuweilen leicht monoton. Am Ende erscheint die Apostrophierung "Glückskind mit Vater" fast wie ein Hohn, denn Boggosch, der "große Schweiger", ist ein unglücklicher Mensch, der sich dessen ungeachtet zum Überleben verpflichtet sieht: "Man..muß…leben, mehr nicht", so lautet seine Maxime am Ende, als er sich während eines Rehabilitationsaufenthalts seiner Frau stiekum ein Karzinom entfernen lässt. Der Journalistin konnte er noch den Strom der Erinnerungen verweigern – sich selber nicht: Die "Erinnerungen überfielen mich ankündigungslos". Aber der "Schatz der Erinnerungen", wie es einmal heißt, erweist sich als ein Abgrund des Scheiterns. Die Hoffnung auf eine heilende Kraft des Erzählens, der Balsam der Literatur, stellt sich nicht ein. Es gibt keinen Trost. Und in Vergegenwärtigung dieser erschütternden Bilanz legt man bei Konstantin Boggoschs Geschichte (die Hein ausdrücklich als "authentisch" bezeichnet) plötzlich den literarischen Kriterienkatalog ab. Und so enervierend einem dann der zuweilen moralische Rigorismus der Hauptfigur erscheint (die Geschichte mit dem Erbe!), so sehr ist man plötzlich bereit, sich von ihrer Trost- und Gnadenlosigkeit ergreifen, womöglich sogar erschüttern zu lassen. Und erst dann geht dem Leser die Türe zu diesem Buch auf und erst dann gelingt es, den oft genug argwöhnisch beäugten Weltschmerz zu verzeihen. Und dann zeigt, ja: offenbart sich der hypersensible Kern eines Menschen, der auf sein Leben nur schicksalhaft und mit Schande zurückblicken kann.

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Artikel online seit 10.03.16
 

Christoph Hein
Glückskind mit Vater
Roman
Suhrkamp
Gebunden, 527 Seiten
22,95 €
978-3-518-42517-6

Leseprobe

 


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