Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Eine treffsichere und notwendige Ohrfeige

Abbas Khiders Roman »Ohrfeige« ist ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit.

Von Jörn Birkholz

Ein junger Mann sitzt in einem Büro der Ausländerbehörde vor seiner gefesselten und geknebelten Sachbearbeiterin, die er zuvor geohrfeigt hat. Auf diese Weise zwingt er sie, sich seine Geschichte anzuhören – auf Arabisch. »Es ist natürlich Quatsch jetzt mit ihr arabisch zu sprechen, aber was soll´s. Auch wenn arabisch ihre Muttersprache wäre, würde sie mich nicht verstehen.«  

So startet Abbas Khiders Roman »Ohrfeige«, erschienen im Hanser Verlag. Khider, 2013 mit dem Nelly-Sachs-Preis geehrt, beschreibt in seinem vierten Buch die Fluchtgeschichte des Irakers Karim Mensy, der sich im Jahr 2000 nach fünfwöchiger Reise über Istanbul, Athen, Patras, Venedig, Rom, Bozen in dem Glauben, in Frankreich angekommen zu sein, in der bayrischen Provinz wiederfindet – zunächst in Dachau. »Heute bin ich heilfroh, dass ich bis zu meiner Ankunft in Deutschland noch nie etwas von Dachau gehört habe. Wenn ich von dem dortigen Konzentrationslager aus der Nazizeit gewusst hätte, dann wäre an jenem Tag bestimmt mein Herz stehen geblieben (…) Der Unrasierte zeigte auf meine Unterhose. »Ausziehen!«, befahl er, trat einen bedrohlichen Schritt auf mich zu und schaute mir streng in die Augen. Ich gehorchte und streifte die Unterhose ab. Alles wurde erforscht. Sogar meine Eier. Zum ersten Mal in meinem Leben schob jemand seinen Finger in meinen Arsch.«

Karim beantragt Asyl. Sein Freund Salim rät ihm den Grund – Fahnenflucht - zu verheimlichen, da sein Antrag sonst abgeschmettert werden würde. »Fahnenflucht ist kein ausreichender Grund, hier Zuflucht zu suchen. Andernfalls würden alle, die nicht in die Armee wollen oder die getürmt sind, Asyl erhalten.«
So tischt Karim dem Richter die Geschichte seines irakischen Mitschülers als seine auf, der im Unterricht Saddam Hussein beleidigt hatte und der darauf verhaftet wurde. Doch der wahre Grund für seine Fahnenflucht liegt ganz woanders: Karim floh vor dem Wehrdienst aus Angst vor Schikanen, Quälereien und Missbrauch aufgrund von Gynäkomastie, einer Vergrößerung der Brustdrüsen, unter der er seit der Pubertät leidet, und die er in Frankreich behandeln lassen wollte. »Vermutlich wäre mir nie im Leben der Gedanke gekommen, mein Land zu verlassen, wenn diese elenden Brüste nicht aufgetaucht wären (…) In Bagdad fürchtete ich sogar, von den Jungs meines Viertels vergewaltigt zu werden, wenn sie erfuhren, dass ich zur Hälfte eine Frau war.«

Der 1996, nach vier Jahren Haft (aufgrund politischer Aktivitäten) selbst aus dem Irak geflohene Abbas Khider, damals dreiundzwanzigjährig, beschreibt eindringlich, unprätentiös, zuweilen auch mit trockenem Humor, (»Christen und Muslime stehen sich tolerant gegenüber – jedenfalls beim Pinkeln.«) die Geschichte dieser Flucht und den sich daran anschließenden unfreiwilligen knapp dreieinhalbjährigen Aufenthalt in Deutschland - davon die meiste Zeit ohne gültige Erlaubnis, aufgrund des Widerrufs seines Asylantrages. Karim ist in Bayern Behördenwillkür, stumpfen Vorurteilen, Rassismus, Diskriminierungen und Demütigungen ausgesetzt. Später dann folgt die Angst vor der Entdeckung durch die Polizei. Er versucht als Illegaler möglichst legal zu wirken, sprich, unauffällig bis unsichtbar zu sein. Dieser frustrierende Zustand wird von Khider eindrucksvoll skizziert:

»Die Tarnung als Lesender hat schon an vielen Bahnhöfen funktioniert. Normalerweise beachten mich die Polizisten dann nicht. Offensichtlich denken sie, dass ein Illegaler aus einem dieser unterentwickelten Länder sicher nicht lesen kann. Mit der Süddeutschen Zeitung in der Hand, trägt man als Illegaler in Bayern gewissermaßen Tarnfarben (…) Solange man den Schein wahrt und den Erwartungen der Menschen entspricht, ist man in München absolut sicher (…) Prinzipiell sollten Ausländer die Züge der Deutschen Bahn meiden. Nur die erste Klasse im ICE ist eine sichere Lösung. Dort lassen sich die Polizisten selten blicken. Leider sind diese Plätze unendlich teuer. Genauso wie ein passendes Hemd von Hugo Boss als Verkleidung.«

Aber genauso wie Karim in der »Ohrfeige« mit dem unmenschlichen kühlem und bürokratischen deutschem Behördenapparat abrechnet, geht er auch mit den Kulturvereinen hart ins Gericht und hinterfragt offen deren Sinn und Zweck:
»Keiner dieser Kulturvereine betreibt tatsächlich Kultur. Bestenfalls kann man so einen Verein als eine Art Café oder Klub betrachten, wo man Tee trinkt, Wasserpfeife raucht und Domino, Karten oder Backgammon spielt. Es wird behauptet, dass die Besitzer dieser Teehäuser und Kartenklubs Vereine gründeten, um dadurch Steuervorteile zu erzielen. Kulturvereine, die keine sind. Kulturvereine ohne Bücher, Zeitschriften und Zeitungen. Weder Lesungen noch andere Veranstaltungen werden dort angeboten. Da hocken ein paar Männer zusammen, deren lautstarke nervöse Reden sich anhören wie die Alarmrufe von Soldaten an der Front.« 

Khider beschreibt das trostlose und stumpfsinnige Dahinvegetieren im Asylantenheim, sowie das zermürbende Warten auf den Ablehnungsbescheid oder die ersehnte Aufenthaltserlaubnis überaus anschaulich. Dabei dürften wohl auch eigene Erfahrungen mit eingeflossen sein. Grandios skizziert er neben den immer wiederkehrenden Schikanen die Eintönigkeit im Alltagsleben der dort wild zusammengewürfelten Menschen, wo Kontakte zu Deutschen, abgesehen von den oft mürrischen und distanzierten Aufsehern, nicht existieren. Oft ist dieser Kontakt auf den Blick durch den Zaun beschränkt. Und diese Deutschen erwecken bei Karim nur den Eindruck von »Fabelwesen aus einem fernen Märchenland (…) Hellhäutige Menschen aller Art, vermummt in dicke, warme und schöne Kleidung, die sehr gepflegt aussahen. Saubere Kinder, hübsche Mütter, stolze Väter.«
 

Fazit: Lesenswert und präzise geschrieben, mit einer frischen Prise Galgenhumor. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit, in der Menschen aus den verschiedensten Gründen auf die Straßen stürmen um an fragwürdigen Demonstrationen teilzunehmen, während Handgranaten auf Flüchtlingsheime geworfen werden. Dieser Roman wäre zudem ein passender Geschenktipp, oder besser eine Zwangslektüre für Sachbearbeiter in Deutschlands Ausländerbehörden, die es dann an die Arbeitsagenturen weiter reichen könnten, wo Menschen auch nur Nummern sind und keine Lobby haben.

Artikel online seit 01.02.16
 

Abbas Khider
Ohrfeige
Hanser Verlag
224 Seiten
Fester Einband
19,90
ISBN 978-3-446-25054-3
ePUB-Format
15,99
ISBN 978-3-446-25190-8

Leseprobe


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten