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Literatur und Zeitkritik


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Vom Simplicissimus zu Peter Alexander

Daniel Kehlmann schlägt in seinen Frankfurter
Poetikvorlesungen einen weiten Bogen.

Von Isabella Caldart




 

Wer spricht, wenn der Erzähler eines Romans oder Gedichtes »Ich« sagt? Natürlich der Schriftsteller selbst, befindet Daniel Kehlmann, und wirft damit sämtliche Literaturtheorien, die den Autor eines Textes als irrelevant ansehen (man denke nur an Roland Barthes), über Bord.

In seinen Poetikvorlesungen, die Kehlmann im Juni vergangenen Jahres an der Goethe-Universität in Frankfurt hielt, verliert der Schriftsteller kein Wort über seine Werke und spricht im Subtext doch über nichts anderes. So wie für ihn Romane, die aus der ersten Person geschildert sind, sehr wohl etwas über den Verfasser des Textes offenbaren, so befindet er Tagebuchaufzeichnungen als die »am wenigsten private literarische Form«. Kehlmann bezieht sich dabei auf Ingeborg Bachmann, die 55 Jahre vor ihm die erste Poetikdozentur Frankfurts innehatte und die den Spieß einfach umdrehte: »Am unverhülltesten spreche von sich, wer von ganz anderem zu sprechen scheint.« Also macht Kehlmann genau das: Er spricht über alles, über seine literarischen Helden – ohne sie als solche zu bezeichnen –, über die Auschwitzprozesse und über die Macht von Prophezeiungen, und bereitet somit dem gewillten Mitdenker eine Interpretationshilfe seiner Romane. Der junge Daniel Kehlmann beweist eine profunde Kenntnis der Literaturgeschichte, nicht nur die europäische, sondern auch die lateinamerikanische Literatur hat er gelesen und analysiert.

»Kommt, Geister« hat er seine fünfteilige Vortragsreihe genannt, und um Geister jeder Art geht es: Natürlich um die, wenn man so will, metaphysischen Geister wie beispielweise die Schicksalsschwestern aus Macbeth, aber auch um die Albträume, die Kehlmann als kleinen Jungen nach der Lektüre einer Novelle des Schweizers Jeremias Gotthelf verfolgten, um die persönlichen Geister eines jeden Menschen und um die Geister der Nachkriegszeit, die auch in den Schmonzetten von Peter Alexander ungewollt mitklingen. Klug und mit ironischem Unterton verflicht Kehlmann Pop- mit Hochkultur und spart dabei nicht mit Kritik an der Gesellschaft der Nachkriegszeit.

Besonders das erste Essay mit dem Titel »Illyrien«, in dem Kehlmann das Jahr 1959 als Aufhänger nimmt, hat es in sich. In diesem Jahr hält Ingeborg Bachmann ihre Poetikdozentur, aus der Kehlmann zitiert, Fritz Bauer initiiert die Ausschwitzprozesse und Peter Alexander, der österreichische Entertainer mit dem immerwährenden, psychopathisch anmutenden Grinsen, bringt gleich drei Filme auf den Markt. Rhetorisch brillant verknüpft Kehlmann, der übrigens erst 16 Jahre später das Licht der Welt erblickte, die drei Ereignisse und bindet in weiteren Kapiteln auch Shakespeare und Tolkien und später die Werke von Leo Perutz in seine Auseinandersetzung mit ein, die ihn, wie er zugibt, maßgeblich beeinflussten.

Einzig die vierte der fünf Vorlesungen enttäuscht ein wenig. Ausführlich beschreibt der Schriftsteller darin die Handlung des Simplicissimus‘ und die Biographie Grimmelshausens. Kehlmann ist ein virtuoser Erzähler und auch dieses Essay vermag problemlos seine Leser zu fesseln. Im Vergleich zu den intelligenten Sprüngen zwischen Epochen und Disziplinen der anderen vier Essays aber gleicht es zu sehr einer Nacherzählung.

Davon abgesehen weiß »Kommt, Geister« zu überzeugen. Gewiss, Kehlmann bedient damit eine Nische und wird mit seinen komplexen Essays vermutlich nicht die Bestsellerlisten stürmen. Trotzdem lohnt sich die Lektüre sowohl für Literaturexperten als auch für jene, die neue Anregungen bekommen möchten – und natürlich für die Fans von Daniel Kehlmanns Romanen, der in seinen Essays zwar nie über sich, dadurch aber im Bachmannschen Sinne nur von sich selbst spricht.

Artikel online seit 10.03.15
 

Daniel Kehlmann
Kommt, Geister
Rowohlt, 2015
174 Seiten
19,95 €

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