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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Vom Krieg besudelt«

Jan Koneffkes Roman »Ein Sonntagskind«

Von Lothar Struck

 

In seinem Buch "Die Flakhelfer" versuchte der Publizist Malte Herwig nicht nur die Verstrickungen der Generation der um 1927 geborenen in den Nationalsozialismus zu dokumentieren und aufzubereiten, sondern auch zu verstehen. Es war die Generation, die "ihre Jugend im 'Dritten Reich' verbracht" hatte, eine, wie es in Heinz Reins Roman "Finale Berlin" aus dem Jahr 1947 heißt, "verlorene, verlassene, verratene Jugend". Aber nicht wenige dieser Generation waren "nach dem Krieg zu prominenten Intellektuellen und Wortführern der jungen Bundesrepublik aufgestiegen" (Herwig). Die Liste der Namen ist eindrucksvoll: Von Günter Grass bis Martin Walser, von Erhard Eppler über Dieter Hildebrandt, Hans-Dietrich Genscher, Niklas Luhmann, Erich Loest, Walter Jens bis Hans Werner Henze. Ihnen gemein ist ein Makel: Sie sind ausgewiesen als Mitglieder der NSDAP. Grass bildet eine Ausnahme, er gehörte einer Wehrmachteinheit der Waffen-SS an. Herwig klagt in seinem Buch nicht die Verwirrungen der 17, 18, 19jährigen an, die jahrelang indoktriniert wurden. Aber er fragt, wie es dazu kommen konnte, dass diese Vorbilder der neuen, deutschen Demokratie ihre Jugendsünden bis auf wenige Ausnahmen nicht eingestanden sondern verheimlicht oder sogar "vergessen" (vulgo: erfolgreich verdrängt) haben.

Mit "Ein Sonntagskind" legt nun der 1961 geborene Schriftsteller Jan Koneffke einen Roman vor, der diese Problematik ein wenig erhellen könnte. Hauptfigur ist der um 1927 geborene Konrad Alfred Kannmacher. Der Name Kannmacher ist Koneffke-Lesern schon aus seinem letzten Roman "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" bekannt. Felix kommt nur ganz am Rande im "Sonntagskind" vor; er ist der Bruder von Konrads Vater Ludwig. Konrad wächst in dem fiktiven Ort Freiwalde in Pommern auf (gemeint ist wohl das ehemalige Freienwalde, das heutige Chociwel). Das Nazitum ist tief eingesickert in dem Ort. Nur Konrads Vater Ludwig Kannmacher, der "langweilige" Buchhalter, spielt nicht mit. Er arbeitet in einer "jüdischen" Bank, was schnell zu entsprechenden Diffamierungen führt. Mutter Emilie ist eher unscheinbar, kümmert sich um den vergötterten Sohn, das "Sonntagskind" Konrad und dessen jüngere Schwester Helene. Konrad bildet mit den gleichaltrigen Hartmut und Erwin das sogenannte "Kleeblatt". Sie sind unzertrennliche Raubeine, die auch in "Katz und Maus" hätten mitspielen können. Ohne die Spickzettel Hartmuts wäre Konrad im Mathematik-Unterricht verloren gewesen. Konrad bewundert Hartmuts nachlässig-machohaften Umgang mit Mädchen und Frauen.

Unterdessen drängt Ludwig Kannmacher seinen Chef Deutschland zu verlassen und ermöglicht dessen geordnete Emigration im fast letzten Augenblick. Dafür wird er sechs Monate in einem Gestapo-Kerker inhaftiert. Konrad verabscheut das Verhalten des Vaters und obwohl erst 14 will er der SS beitreten, was der Vater mit einem geschickten Schachzug verhindert, indem er Konrad als Reserveoffiziersbewerber in der Wehrmacht vormerken lässt. So wird zunächst die Schule fortgesetzt.

Alfredo im Blutrausch

Aber die Jugend endet früh. Das "Kleeblatt" wird vor dem Abitur eingezogen; Konrad erhält sogar eine Nahkampfausbildung. Als Freiwillige für ein besonderes Kommando gesucht werden, meldet er sich zunächst als einziger. Schließlich springt ihm noch Hartmut bei; insgesamt sind sie neun "Freiwillige". Wie erwartet erweist sich der Auftrag als Himmelfahrtskommando, das jedoch wider Erwarten gelingt. Das wird ausgiebig gefeiert, unter anderem mit vom Krieg physisch und psychisch gezeichneten Offizieren, deren hohles Pathos Konrad, der nur Alfred bzw. Alfredo nach seinem zweiten Vornamen genannt wird, sehr früh bemerkt und – als glühender Anhänger des Systems - missbilligt. Er entwickelt ein Gefühl zwischen Größenwahn und Kühnheit. Seine Unsicherheit und Angst zeigt sich darin, dass er vor schwierigen Aufgaben und Operationen immer von überfallartigen, nicht kontrollierbaren Durchfällen gepeinigt wird.

Bei der nächsten Aktion kommt es zur Katastrophe. Hartmut, der vorher mit Todesahnungen in das Kommando ging, wird schwer verwundet. Um nicht selber gefangen oder gar erschossen zu werden, muss Konrad den sterbenden Hartmut zurücklassen. Dieses Verlassen des besten Freundes wird er sich nie mehr verzeihen können. Umso aggressiver schießt er sich den Rückweg frei. Er "raste vor Hass" und tötet zum ersten Mal, indem er einen vermutlich gleichaltrigen polnischen Jungen erschießt. Das Gesicht dieses Jungen in der Sekunde vor dem Schuss wird er ebenfalls nicht mehr loswerden. Aber Konrad kommt durch und wird als Held gefeiert. Schon beginnen die ausweichenden Antworten was das Schicksal Hartmuts angeht, die Lügen. Er verfasst heroische Briefe nach Hause, teilt Hartmuts Tod nur als Fußnote wie ein Außenstehender mit. Im Brief an Hartmuts Eltern lügt er vom schmerzlosen und heldenhaften Tod seines Freundes, verschweigt dessen Qualen und sein Verlassen.

In den immer sinnloseren Einsätzen gerät Konrad in einen Blutrausch. Das Töten wird zur Normalität; nicht ohne "Erfolg": Er bekommt das EK1. Immer wieder gibt es Feiern in der Einheit mit "Blitzmädeln", die jedem Soldaten gegenüber willig sind, besonders jedoch den Offizieren. Konrad lernt Marie kennen, eine an Fassbinders Maria Braun erinnernde Figur, die vorher die Freundin von Hartmut gewesen war. Sie prostituiert sich den Offizieren für eine Handvoll Lebensmittel um sich und ihren kranken Vater zu versorgen. Von der Spezialtruppe bleiben am Ende nur zwei übrig – Konrad und Sische. Ende April 1945 hat Konrad Wachdienst und bemerkt eine Gestalt, die das Militärlager in der Nacht verlässt. Er erkennt in dem Fliehenden Sische, mit dem er mehrere gefährliche Aufgaben bewältigt und kurz zuvor noch gefeiert hatte. Wie im Traum erzählt der personale Erzähler Koneffkes von Konrads Denunziation, dem Ausschwärmen nach dem "Fahnenflüchtling", der schließlich gefunden und hingerichtet wird. Die Traumerzählung von dieser sinnlosen Treue ist einer der eindringlichsten in diesem Buch. Die Verdrängung Konrads, des "korrekten Soldaten", setzt bereits unmittelbar ein. Aber sie gelingt nicht, die Ereignisse bleiben lebenslang wie eine offene, stetig nässende Wunde.

Kant und die RAF

Konrad ist 18, "aber "steinalt", wird bei seinem letzten Einsatz verwundet und kommt in britische Gefangenschaft, die er nach seiner Gesundung mit falschen Papieren in einem "Taumel aus Zuversicht, Unsicherheit und Beklemmung" verlässt. In Schleswig Holstein findet er seine Eltern, die aus Pommern geflohen waren. Nach einiger Apathie legt er das Blitz-Abitur ab und wird Dorflehrer. Daneben beschäftigt er sich autodidaktisch mit Immanuel Kant, dessen Kategorischen Imperativ und der Schrift "Zum ewigen Frieden" was ihn an seinen Großvater erinnert, der Kant vergöttert hatte. Schließlich schickt Konrad einen Aufsatz an die Kant-Gesellschaft, der zu seiner Überraschung abgedruckt wird. Er wird sogar zu einem Vortrag nach Heidelberg eingeladen. Dort begegnet er Moosbach, der den Kant-Enthusiasten von nun an fördert und sogar in den Frankfurter Universitätsbetrieb als seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter unterbringt; die universitäre Karriere beginnt.

Immer wieder wird Konrad in Flashbacks und Träumen von den Kriegserlebnissen und seinen Taten heimgesucht. Die Gegenwelt hierzu wird in einem "Geschichtenheft" festgehalten. Es sind magisch-realistische Kindheits- und Jugenderzählungen beispielsweise von einem Seelensammler, der die Beschaulichkeit des Dorfes durcheinanderbringt, einer Meerjungfrau, die geschändet wird oder der Landung auf dem Mond, die von Freiwalde aus Ruhm und Ehre für die nationalsozialistische Sache bringt. Merkwürdig zwischen Phantasie und Wahnsinn oszillierende Geschichten, die einem in ihrer kindlichen Naivität ob der plumpen Affirmation des Nazitums zuweilen den Atem stocken lassen. Es wird angedeutet, dass sie aus Konrads Jugendzeit stammen. Sie erscheinen an sechs Stellen und durchbrechen jeweils die Chronologie des Erzählstroms.

Währenddessen erfindet Konrad für die Außendarstellung und die Beantwortung von zuweilen insistierenden Fragen Distanzierungsstrategien, die so weit gehen, dass er von einem gewissen Alfred oder Alfredo erzählt, von dem er, Konrad, gehört habe. Er spaltet sich in den unwissenden und harmlosen Mannschaftssoldaten Konrad und den blutrünstig-fanatisierten EK1-"Helden" Alfred auf, der zu einem anderen wird. Ein Verhalten, dass zu äußerster Disziplin zwingt: Er ist ständig auf der Hut, muss lügen und sich seine Lügen merken, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln.

Die Figur des Konrad Kannmacher gehört zwar der sogenannten Flakhelfer-Generation an, aber er hat mehr als nur einen Mitgliedsausweis unterschrieben. Er hat auf der falschen Seite für die falsche Sache gekämpft. "Wiedergutmachungsanteil" heißt die Währung, die jeder, der dies mitgemacht hat, für sich selber prägen und leben muss. Gleichzeitig erkennt Konrad: Zuviele Mitläufer und Ex-Nazis an entscheidenden Stellen der Bundesrepublik; die DDR erscheint ihm legitim wie auch begrenzte bewaffnete Gewalt. Er empfindet heimliche Sympathien für die RAF. Als ein ehemaliger Student, der inzwischen als Unterstützer der Terroristen polizeilich gesucht wird, eine Unterkunft für sich und seine Bekannte sucht, bietet er ihnen ein Quartier an. Zweifel werden mit dem Verweis auf den verehrten Vater zerstreut. Konrad will hierdurch dessen moralische Haltung wiederholen. Das RAF-Mitglied wird für ihn zum verfolgten jüdischen Bankier, dem der Vater zur Flucht vor verholfen hatte. Der Widerstand gegen die Nazis wird gleich gesetzt mit dem Widerstand gegen die Bundesrepublik. Als die Wohnung durch einen Zufall entdeckt wird, fliehen die beiden, sich mordend ihren Weg freischießend.

Exemplarisch zeigt sich an dieser eigentlich starken Szene, dass Koneffke zuweilen den Fehler begeht, nicht nur zu erzählen, sondern auch noch Begründungen für die Handlungen seiner Figuren zu liefern. Als bekannt wird, welche Straftaten und Morde der Student mit seiner Gefährtin anrichtet (bei einer blutigen Verfolgungsjagd stirbt er), wiederholt Koneffke Konrads Motivation als das Eingeständnis eines Fehlers. Dabei hätte es nicht ausgiebiger Reflexionen gebraucht, um Konrads Einsicht darzustellen. Immer kommt es in diesem Roman zu solchen Redundanzen, in denen der personale Erzähler dem Leser sozusagen in die Erkenntnis fällt.

Der Sohn erzählt weiter

Auf einer Italien-Reise mit Konrad stirbt Moosbach. Beide sind im gleichen Zimmer aber Konrad entdeckt den stillen Tod seines Mentors erst am nächsten Tag. Auch hier nimmt er bereitwillig die Vorwürfe auf, sich nicht ausgiebig genug um den gesundheitlich angeschlagenen Moosbach gekümmert zu haben. Wieder ein Vorwurf, der nahezu lustvoll als Schuld aufgesaugt wird. Konrad entwickelt einen "Verlassenheitsschock" und rekapituliert, dass er selbst diesem Mann gegenüber, dem er alles zu verdanken hatte, niemals ehrlich war. Am Ende erzählt der 1961 geborene Lukas auf den letzten 30 Seiten eher hastig die Einsamkeit Konrads im Alter und seinen Tod.

Lukas entdeckt Dokumente über seinen Vater, die einen ganz anderen Mann zeigen als den, den er zu kennen glaubte. Zum einen hätte man gerne gewusst, welchen Vater den Lukas gekannt hat – das bleibt jedoch im Diffusen. Zum anderen ist nicht ganz schlüssig, wie sich diese Dokumente plötzlich finden. Wenn denn eine ehemalige Liebhaberin Konrads in einem Autodafé etliches vernichtet hatte – wo kommen diese jetzt her? Man erinnert sich an die Stasi-Episode (auch das bleibt einem nicht erspart), in der Konrad mit Dokumenten erpresst wurde, die seine Taten in der Wehrmacht dokumentierten (womöglich basierend auf einem persönlichen Brief an seine ehemalige Geliebte Annegret, einer Ärztin aus Rostock, der er in den 50er Jahren sein Herz ausschüttete). Auch bleibt nicht ganz klar, was Lukas an seinem Vater entdeckt, zumal der Leser informierter ist als Lukas.

Bedauerlich ist, dass der Roman manchmal vor lauter Handlung nicht zur Ruhe kommt. Zum Beispiel die vielen Frauenaffären Konrads mit Marie, der Freundin Hartmuts, angefangen über Annegret, der Krankenschwester in britischer Gefangenschaft, schließlich jene Affäre mit einer frühreif-forschen minderjährigen Schülerin als er Dorflehrer war, später seinen zwei Ehefrauen, denen er auch niemals treu ist bis zur später psychisch desolaten Rose. Irgendwann möchte der Leser Koneffke zurufen "Ich habe verstanden", ja, Konrad ist jemand, dem sich die Frauen willig und schnell "auf den Schoss" setzen. Glücklich werden sie mit ihm und er mit ihnen nicht, was auch für den Leser gilt. Lediglich die quirlige Jette, seine zweite Frau, die mit 40 Abitur und 60 den Doktor macht, ist eine interessante, weil komplexe Persönlichkeit. Ansonsten sind die Liebschaften allzu oft nur Staffage; so scheint die lange Zeit heftig lodernde Liebe zu Marie abrupt erloschen zu sein und wird nie mehr erwähnt.

Fast überflüssig wie plötzlich Felix Kannmacher, der Bruder von Konrads Vater, als Konrads Erzeuger ins Spiel gebracht wird – und dies, weil sich Konrad nicht erklären kann, warum seine Mutter immer so schweigsam war und sich ihrem Mann willig unterordnete. Unwichtiges bekommt breiten erzählerischen Raum, andere Personen wie die Söhne Ludwig und Lukas tauchen plötzlich auf, verschwinden wieder und dann erzählt Lukas unvermittelt das Ende.

Dennoch gelingt es dem Roman durchaus, die Traumatisierung der Generation und die Scham über das allzu willige Mitläufertum, dieses lebenslange Stigma des Krieges, das sich eintätowiert hat in die Seele seines Protagonisten, exemplarisch aufzuzeigen. Ich gestehe, dass ich für Konrad Kannmacher zwar in gewissen Grenzen Mitleid, aber kaum Sympathie empfunden habe. Er ist mit der politischen Bundesrepublik im Gegensatz zu vielen seiner Generation auch nicht einverstanden. Seine politische Ambition ist akademischer und hochtheoretischer Natur. Mit so etwas wie Realpolitik "beschmutzt" er sich nicht einmal in der Theorie. In seiner heimlichen Verachtung für die "geschichts- und kulturlos[e]" USA bleibt er dem linken Mainstream der 60er Jahre treu. Pointiert formuliert ist Kannmacher intellektuell eine Null.

Aber es geschieht in diesem Roman trotz der genannten Schwächen etwas, was mehr ist als billige Sympathie für eine Figur: Es ist so etwas wie ein Verstehen (was nicht mit Verständnis gleichzusetzen ist), was in dieser Generation passiert ist bzw. hat passieren können. Und dass die Lügengespinste, die Lebenslügen, mit der Zeit feste Mauern bekommen mussten, erscheint deutlicher als vorher, ohne dass dies voreilig entschuldigt oder gar gebilligt wird. Als man sich hätte mit der Wahrheit öffnen können, stand die 68er Revolte im Weg, die, das zeigt Koneffke sehr gut, mit jakobinischem Rigorismus die Vätergeneration befragte. Und später hätte das (akademische, publizistische) Ansehen derart Schaden genommen, dass das Verschweigen fast notwendig als Überlebensstrategie gesehen wurde.

Die 1927er galten lange ob ihres Alters als "unverdächtig" das Nazi-Regime unterstützt zu haben. Aber ihre gesamte Sozialisation fand in dieser Zeit statt; alle Institutionen waren infiltriert vom nazistischen Ungeist. Es ist die einzige Generation gewesen, die nicht irgendwann schwelgerisch oder auftrumpfend von ihrer Jugend hat erzählen können. Daher wirken die sechs Erzählungen aus dem "Geschichtenheft" so bemüht: Sie erzeugen Idyllen, die in Wirklichkeit verseucht waren. Für diese Generation gab es kein "Früher war alles besser" als Reminiszenz. Und wenn, dann nur als Lüge. Die Fotografien aus der Zeit waren Bilder in Uniformen, von der HJ angefangen. Man konnte nicht prahlen mit seinen Erlebnissen – sie waren zu schrecklich. Nach außen galt man als unbelastet, was man gerne als Grundvoraussetzung für den eigenen moralischen Anspruch an die Älteren setzte.

»Dreh dich nicht um«

Einige werden "Ein Sonntagskind" vielleicht auch als einen Schlüsselroman lesen. Moosbach hat unverkennbar Züge von Wolfgang Abendroth. Auch Jürgen Habermas ist sehr leicht erkennbar. Wenn man sich Mühe gibt, andere womöglich auch. Aber das "Who-is-Who"-Suchen ist meist langweilig, eine subtile Jagd für gelangweilte Journalisten. Auch die Frage, inwieweit Lukas Ähnlichkeiten mit dem Autor trägt, ist sekundär. Sprachlich bleibt Koneffkes Roman eher unspektakulär, eher an Heinrich Böll als an Joseph W. Janker, diesen "Kriegsverfangenen" (Peter Handke), erinnernd. Dies ist jedoch in Anbetracht des Edelkitsches von Ralf Rothmanns "Im Frühling sterben" fast wohltuend.

Es gibt eine Schlüsselstelle im Buch als sich Konrad von seiner Mutter 1944 in den Krieg verabschiedet. Es war eine Art Familienmotto, niemals zurückzuschauen. Er ist nun schon ein Stück weit gegangen "und als Konrad den Holzzaun zum Bahnsteig erreicht hatte, konnte er nicht widerstehen und drehte sich um. Er starrte zum Gartentor mit seinem Rundbogen, den Vater mit englischen Rosen bepflanzt hatte, die in der kraftlosen Herbstsonne leuchteten […] er starrte benommen und niedergeschlagen zum Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, und das schlagartig klein wirkte, schlicht und verkommen […]" Die Jugend ist zu Ende, und "zum Schluß hatte sich Mutters Warnung bewahrheitet: Er konnte nie wieder nach Hause kommen." Konrad erkennt in einem epiphanischen Moment, dass seine Heimat Pommern verloren sein wird. Dieses "Dreh dich nicht um" der Mutter ist der Sinnspruch, der sich immer wieder stellen wird. Konrad kann aber nicht anders, als sich in seinem weiteren Leben immer wieder umzudrehen, ein Leben, dass "vom Krieg besudelt" war. Hier liegt der Konflikt zwischen der (protestantischen) Bußfertigkeit und dem (katholischen) Pragmatismus. Ein Konflikt, den die Bundesrepublik der Nachkriegszeit immer wieder ausgesetzt war, ein Konflikt den Böll, der Katholik, nur schwer aushielt.

Koneffke zeigt, warum diese Generation vielleicht gar nicht anders konnte, als sich mit Lügen schützend einzuschließen (und dies dann als eine Art zweiten Verrat empfand). Einerseits. Anderseits lenkt er den Leser mit zu vielen überbordenden, am Ende eher relevanzlosen Beschreibungen von Personen oder Ereignissen ab. Die Disparität dieses Buches ist deutlich – in der Mitte des Romans steckt dieser noch in der Wiederbewaffnungsdebatte. Danach beginnt Koneffke dann mit Zeitsprüngen zu agieren, als musste das Ende herbeigeschrieben werden. Historische Ereignisse werden aus der persönlichen Lebenssituation des Protagonisten geschildert. Was in Kannmacher beispielsweise 1989/90 vorgeht, bleibt unklar. Schade. Denn trotz der Einwände gestehe ich, dass ich auch gerne noch 200 Seiten mehr gelesen über diesen Konrad Kannmacher hätte.


Artikel online seit 17.08.15
 

Jan Koneffke
Ein Sonntagskind
Roman
Verlag Galiani Berlin
582 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
Euro 24,99
978-3-86971-107-2

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