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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Heimholung des »Exterritorialen«

Jörg Späters einlässliche & ausgreifende Biographie von Siegfried Kracauer

Von Wolfram Schütte

 

Der Historiker Jörg Später fragt sich eingangs seiner »sozialen Biographie« des 1889 in Frankfurt am Main geborenen & 1966 in New York gestorbenen Siegfried Kracauer, warum bislang keine Biographie über ihn geschrieben worden sei, obwohl doch Kracauers »Lebensgeschichte so faszinierend und eindrücklich (ist)«.

Der in Kracauers Todesjahr geborene späte Biograf glaubt die Antwort in der geistigen Vielseitigkeit seines Helden gefunden zu haben, der während seines intellektuellen Lebens jedoch keiner wissenschaftlichen Disziplin ausschließlich angehörte & »sozusagen durch das Zuständigkeitsraster« der Biografen gefallen sei. Siegfried Kracauer, aus kleinbürgerlichem jüdischem Elternhaus stammend, war promovierter Architekt, einflussreicher Kulturjournalist, innovativer Filmkritiker,-historiker,-ästhetiker, Soziologe, Philosoph & Erzähler gewesen.So richtig Späters Mutmaßung scheint, so treffen doch vermutlich noch andere Gründe zu. Zum einen wird bei uns (anders als in der angelsächsischen Kultur) das literarische Genre der Biographie – so es sich nicht um eine Monographie für ein enges Fachpublikum handelt – heute scheel angesehen. Sie ist eher bei Sportlern & »Medienstars« leichtgewichtig an der Tagesordnung & damit erst recht für Intellektuelle in Verruf geraten. Schließlich musste selbst ein Adorno ja erst 100.Geburtstag haben, damit er biographiewürdig wurde!

Zum anderen galten Kracauers Pioniertätigkeit als Filmkritiker der links-liberalen »Frankfurter Zeitung« ebenso wie seine filmhistorische Untersuchung »Von Caligari zu Hitler« & seine »Theorie des Films« einem kulturellen Bereich & Gegenstand, der trotz speziell Kracauers Leistungen im deutschen Kulturbetrieb immer noch nicht selbstverständlich als »die Siebte Kunst« anerkannt ist wie z.B. in den romanischen Ländern. Und schließlich erfuhr Siegfried Kracauer mit seinem deutschsprachigen Oeuvre & seinen englisch geschriebenen Arbeiten erst später als seine von ihm in der Frankfurter Zeitung« geförderten Freunde Walter Benjamin, Ernst Bloch & Theodor W. Adorno eine kontinuierliche, sukzessive Neuedition im während der Bundesrepublik tonangebenden Suhrkamp-Verlag. Dort liegt erst seit 2004 eine 9bändige Ausgabe seiner »Gesammelte Werke« vor. Der frühe & engste Freund »Teddie« hatte erst Anfang der Sechziger Jahre Siegfried Unseld auf  die verschütteten literarischen Schätze »Friedels« hingewiesen.

Friedel & Teddie über alle Zeiten

Apropos Spitznamen: während Theodor Wiesengrund-Adorno (TWA) zuerst familiär & dann freundschaftlich nach dem Spitznamen des zu seiner Geburtszeit amtierenden US-Präsidenten Theodore (Teddy) Roosevelt gerufen & genannt wurde, dürfte Siegfried Kracauers vertraulicher familiärer Rufname »Friedel« (sowohl als männlicher wie weiblicher Vorname gebräuchlich) den martialischen Vornamen »Siegfried« bis zu dessen Tilgung ersetzt haben. Deutet womöglich in dieser intimen Wendung sich etwa schon Kracauers lebenslange Intention zum »Exterritorialen« an, die sein jetziger Biograph als Grundströmung seines tätigen Lebens ansieht? Als der 4 Jahre ältere Ernst Bloch in ihrem Verhältnis das »Du« ansteuerte, bot der jüngere nur an, ihn fürderhin »Krac«. zu nennen; »Friedel« wäre für den Ludwigshafener Freund wohl zu intim gewesen?

»Teddie«, der 14 (!) Jahre jüngere Frankfurter Freund, mit dem er sowohl Kant gelesen wie auch Ausflüge machte & Reisen unternahm, war das Entzücken von »Friedel«, der eine (platonischer) Liebe zu dem bewundernswerten Jüngling & frühreifen Genie entwickelte; Adorno würde dann 1941 als Adlatus Max Horkheimers, der das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« frühzeitig nach den USA transferiert hatte) für die »last minute rescue« der mittellosen Siegfried & Lilo Kracauer nach New York sorgen.

Dabei hatte der geistig ebenso strenge wie dominante »Teddie« Kracauers 1937 im Exil geschriebene Jacques-Offenbach-Biographie ebenso radikal  & höhnisch verrissen, wie er Kracauers Aufsatz über Nazipropaganda für die »Zeitschrift für Sozialforschung« so zusammengekürzt & nach eigenem Gusto derart stilistisch umgeschrieben hatte, dass er eher ein eigener Text schien als noch der des empörten & gedemütigten Freundes. Aber es war wiederum »Teddie«, dem »Friedel« zuletzt verdankte, dass man sich seiner überhaupt noch in der BRD erinnerte.

Diese verspätete Rezeption lag daran, dass in Adornos Augen der einstmalige Autor von »Das Ornament der Masse« oder »Die Angestellten« aus den Zwanziger & frühen Dreißiger Jahren schon längst nicht mehr intellektuell auf der Höhe der Zeit, sprich der (hegelianisch-marxistischen) Dialektik der »Frankfurter Schule« war, als deren mitleidlos nur der geistigen Sache verpflichteter  Großmeisterdenker Adorno seit seiner Tätigkeit an der Seite von Max Horkheimer in den USA ab 1938 agierte. »Teddies« dekretierender Kritik hatte sich ja im Pariser Exil auch schon der 11 (!) Jahre ältere Walter Benjamin beugen müssen.

Obwohl Adorno den ersten Freund & Vertrauten aus den frühen Frankfurter Jahren als letztem des einander eng vertrauten deutsch-jüdischen »philosophischen Quartetts« (Jörg Später) in der Weimarer Republik wieder Resonanz im Nachkriegsdeutschland verschaffte, war »Teddie« jedoch nicht so großzügig, mit seiner eigenen kritischen Einschätzung des späten Kracauer hinterm Berg zu halten.

Unwillentlicher »wunderliche Realist«

Entgegen dem inständigen Wunsch des idiosynkratischen Krac., der sein Alter unbedingt verschwiegen haben wollte, schickte der allesvermögende, kulturbetriebliche Überflieger TWA  zu Kracauers 75. Geburtstag 1964 sein eigenwilliges Porträt des »wunderlichen Realisten« aus Frankfurt in die bundesrepublikanische Welt. Er hatte dem New Yorker Freund lange Zeit wahrheitswidrig verweigert, das schulmeisterliche Führungszeugnis einzusehen, mit dem sein Wohltäter Adorno den Älteren auf den von ihm bestimmten (historischen) Platz verwiesen hatte. Der Frankfurter Lehrstuhlinhaber wusste nur zu gut, dass der in New York gebliebene Freiberufler & entgegen TWAs mehrfacher Ermahnung englisch schreibende Kracauer, den er mit der regelmäßigen Zusendung seiner einschüchternden Buch-Produktion eindeckte, gegen diese Be-& Aburteilung protestieren würde. Was dann auch schließlich geschah.

Es sei Adornos Eigenart gewesen – schreibt der Kracauer-Biograph Später –, seine ihm doch geistig nahen Freunde zusammen mit ihrer lobenden Erhebung zugleich auch runter zu machen. Nach Kracauer hat Adorno ähnliche Dissonanzen mit seiner »großen Blochmusik« angestimmt. (Georg Lukacs, dessen »Theorie des Romans« & »Geschichte und Klassenbewusstsein« für jeden des philosophischen Quartetts nachhaltige geistige Erweckungserlebnisse waren, wurde nach dem Erscheinen seiner »Zerstörung der Vernunft« attestiert, diese Kritik des philosophischen Irrationalismus zeuge zu allererst von der Zerstörung seiner Vernunft.)

Die sehr persönliche Beziehung zu dem lebens- & frauenverwöhnten TWA – die über alle Enttäuschungen Friedels als Freundschaft bis zu dessen Lebensende hielt – , ist nur ein heller Leuchtpunkt in der intellektuellen Biographie des von Kindheit & Jugend an leidenden Kracauer. Eine Schönheit wie Teddie war er nicht, auffällig eher durch seine selbst so empfundene Hässlichkeit & sein Stottern (das er erst vollständig mit dem Wechsel ins Englische verloren hat). Frühe antisemitische Demütigungen kamen hinzu – so dass Friedels Kindheit & Jugend unerfreulich war – umso mehr als er die »transzendentale Obdachlosigkeit«, die Lukacs als das mal du siecle des Glaubensverlustes in der Moderne der europäischen Intellektuellen namhaft gemacht hatte, nicht durch die von Frankfurt ausgehende »jüdische Renaissance« überwinden konnte. Auch der (säkularisierte) Messianismus des Ludwigshafener Feuerkopfs Ernst Bloch & des in Frankfurt am Main (vergeblich) um seine Habilitierung kämpfenden Walter Benjamin war dem unglücklichen Kracauer fremd.

Immerhin hatte er den von den Eltern erzwungenen Brotberuf des Architekten aufgegeben & nach seiner universitären  Bekanntschaft mit dem Philosophen & Soziologen Georg Simmel geahnt, wohin er aufbrechen musste: in die umfassende »Erfahrung & Erforschung der Wirklichkeit« – und zwar in jene profan-trivialen Bereiche des gesellschaftlichen Alltags der Massen & ihrer (Vergnügungs-)Medien, die  gewissermaßen unterhalb & jenseits der kulturbürgerlichen Wahrnehmung anzutreffen waren.

Die Nobilitierung des Feuilletonismus

Vom Frankfurter Lokalreporter der kulturellen »faits divers« arbeitete sich der ungemein fleißige, neugierige, scharfsinnige & brillant schreibende Journalist in der angesehenen »Frankfurter Zeitung« zum einflussreichen Feuilletonredakteur hoch. Auch er nahm - im kontinuierlichen Gedankenaustausch mit Bloch, Benjamin, Adorno stehend - an der »Wiedergeburt des Marxismus in der Philosophie«(Später) teil & entwickelte eine analytische  Methode, in der Phänomenologie, Soziologie, Philosophie im kritisch-darstellenden Blick auf Einzelmomente des städtischen Alltag sich verbanden zu »Denkbildern« (Benjamin).

Allerdings wollte Kracauer jedem Phänomen, das er ins Auge fasste, auf die jeweils ihm adäquate Art »anschmiegen«, um ihm erkenntniskritisch »gerecht zu werden«. Er glaubte an die Möglichkeit einer konstitutionellen Offenheit gegenüber dem Objekt. Einer solchen methodologischen Variabilität befleißigte sich keiner seiner drei philosophischen Freunde. Rückblickend sah sich Kracauer als »Philosoph des Vorläufigen«, dem an einer »Rehabilitation jener Zwischengebiete« besonders lag, »denen bisher nie Gerechtigkeit widerfahren ist, weil sie entweder als Felder bloßer impressionistischer Beobachtungen galten oder, von der anderen Seite her, durch metaphysische Spekulationen (z.B. Hegels Geschichtsphilosophie) überdeckt wurden«. Jörg Später hat dafür ein schönes Paradox zur Hand, wenn er seinem Frankfurter Helden die »endgültige Beschäftigung mit dem Vorläufigen« zuspricht.

Siegfried Kracauer hat den vielstimmigen & -farbigen Feuilletonismus der Zeit soziologisch-philosophisch sowohl unterwandert als auch nobilitiert – zusammen mit Bloch & Benjamin (jeder je eigen!). Noch Adornos »Notizen aus dem beschädigten Leben« des usamerikanischen Exils, seine »Minima Moralia« (1951), stehen als äußerste (enigmatischste) kritische Momentaufnamen der avanciertesten kapitalistischen Gesellschaft in dieser Kracauer-Nachfolge.

Im Laufe der Zwanziger Jahre hatte sich der FZ-Feuilletonist nicht nur als essayistischer Autor solitärer Interessen einen bekannten Namen gemacht & unter dem erkennbaren Pseudonym »Ginster« einen autobiografisch unterfütterten Roman publiziert, sondern hatte auch als Redakteur großzügig u.a. Bloch, Benjamin & Wiesengrund-Adorno zu ständigen Mitarbeitern seines brillanten  Ressorts gemacht. (Offenbar konnte man damals als Freier Mitarbeiter im Feuilleton von den journalistischen Honoraren der Printmedien leben.) Als man Kracauer von der Zeitung 1930 den Posten des Berliner Feuilletonleiters anbot, griff er – frisch getraut mit seiner langjährigen Lebenspartnerin Lili Ehrenreich – beherzt zu, weil der »Exterritoriale« damit im intellektuellen & kulturellen Zentrum Deutschlands angelangt war & auf dem Zenit seiner beruflichen Karriere stand.

Aber nur noch 3 Jahre währte die Weimarer Republik. Mit der »Machtübernahme« & dem institutionalisierten Antisemitismus der Nazis war es mit »Kracs« sicherer Existenzgrundlage bei der »Frankfurter Zeitung« bald vorbei. Die scheinbare Rettung als FZ-Korrespondent in Paris, wohin die Kracauers geflohen waren, entpuppte sich schnell als Illusion, indem erst laufend das Gehalt gekürzt & dann der heftig protestierende Angestellte unter einem Vorwand gekündigt wurde.

Seit damals lebten Friedel & Lilo bis zum Tod Kracauers mehr oder weniger von der Hand in den Mund, ohne festes oder gar sicheres Einkommen (oder im Alter) einer Pension, sondern nur von wechselnden Aufträgen, Kuratorentätigkeiten & Stipendien amerikanisch-jüdischer Stiftungen. Noch in den Fünfziger Jahren mussten sie Schulden aus der Zeit ihrer bittersten Armut in Paris zurückzahlen, notiert ihr später Biograph.

Die journalistische Verve des Historikers als Erzähler

Die herausragende Qualität von Jörg Späters Biographistik basiert darauf, dass er als gelernter Historiker mit seinen Recherchen in allen Richtungen & Bereichen forscht & seine erzählerische Darstellung ebenso detailliert wie zeithistorisch breit anlegt. Er muss sich die Fülle der spezifischen Kracauerschen Interessen & den weiten Horizont von dessen intellektueller Entwicklung ebenso erst erarbeiten & aneignen, wie das geistige & existenzielle Ambiente des Frankfurters aus dessen persönlichen & zahlreichen zeithistorischen Dokumenten rekonstruieren.

Jörg Später steht dabei sowohl als Nachgeborener wie auch als Nicht-Fachmann - um mit der Metapher von Robert Mertons wunderbaren Buch zu sprechen - »auf den Schultern von Riesen«. Dabei ist er ja weder »Zwerg«, noch stützt er sich bei der Arbeit an seinem schriftstellerischen Debüt auf »Riesen«, sondern nur auf »Fachleute« & Kenner der einzelnen Tätigkeitsfelder Kracauers & seiner Freunde & Bekannten. Jedoch dank Jörg Späters springlebendiger Umsicht sieht man als sein Leser viel weiter & ausgreifender, als nur in die existenziellen Beengnisse & Beängstigungen von Siegfried (& Lili) Kracauer. Es entsteht auf den mehr als 600(!) Seiten  ein intensiv-detailliertes Zeitbild, das sich immer wieder intensiviert sowohl durch historische Tiefenbohrungen als auch durch Porträtgalerien der Zeitgenossen.

Der Biograph Jörg Später ermittelt die prekäre Odyssee der beiden Europaflüchtigen durch die Zeitläufe der Emigration & ihre tief verinnerlichte Dankbarkeit gegenüber den sie rettenden USA, deren Staatsbürger sie bewusst wurden. Aus dem ehemaligen marxistischen Linken entwickelte sich im Lauf der US-Zeit & im intellektuellen Kontakt mit den Kunsthistorikern Meyer Schapiro & Erwin Panofsky ein (amerikanischer) Liberaler, den der »Dialektiker« Adorno (zu Unrecht) verdächtigte, auf seine alten Tage zu den verhassten »Ontologen« übergelaufen zu sein. Dagegen  wagt es »Friedel« auf einem intellektuellen Gipfeltreffen der beiden Solisten in der Schweiz – dessen Verlauf & Ergebnis er in einem englischen summery fixiert hat - »Teddie« & seiner immensen literarischen Produktion »leerlaufende Dialektik« vorzuhalten. Wohingegen er sehr angetan davon ist, in »Teddies« Nähe mit dessen »Schülern« Hans Magnus Enzensberger & Alexander Kluge sich problemloser verständigen zu können. Diese späten Bekanntschaften mit jungen deutschen linksliberalen Intellektuellen sei für alten Kracauer beglückend gewesen, schreibt sein Biograph. 

Jörg Später erzählt den Lebensroman Siegfried Kracauers mit großer journalistischer Verve, will sagen, dass nicht »wissenschaftlich«- kühle Prosa sein Medium ist, sondern ein zupackend- ironischer Stil, in dem z.B. auch mal sowohl »der Zahn der Zeit« an etwas nagt, als auch jemand »messerscharf« argumentiert. Zeitgenössische umgangssprachliche Wendungen wie »die üblichen Verdächtigen« oder Anspielungen wie der Filmtitel »French connection« für Krac.s Beziehung zu französischen Freunden oder die nur einem Camus-Leser verständliche Metapher: »Wir dürfen uns Sisyphos in diesen Monaten nicht als glücklichen Menschen vorstellen«, machen seinen Stil farbig & glücklicherweise eher salopp als steif-seriös, wenngleich der von ihm wie selbstverständlich gebrauchte Begriff »Syllabus« der akademischen Fachidiotie zugehören dürfte.

Beileibe nicht unkritisch, aber doch vielfach mit ihm sympathisierend ist der (Nach-)Erzähler an der Seite seines Helden – z.B. wider den »Gutsherrn der Kritischen Theorie« (womit Später Max Horkheimer ironisiert); oder wenn er einen Besuch der Kracauers in ihrer ehemaligen Berliner Wohnung erwähnt, die Teil einer Pension geworden war. Der Biograph fantasiert einen »dance macabre«, indem er imaginiert, dass die beiden amerikanischen Staatsbürger aus New York sich dort hätten einmieten können. »Aber«, kommentiert der Biograph seine Überlegung am Ende, »sie waren weder gefühllose Zyniker, noch wollten sie symbolisch ein Zeichen setzen. Sie waren Besucher und keine Stolpersteine.«  Das ist eine nahezu geniale sprachliche Allusion, weil sie der Komplexität der Situation entspricht!

Noch ein anderer Passus zeigt den Biographen Jörg Später stilistisch auf der Höhe seiner satirischen Empörung darüber, dass »From Caligari to Hitler« im Rowohlt-Verlag »aus Gründen der Raumbeschränkung«, wie der Verlag betonte, rabiat gekürzt & politisch entschärft 1958 auf Deutsch erschien.  Ehrlicher, meint Später, wäre eine Vorbemerkung zu den deutschen Eingriffen mit diesen Worten gewesen: »Wegen Ihnen, liebe ehemalige Volksgenossen, und weil wir Ihnen die These, dass Hitler von tief innen kam, nicht zumuten wollten«. Ein Filmforscher der DDR«, fügt der Biograph hinzu, »nannte die deutsche Erstausgabe zu Recht einen Akt politischer Zensur – er kannte sich damit aus«. Auch dieser Sarkasmus trifft zielgenau den historischen Moment & Ort.

Eingedenken & Memorial

»Friedel« war der Enkel von Isidor Kracauer, der eine große »Geschichte der Juden in Frankfurt a. M.« geschrieben & dessen Frau Hedwig das zweibändige Werk Mitte der Zwanziger Jahre postum herausgegeben hatte. Sie lebte mit ihrer verwitweten Schwester Rosette, Siegfrieds Mutter, in Frankfurt zusammen. Hedwig »konnte ein Giftzahn sein, daneben war sie aber auch eine aufmerksame Beobachterin, die sich für die Welt und die Gesellschaft interessierte«, charakterisiert sie Später - als erinnerte er sich familiär an eine Tante, die übrigens schon früh Hitlers Machtergreifung vorausgeahnt & an Emigration gedacht hatte.

Zu den erschütterndsten erzählerischen Passagen & Kapitel der Siegfried-Kracauer-Biografie gehören jene noch heute empörenden Partien, in denen Jörg Später den sukzessiven Leidensweg der beiden über achtzigjährigen Witwen aus ihren Briefen, Tagebüchern & anderen Zeugnissen nach 1933 minutiös rekonstruiert. Siegfried hat die zusammenlebenden Schwestern, die alle ihre Ersparnisse in der Inflation verloren hatten, finanziell unterstützt so lange er konnte (auch noch während der Emigration).

Er musste dann aber doch hilflos zusehen, wie die mittellosen alten Frauen Nazi-Deutschland nicht mehr verlassen durften & konnten. So gingen sie ihrem grauenhaften Schicksal in Frankfurt am Main, Theresienstadt  & schließlich Auschwitz oder Treblinka entgegen: »Weitere Zeugnisse  über die letzten Tage der tüchtigen und gewissenhaften, oft depressiven, zuweilen aber herzlich lachenden oder hemmungslos schreienden Rosette Kracauer, geborene Oppenheim, und ihrer älteren Schwester Hedwig Kracauer, ebenfalls geborene Oppenheim, der gescheiten, gebildeten und neugierigen Zeitgenossin und verwitweten Mitarbeiterin des Chronisten der nun ausgelöschten Frankfurter Juden, gibt es nicht. Es war der Monat Elul im Jahr des Unheils 5702«.

Diese überraschende Bezugnahme auf die jüdischen Zeitrechnung könnte ein diskreter Hinweis darauf sein, dass Jörg Später, der das Buch seinen Söhnen Micha & Maxim gewidmet hat, selbst jüdischer Herkunft ist. Es hat ihm erkennbar Freude gemacht & Genugtuung verschafft, damit sein erstes Buch zu schreiben. Weil es so gelungen ist, geht diese Befriedigung auf den Leser über. Denn Jörg Später hat damit nicht nur Siegfried Kracauer, dessen Familie & Freunden ein sehr schönes, nachhaltiges Eingedenken erschrieben, sondern auch in einem Memorial bewahrt, was einmal an der Tagesordnung des »geistigen« Deutschlands war – bevor der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) uns davon radikal trennte & uns diese Zeit heute fast wie ein Märchen erscheinen lässt, obwohl es doch einmal wirklich wahr war.

Artikel online seit 30.01.17

 

Jörg Später
Siegfried Kracauer
Eine Biographie
Suhrkamp Verlag
744 Seiten, Abb.
39.95 €

Leseprobe

 


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