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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Abgründe mit Tiefenschärfe

Dörte Lyssewskis Erzählungen »Der Vulkan oder die Heilige Irene«

Von Lothar Struck

Es sind vier Erzählungen, mit denen die Burgtheaterschauspielerin Dörte Lyssewski literarisch debütiert. Man sollte sich – vorweg genommen - diese Erzählungen in keinem Fall entgehen lassen.

"Der Vulkan oder Die Heilige Irene" ist die erste Geschichte im Band, die zugleich auch den Titel des Buches hergibt. Die Handlung spielt auf einer Insel und Lyssewski beginnt mit einer fulminanten, ransmayrhaften Erzählung der Geschichte dieser Insel. Lebensabweisend ist sie, klimatisch mindestens im Sommer fast unbewohnbar. Es wächst nichts; alles muss herangeschafft werden, selbst Trinkwasser. Es gibt schwarzsandige Strände und die Vulkanerde wurde mit großem Aufwand ausgebeutet; die Spuren kann man heute noch sehen. Wer konnte, verließ die Insel, wanderte aus, nur als Toter kehrte man wieder zurück. Gespenstisch die verwaisten Friedhöfe, wo die Schildchen auf den Grabsteinen klappern und Plastikblumen in den Vasen stehen. Die einzige Verwendung der Insel ist – als Tourismusort. Aber auch eine Urlaubsstimmung vermag nicht aufkommen. Am Strand und in Höhlen wird triebhaft aber lustlos kopuliert, später kehrt man in die All-Inclusive-Tempel wieder zurück. Ein Subtext von Dekadenz und subtiler Bedrohung schwebt über der Erzählung. In einem Hotel-Swimmingpool bricht es schließlich heraus: Aus einem harmlosen Badevergnügen entwickelt sich urplötzlich ein kannibalisches Massaker der Touristen untereinander. Aus der subtil-gespenstigen Ortserzählung wird ein blutiges Splattermovie und plötzlich steigt dann noch irgendwo ein Mann aus einem Auto mit dem abgetrennten Kopf einer Frau in der Hand. Die Polizei kommt nicht hinterher; einer ihrer Wagen wird selber demoliert. Eine weitere Frau stirbt.

Lediglich das Massaker im Pool sei erfunden versichert die Autorin (ich, der Leser, hätte darauf verzichten können). Und ja, es handele sich um Santorin. Erst wollte ich das unbedingt wissen und rätselte schon um den Ort – aber als ich es dann erfahren hatte, bemerkte ich, dass es eigentlich unwichtig ist (wie fast immer, wenn man solche "Geheimnisse" herausbekommen hat). Die Kraft der Erzählung, die Sprache, ist unabhängig von dem Wissen um den real existierenden Ort. Es sind diese alptraumhaft beklemmenden Bilder einer postapokalyptisch anmutenden Welt, die bleiben. Weit und breit kein Trost, kein possierlicher Hercule Poirot mehr, der "das Böse unter der Sonne" er- und aufklärt.

Die zweite Erzählung handelt zunächst scheinbar ebenfalls von einer Pauschalurlaubsreise. Es ist zu Beginn ein Paar, aber das besondere Augenmerk wird auf die Frau gerichtet, die als "enttarnte Heilige" bezeichnet wird mit "devotem Grinsen", "unförmigem Körper" und "schlechten, schiefen Zähnen und Lücken im Mund". Vom auktorialen Stil der vorherigen Erzählung wechselt Lyssewski hier in eine Du-Perspektive, in der der Erzähler die Figur anredet und ihre Handlungen beschreibt. Schnell ist der Mann geflüchtet (die Gründe erfährt der Leser nicht), die Frau bleibt zurück, "Geist und Körper…lebendig gefangen, langsam ausgesogen von der großen Spinne Zeit". Sie bewohnt ihre Ferienwohnung alleine, "ein luxuriöses Gefängnis" mit dem "Alb als einzige[n] Beischläfer". Der Traum von der Schwangerschaft ist endgültig passé, als sie an ihrem Handtuch Blutspuren ihrer kommenden Monatsregel entdeckt. Dieser Lebensentwurf scheint unwiderbringlich zerstört. Die Fassade eines Strand- und Ausflugsurlaubs erhält sie trotz dieses Kummers aufrecht, besucht sogar das "Kirchweihfest im Dorf". Fast beißend präzise ihre Wahrnehmungen, die mit allegorischer Schwere durch die Erzählung schreiten. Den Titel "Hera" versteht man jetzt. Es ist eine moderne Hera, die in der letzten Nacht vor der Abreise vom champagnergefeierten Tod an ihrem 39. Geburtstag träumt.

Eine traurige Erzählung über ein als verfehlt empfundenes Leben. In "Byblis", der dritten, ausladenden, mehr als die Hälfte des Buches beanspruchenden Erzählung, schreibt Lyssewski über eine immer mehr fortschreitende Vereinsamung eines Menschen und deren Folgen als personale Erzählung. Auch hier ist eine Frau – stets nur "B." genannt - die Hauptfigur. Sie erklärt eines Tages schnörkellos ihrem Bruder in einem Brief ihre "bedingungslose Liebe". Dabei ist sie sicher, dass er seine Ehe aufgeben und sein Leben mit ihr, der Schwester als Geliebten, weiterführen wird. Sie imaginiert schon wie ein Gesetz die Reaktionen auf ihren Brief: "Sicher würde er direkt zu ihr eilen. Sie würden schweigend voreinander stehen. Dann würde sie nichts mehr halten können. Ein Taumeln, ein Fallen. Sie würden sich lieben und schließlich ohne zu zögern aufbrechen und fliehen."

Sofort stehen einem die entsprechenden Bilder vor Augen. Die Vorstellungen der Schwester entsprechen dem, was man gemeinhin als Kitsch bezeichnet. Lyssewski benötigt jedoch diese Erwartungen, um die naive Hysterie der Frau, deren Liebe in eine unmögliche Parallelwelt führt, zu illustrieren. Natürlich kommt es nicht zur Erfüllung; die Ablehnung des Bruders ist brüsk. Er gibt B. unmissverständlich zu verstehen, dass er keinen Kontakt mehr mit ihr wünscht, nimmt mit der Familie fast fluchtartig "eine Auszeit in seinem Haus auf einer Insel" und erwägt sogar eine Stellung im Ausland anzunehmen.

"B. war fassungslos. Sie strauchelte." Sie rekapituliert das Geschwisterverhältnis in Kindheit und Jugend, ihr Auseinanderleben, das eher zufällige Wiedertreffen nach Jahren auf einem Kongress ("Sie hatten einander nicht erkannt."), das dann eher unspektakuläre Gespräch "ohne Herzlichkeit". Aus einer erwiderten Berührung der Hand und einem "tauchenden Blick" des Bruders entsteht urplötzlich dieses Gefühl der Liebe bei ihr. Sie fühlt sich animiert, ihm diese zu gestehen, obwohl weitere Annäherungen verschmäht wurden.

Nach dieser Abweisung flieht B. zu Freunden aufs Land. Später dann zieht sie in eine "kleine Stadt am Fuß der Berge"; der Beginn permanenter  Ortswechsel, ein scheinbar zielloses Hin- und Herreisen. Ihre Fassungslosigkeit ist wörtlich zu verstehen. Die Fassungslose ist ohne Um-Fassung, ohne Halt. "Nichts blieb so, wie es einmal war." Phasen der Untätigkeit und Apathie wechseln mit Aktionismus ab. Wie schon in "Hera" ist die Protagonistin eine scharfe Beobachterin und glaubt Zeichen zu erkennen, die sie auf sich bezieht; Hobbypsychologen mögen ihre Diagnosen abgeben. Lyssewski hält sich nicht mit solchen Deutungen auf, sie erzählt lieber, langsam und präzise, soghaft. Ereignislosigkeit wird zum Ereignis. Dabei gelingen eindringliche Bilder aus einer Welt, die "jegliches Heilsversprechen längst verloren hatte". Eine Zukunft ist inexistent. Es gibt nichts mehr außer die Addition von Beobachtungen, vermeintlichen Bedrohungen oder einfach nur einer "unfassbare[n] Schwermut". Einher geht dies mit dem Aufbrauchen ihrer finanziellen Mittel. "Verweht, vergangen" ist "B.", die auch noch ihre Vergangenheit vergessen will, deswegen trinkt - und gleichzeitig jedoch genau das auch fürchtet. Irgendwann hat sie das Gefühl, nichts sei mehr "ihres Sehens würdig"; alles würde durch sie sozusagen "verunreinigt". Es gibt Anfälle von "Trauer, Stillstand und abgründiger Verzweiflung". Aber "seltsamerweise ging es immer weiter" und sie wechselt immer noch die Orte, macht Flugreisen, obwohl sie das "Interesse an der Welt" sukzessive verliert. Das großartige Ende der Erzählung im fernen Libanon soll nicht erzählt werden.

Wie bei "Hera" wird auch bei "Byblis" eine Figur der griechischen Mythologie titelgebend. Die Anleihen an Ovids Byblis sind deutlich. Dabei gelingt es Lyssewski ausgezeichnet die Geschichte nicht nur einfach in die Jetztzeit zu transformieren, sondern sie mit einer großen Ernsthaftigkeit zu verwandeln.

Dahinter fällt fast logischerweise die vierte Erzählung, "Der Weg", etwas ab. Abermals gibt es einen Perspektivwechsel: Erzählt wird aus der "personalen" Sicht eines Hundes, der die Menschen belauscht, Spatzen und deren Heimatlosigkeit beschreibt und eine Hitze-Apokalypse in seinem Dorf erlebt. Er ist, wie man in einem kleinen erzählerischen Einschub erfährt, praktisch todkrank, was er aber nicht weiss und stattdessen die Gebrechen der ihm umgebenden Menschen aufmerksam konstatiert. In diesem Nichtwissen des ansonsten so klugen anthropomorphisierten Tieres liegt ein kleiner Konstruktionsfehler der Geschichte, der aber durch das Vergnügen an der Lektüre irgendwann in den Hintergrund rückt.

Es gibt keinen Zweifel: Dörte Lyssewski zeigt mit "Der Vulkan oder Die Heilige Irene" ihr außergewöhnliches schriftstellerisches Talent. Ich kann es kaum erwarten, weitere Geschichten von ihr zu lesen. 

Artikel online seit 15.06.15
 

Dörte Lyssewski
Der Vulkan oder die Heilige Irene
Erzählungen
Matthes & Seitz Berlin
188 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
978-3-95757-083-3
19,90 €

 


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