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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Moralischer Realismus

Édouard Louis emazipatorischer Erfolgsroman »Das Ende von Eddy«
bewegt sich zwischen Josef Winkler und Jean Genet.

Von Lothar Struck




 

Auf Seite 8, bevor »Das Ende von Eddy« beginnt, findet sich eine Vorbemerkung des Übersetzers, Hinrich Schmidt-Henkel. Er weist darauf hin, dass der Familiennamen des Protagonisten »zugleich der Geburtsname des Autors« sei. Schmidt-Henkel klärt auf, dass dieser Name – »Bellegueule«, was übersetzt »Schönmaul« bedeutet – in der nordfranzösischen Picardie, also der Region, in der der Protagonist aufwächst und der größte Teil der Handlung des Buches spielt, »nicht ganz selten« sei.

Der Hinweis, dass der Name des Protagonisten identisch mit dem Geburtsnamen des Autors ist, ist mehr als nur eine Bemerkung des Übersetzers. Es ist – streng genommen – ein Eingriff in die Deutungshoheit des Lesers, der, bevor er auch nur eine Zeile hat lesen können, schon beeinflusst wird. Unabhängig von der deutlich sichtbar angebrachten Gattungsbezeichnung »Roman» wird das Buch sofort vom fiktionalen in das autobiographische Fach überführt. Der Ich-Erzähler wird identisch mit dem Autor, was einen Anspruch auf Authentizität erhebt. Erzählt wird die Kindheit und Jugend als Eddy Bellegueule im Subproletariat eines kleinen nordfranzösischen Dorfes. Als Bellegueule den Ort verlässt und ein Internat in Amiens besucht, wird die Dorfidentitiät abgestreift und durch eine neue Identität ersetzt. Diese Identität nennt sich augenscheinlich Édouard Louis. Die eigentliche Verwandlung von Bellegueule nach Louis wird im Buch nicht thematisiert – sie entsteht im Kopf des Lesers vor allem durch Schmidt-Henkels Einlassung.

Rotze im Gesicht

Der Kern des Buches bilden Eddys Lebensjahre zwischen zehn und dreizehn. Er wird von zwei Mitschülern drangsaliert, die ihm regelmäßig nach der Schule auflauern. Mit Genauigkeit und einem unterschwelligen Stolz schildert Louis die Demütigungen, die er über sich ergehen lassen muss. Schläge sind noch das kleinste Übel; besonders intensiv wird erzählt, wie Eddy gezwungen wird, die Rotze der Jungen aufzulecken bzw. im Gesicht zu ertragen. Der Grund für Eddys Außenseitertum wird ihm früh selber klar: Er hat eine hohe Stimme, feminine Bewegungen, einen als merkwürdig empfundenen Gang, mag Fußball nicht besonders und ekelt sich vor Zungenküssen von Mädchen. Er ist dezidiert anders als die anderen. Und er entdeckt seine Homosexualität – etwas, was in dem Dorf in der Picardie als Krankheit gilt (vorübergehend auch für Eddy selber).

Auch die Eltern ahnen seine »Neigung«. Er fällt auf. Für sie: unangenehm. Was Auswirkungen auf den Status im Dorf hat. Die Eltern kommen im Buch nicht gut weg: Der Vater, der bis zu seiner Rückenkrankheit in »der« (der einzigen, daher »der«) Fabrik arbeitet, interessiert sich nur für Fernsehen, Pornos und Alkohol. In einem kurzen Einschub wird seine Kindheit als Hölle geschildert; immerhin schwört er sich, seine Kinder nie zu schlagen (was er allerdings nicht durchhält). Die Mutter, überfordert mit Mann und ihren fünf Kindern, ist laut, kokettiert mit ihrer Unbildung und findet in der Nachbarschaft immerhin noch eine Familie, die sie sozial schlechter gestellt und verwahrloster als sich selber einstufen kann.

Das Gerede der Dorfbewohner ist voll von dem, was man gemeinhin als »Stammtischparolen« bezeichnen würde. Und dies nicht nur, was die Einstellung zur Homosexualität angeht. Andere beliebte Feindbilder sind Araber, Politiker und die »Bürgerlichen«. Ausgiebig werden diese Parolen in wörtlicher Rede im Buch angegeben. Dabei sind sie stets kursiv gedruckt, was den Lesefluss erleichtert und sofort gleichzeitig Distanz zum Gesagten erzeugt. Aber auch ohne diese optische Abgrenzung wüsste man sofort, dass es sich um Aussagen aus dem Dorfmilieu handelt. Dabei sind die die Figuren austauschbar: ob es die Eltern sind oder nur Freunde oder Mitschüler – alle reden gleich.

Nur selten erhalten die Figuren ein Leben jenseits ihrer Vorbestimmtheit eingehaucht. So wird einmal eine Szene geschildert, in der der Vater fast gewalttätig jemandem gegenüber wird, der Homosexuelle beleidigt. Ausgerechnet er, der fortlaufend Witze und despektierliche Äußerungen über »Schwuchteln« abgibt. Oder die Situation, als Eddys Mutter sich gegen ihren Mann durchsetzt und eine Tätigkeit aufnimmt (als Altenpflegerin – was sie derb als »Arschabwischerin« bezeichnet). Und am Schluss, als Eddy in einer Theateraufführung in Abbeville mitspielt, die er auch selber inszeniert hat, entdeckt er im Publikum jene beiden Jungen, die ihn jahrelang drangsaliert hatten und die ihm nun, nach dem Stück, applaudieren und sogar zujubeln.

»Mechanismen der Ausweglosigkeit« – Wirklich?

Es ist nicht Eddys, sondern Louis' These: In diesem Dorf gefangen, greifen »Mechanismen der Ausweglosigkeit«, die zu einem »Regelwerk vollkommen absehbarer Mechanismen« führen. Leben und Verhalten der Menschen seien »geradezu ausweglos von vornherein festgelegt«, wie es einmal heißt. So angenehm es ist, wenn ein Erzähler nicht sofort die sozialrevolutionäre Befreierpose annimmt, so voreilig resignativ erscheint dieses Fazit, weil es die Würde dieser Menschen per se schon reduziert auf eine Art unhintergehbare Tradition.

Am Ende zeigt es sich am Schicksal Eddys, dass das Leben nicht ein unabänderliches Fatum darstellt. Oder ist es nur sein »Anderssein«, welches sich vor allem in seiner Homosexualität zeigt? Wird er hierdurch sozusagen gezwungen, aus dem Teufelskreis seines sozialen Umfelds herauszutreten? Alle Versuche Eddys, sich wie ein »Normaler« zu verhalten, scheitern, was zuweilen durchaus komisch erzählt wird. Als 13jähriger verkuppelt ihn seine ältere Schwester mit ihrer 18jährigen Freundin. Ausgiebig wird vorher die Ekstase geschildert, mit der Eddy bei der Betrachtung der männlichen Körper in den Pornoheftchen seines Bruders masturbiert (erfolgreich). Aber als die Freundin ihn zum Beischlaf verführen möchte, bekommt er nicht einmal eine Erektion.

Louis' Geschichte ist nicht nur Coming-Out- oder Entwicklungsroman. Das Buch ist auch eine Bestandsaufnahme über die hermetischen Klassen und Schichtundurchlässigkeiten Frankreichs – und dies jenseits einer Einwandererdiskussion. Indem alle Protagonisten Weiße sind, wird der Fokus auf die Spezifika der Gesellschaft abseits des religiös-sozialen Kontextes gerichtet. Plakativ formuliert ist Louis' Buch fast ein Gegentext zu Houellebecqs »Unterwerfung«. Die politische Korrektheit wirkt gelegentlich etwas dick aufgetragen, etwa wie das potentielle Wählerklientel des FN vorgeführt wird und am Ende die von Eddys Eltern so verhassten Bürgerlichen zu Rettern herbeigeschrieben werden.  

Zwischen Josef Winkler und Jean Genet

Leopold Federmair hat in einer sehr instruktiven Besprechung dieses Buches auf literarische Analogien hingewiesen, wie beispielsweise Jean Genet. Ich musste bei der Lektüre an Josef Winklers' Selbstbehauptungstrilogie »Der Ackermann aus Kärnten« denken. Auch Winkler stammt aus kleinbürgerlichen, vulgo: bäuerlichen Verhältnissen. Auch seine Figur, die seinen Namen trägt, kämpft mit dem Stumpfsinn seiner Dorfbewohner und entdeckt eine homoerotische Neigung an sich. Und schließlich emanzipiert sich Winkler bzw. die Figur bei Josef Winkler mittels Bildung und der Literatur von seinen Verhältnissen.

Die expressive Wucht von Winklers Sprache sucht man jedoch bei Louis vergeblich. »Das Ende von Eddy« ist eher nüchtern geschrieben, schlicht und kunstlos, fast wie eine Reportage und es endet wie eine Moritat. Zuweilen wirken die Bemerkungen des Ich-Erzählers altklug. Auf Effekthascherisches hat er verzichtet, wenngleich man besonders zu Beginn den Eindruck hat, dass dort mit einem gewissen Vergnügen die Details der Demütigungen, denen Eddy unterzogen wird, geschildert werden. Aber eine Ästhetisierung, wie dies Georges-Arthur Goldschmidt in seinen Internats- und Jugenderinnerungen macht, findet nicht statt. Früh erfährt der Leser durch ein, zwei Vorgriffe von der »Rettung« des Protagonisten.

Einige Bilder gelingen famos, etwa wenn der kleine Junge das Elternschlafzimmer unmittelbar nach dem Beischlaf der Eltern betritt und noch den »Geruch vom Schrei« des Vaters erspürt. Schön auch die Erzählung der sogenannten Flucht Eddys, die er so anlegt, dass er ganz schnell von seinem Vater entdeckt und wieder heimgeführt wird. Nicht ganz schlüssig sind einige Übergänge. Anderes wirkt überflüssig wie die kleine Binnenerzählung des Profikriminellen Cousins Sylvain, der schließlich an Krebs mit noch nicht einmal 30 Jahren im Gefängnis stirbt.    

Die literarischen Qualitäten des Buches sind also eher überschaubar. Aber ist das wichtig? Wer will eine Geschichte kritisieren, in dem der Held derartiges mitgemacht hat? Die Bestürzung über das, was Eddy angetan wurde, die scheinbare Authentizität des Romans - sie darf allerdings keinesfalls als Immunisierung gegen ästhetische Kritik verwendet werden. Das Buch befriedigt nahezu perfekt die Sehnsucht des Bildungsbürgertums nach einem moralischen Realismus in der Literatur. Es ist auch zu verlockend, sich an seiner eigenen Betroffenheit zu berauschen. Immerhin gibt es keinen Kater. Und wenn der Rausch abgeklungen ist, darf man sich auf den nächsten Roman von Édouard Louis freuen.

Artikel online seit 10.03.15

Édouard Louis
Das Ende von Eddy
Roman
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer
208 Seiten
€ (D) 18,99 | € (A) 19,60 | SFR 27,50
978-3-10-002277-6

Leseprobe

 


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