Wie
kann es sein, fragten 1983 amerikanische Generäle die Israelis, dass sie ihre
Kriege gewännen, die Amerikaner mit ihrer Bilanz hingegen schlecht aussähen, vor
allem, weil man ja die gleichen Waffen und die gleiche Ausrüstung benutzen
würde. Wenn es also daran nicht liegen würde, woran dann? Schließlich versuchte
man der Frage auf den Grund zu gehen, wie die Israelis ihre Soldaten für die
jeweiligen militärischen Einheiten auswählten. Bislang hing das von der
Intuition der Befrager ab, in welche Abteilung ein Rekrut gesteckt wurde, aber
dann fand jemand heraus, dass das genau das Problem war: Menschen, die die
Persönlichkeit anderer Menschen beurteilen sollten. Gelang es, das Bauchgefühl
des Befragers auszuschalten, wurde die Einschätzung besser. Diese Entdeckung
gelang dem Psychologen und späteren Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der
damit, wie Michael Lewis in der Biographie »Aus der Welt« über ihn schreibt,
»mehr für die israelische Armee getan hat als jeder andere Psychologe vor und
nach ihm«.
Aus heutiger Sicht mag das erstaunlich klingen, weil man den Sachverhalt
automatisch aus der Retrospektive betrachtet, d.h. man ist aus heutiger Sicht
weiter und deshalb auch klüger, aber in den siebziger Jahren fing man eben erst
an, sich Gedanken um das Wie beim Zustandekommen von Entscheidungsprozessen zu
machen. Aber unabhängig davon ließe sich auch sagen, dass hierarchische
Entscheidungsstrukturen beim Militär für einen Soziologen wohl kaum etwas neues
waren, genauso wenig wie die Einsicht, dass die Häufigkeit von
Fehlentscheidungen umso höher ist, je weniger es eine Instanz gibt, die einen
Entscheider korrigiert. Und dieser Gedanke beschleicht einen immer wieder bei
der Lektüre des Buches, z.B., wenn es um die Frage der häufigen
Fehlentscheidungen in der Medizin geht, die natürlich damit zusammenhingen, dass
die damals noch als »Götter in Weiß« geltenden Ärzte ihre Diagnosen immer als
unumstößlich ansahen und sie jeden Zweifel an ihrer Autorität als Beleidigung
auffassten, während erst in einigen Tests darauf hingewiesen werden musste, dass
viele Ärzte häufig eine unterschiedliche Diagnose über ein- und dasselbe
Geschwür stellten.
Aber Daniel Kahnemann und sein Kollege Amos Tversky, mit dem er jahrelang eng
zusammenarbeitete, begnügten sich eben nicht mit der Frage, warum das so war,
sondern boten auch eine Lösung, wie sich die Fehler im System minimieren ließen,
auf die Statistiken immer wieder hinwiesen. Und dazu musste man wissen, wie der
Mensch Entscheidungen trifft, wie er »tickt«, es ging darum, das Gedächtnis zu
verstehen, warum beispielsweise das Denken dazu neigt, einen kleinen Ausschnitt
mit dem Ganzen zu verwechseln. Und dass es so ist, wiesen die beiden Psychologen
durch Befragung und kleine Versuchsanordnungen nach.
Und das, was sie dabei herausfanden, zog nicht wenige Prämissen vieler
Wissenschaftsdisziplinen in Mitleidenschaft. »Es ist erstaunlich«, hatte Amos
Tversky einmal gesagt, »wie langweilig Geschichtsbücher sind, wenn man bedenkt,
wie viel davon Fiktion ist.« Die Interpretation von Geschichte, so die These,
unterliegt »Verzerrungen«. Davon zeugte eine Befragung von Studenten, die den
überraschenden Staatsbesuch Nixons in China 1972 anhand verschiedener möglicher
Antworten beurteilen sollten. Nach dem Staatsbesuch wurden die Probanden wieder
befragt, und »nachdem sie das Ergebnis kannten, hielten sie es sehr viel
vorhersehbarer als im Moment ihrer Prognose«, weshalb dieses Phänomen den Namen
»Rückschaufehler« erhielt. Dass der Mensch Fehler macht, darüber wird sich
niemand streiten, das Faszinierende und vielleicht Bahnbrechende an den
Forschungen von Kahnemann und Tversky war die Tatsache, »dass wir vorhersehbare
und systematische Fehler machen«. Die Menschen wurden als rational entscheidende
Wesen vorausgesetzt, die sie jedoch nicht sind. Die beiden kamen zu einer
anderen Beurteilung der menschlichen Natur und waren deshalb in der Lage, auch
in anderen Wissenschaftsbereichen als unumstößliche Wahrheiten geltende
Prämissen in Frage zu stellen.
Der Bestsellerautor Michael Lewis hat lange Zeit recherchiert und in Archiven
geforscht, er hat Gespräche mit Kahnemann (sein Partner Tversky war zu diesem
Zeitpunkt bereits an Krebs gestorben) und Interviews mit Kollegen, Freunden und
Familienangehörigen geführt, und eine fundierte, eingängig zu lesende und
niemand überfordernde Biografie der beiden Psychologen geschrieben. Er hat dabei
nicht nur ihre wissenschaftlichen Befunde ausgebreitet, für die Kahnemann dann
2002 den Nobelpreis bekam, sondern auch das Verhältnis der beiden gewürdigt, die
vielleicht, gerade weil sie in ihrem Naturell so unterschiedlich waren – der
eine Holocaustüberlebender und skeptisch gegenüber sich selbst, der andere in
Israel geboren, selbstbewusst und eloquent -–, sich auf kongeniale Weise
ergänzten.
Manchmal sieht es allerdings so aus, als ob Lewis seinem Gegenstand zu nah war,
als dass er noch den nötigen Abstand hätte herstellen können, der notwendig ist,
um sich seinem Untersuchungsgegenstand noch kritisch nähern zu können. Darauf
jedenfalls lassen seine häufigen Verweise auf die Genialität der beiden
schließen. Dass sie jedoch so erfolgreich waren, hing nicht allein an ihrer
Genialität, sondern auch daran, dass ihre Forschung auf einen Nutzen
ausgerichtet war, die viele Verbesserungen zur Folge hatte. Sie hatten, wenn man
so will, die Pionierarbeit geleistet für das, was heute Algorithmen leisten, die
menschliche Denkfehler weitgehend ausschließen.
Artikel
online seit 13.05.17
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Michael Lewis
Aus der Welt
Grenzen der Entscheidung oder: Eine Freundschaft, die unsere Denken
verändert hat
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Sebastian Vogel
Campus, Frankfurt 2017
359 Seiten
24,95 €
9783593506869
Leseprobe
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