In letzter
Zeit haben erstaunlich viele Kritiker die Seiten gewechselt und sich
erzählend der Öffentlichkeit präsentiert. Mit unterschiedlichem
Erfolg. Der Roman Verena Luekens, obwohl autobiographisch geprägt,
ist aber tatsächlich ein starkes Stück Literatur, keine
Krankengeschichte. Drei Teile, die auch motivisch ineinander
verflochten sind: der Krebs, das Überleben, das Leben.
»Sie«, die im Buch keinen Namen erhält, kehrt für einige Monate nach
New York zurück, der Stadt, in der sie jahrelang gelebt und
gearbeitet hatte und wo sie sich »einigermaßen sicher fühlte«. Sie
will »ihr Leben überdenken«, an etwas Neuem arbeiten und viel lesen.
Nach kurzer Zeit erfährt sie, dass sie, wie schon einmal vor 15
Jahren, wieder an Lungenkrebs leidet. Der Satz des Schriftstellers
James Salter, den sie gerade gelesen hatte, »New York im Sommer.
Beißendes Licht, brütende Hitze, eine erbärmliche Zeit um zu
sterben«, lässt sie nicht mehr los. Aber sie hat Glück, eine der
besten Chirurginnen, »eine kleine, drahtige Frau mit eisernen
Händen« operiert sie, erfolgreich. Nur die Schmerzen danach sind
höllisch, die starken Schmerzmittel rauben ihr den Verstand. In
ihrem Delirium erscheint ihr der Vater.
Früh gestorben, »hatte er ihr nichts hinterlassen außer einer großen
Leere... und einer Sehnsucht, die in diesem Leben nicht zu stillen
war.«Doch die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt ihre Mutter,
die allerdings jahrelang ein Doppelleben führte. Das kleine Kind
konnte sich nie sicher fühlen, immer blieb die Angst, dass die
Mutter sie mit ihrem Geliebten verlassen könnte.
Die Mutter konnte auch grausam sein. Drei Wochen lang sprach sie
nicht mit dem 12-jährigen Mädchen. Einmal versuchte sie, sich das
Leben zu nehmen. Heile Welt sieht anders aus. Das Verhalten der
Mutter und dementsprechend das Leiden des Kindes sind beeindruckend
beschrieben. Die Mutter, wenn auch hoch kompliziert, doch immer
innig geliebt, bleibt noch weit über ihren Tod hinaus, sie wird über
neunzig Jahre alt, eine dominierende Gestalt. Selbst den Abschied
von der Tochter hat sie bis in die Einzelheiten hinein inszeniert,
so »wie sie wollte, dass ihre Tochter sich daran erinnerte«.
Aber die Tochter ist stolz
auf diese weitgereiste, gebildete Frau, die noch mit Ende achtzig, begleitet von
einem wesentlich jüngeren Freund, bis nach Syrien reist. Diese Erinnerungen
fließen ein in die Krankengeschichte, die dann, zurück in Frankfurt, in den
Kampf ums Überleben übergeht. Einen großen Teil der Zeit sitzt sie im
Drogendämmer herum, die »schneidenden, bohrenden, drückenden, kreischenden,
hämmernden, zischenden, brüllenden« Schmerzen verändern sie. Ohne Larmoyanz,
ganz sachlich beschreibt sie die fürchterlichsten Phasen ihres (Über-)Lebens.
Sie spürt, wie sie sich zu verlieren droht, sagt »Dinge, die sie sich nie wieder
verzieh ... und sie verletzte Menschen, die ihr am nächsten standen«. Doch dann
kam irgendwann der Tag, an dem sie spürte, es war vorbei. Sie war nicht tot.
Gefragt, wie es ihr gehe, sagte sie nur: »Ich bin hier«. Deshalb fliegt sie
schließlich nach Myanmar. Eine Sehnsuchtsreise, romantisch und diffus zugleich.
Wo andere einst die blaue Blume suchten, da sucht sie jetzt nach einem Masseur:
Vor allem eines Wortes willen. Der kleine Mann hatte sie, zwei Jahre zuvor,
einmal regelrecht »umgehauen«, weil er zu ihr sagte: »You are kind«.
Es wirkte wie ein Zauberwort. Und weckte ihren Lebensgeist. Sie trifft den Mann
nicht wieder. Doch in einem Krankenhaus, in dem sie sich ihren verstauchten
Knöchel behandeln lässt, trifft sie einen Arzt, dem sie spontan vertraut. »Ihr
gefiel die Idee, sich in dieser unwirklichen Umgebung mit einem Unbekannten
einzulassen, den sie traf, während sie einen anderen suchte.«
Den Tod hat sie hinter sich gelassen. Vor ihr liegt das Leben.
Wir danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
Artikel
online seit 30.08.15
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Verena
Lueken
Alles zählt
Roman
Kiepenheuer & Witsch
208 Seiten
18,99
978-3-462-04797-4
Leseprobe
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