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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Auf der Suche nach der Wahrheit

Kolja Mensings lesenswerter Versuch, die eigene Herkunft zu rekonstruieren.

Von Vanessa Valkovic

 

»Die Erzählungen meines Vaters waren Berichte aus einem verzauberten Land«. Als Kind liebte es Kolja Mensing, diesen Geschichten zu lauschen. Sein Vater berichtete davon, wie er in dem Örtchen Fürstenau aufwuchs. In einer Schreinerei erlebte er in diesen Erzählungen behütete und glückliche Jahre zwischen Putzhobel, Rundfeilen und Holzspänen. Doch die verträumten und idyllischen Kindheitserinnerungen sind nur eine zerbrechliche Oberfläche. Mit diesen Geschichten verhält es sich ähnlich wie mit vielen anderen, denen Mensing auf der Suche nach seinen eigenen Wurzeln begegnen wird: Sie sind immer nur ein Ausschnitt aus der Wahrheit – und manchmal auch nur imposante Luftschlösser. Sie sind der verschwommene Blick aus einer individuellen Perspektive, in die über die Jahre zahlreiche Wünsche, Ängste und Hoffnungen mit eingeflossen sind.

Eines Abends kommt Mensings Vater nach dem rituellen Vorlesen nochmal in das Zimmer seines Sohnes und legt mit einer Geschichte den Grundstein für eine langwierige und emotional aufreibende Recherche - für das Werk »Die Legenden der Väter«. Denn der junge Kolja erfährt, dass der Mann seiner Großmutter nicht sein leiblicher Großvater ist. »Mein richtiger Großvater sei ein Pole namens Jósef Koźlik, der während des Krieges als Soldat nach Deutschland gekommen sei.« Der Vater zeichnet das Bild eines unerschrockenen und heldenmütigen Mannes. Erst Jahre später sollte sich Kolja Mensing in die Untiefen der Geschichte dieses Mannes begeben – und erst wieder zur Ruhe kommen, nachdem er die Wahrheit über Jósef Koźlik herausgefunden hat.

Mensings Nachforschungen reichen bis in die Kindheit seines Großvaters. Dieser wurde 1925 im oberschlesischen Groß Stanisch geboren. Joséf wird im Mai 1943 als junger Mann von der polnischen Wehrmacht eingezogen und später im Emsland stationiert. Damit gibt Mensing den Blick auf einen Aspekt der Besatzungszeit des Zweiten Weltkriegs frei, der bis heute wenig bekannt ist: Eine polnische Besatzungszone mitten im britischen Gebiet im nördlichen Emsland und rund um Oldenburg und Leer. Genau dort lernt Jósef Koźlik die junge deutsche Marianne kennen, Mensings Großmutter. Aus der jungen Liebe entsteht bald ein Kind. Mariannes Großvater Arnold reagiert bestürzt auf die Schwangerschaft seiner Tochter, vor allem auf die Tatsache, dass der Vater des Kindes ein polnischer Besatzungssoldat ist. So muss Marianne sich später auf offener Straße als »Polenhure« beschimpfen lassen, während Mensings Vater »Polenkind« genannt wird. Die historischen Wirren ihrer Zeit treiben die junge Familie auseinander. Und Mensing steht vor der Herausforderung, den Lebensweg eines Mannes zu erforschen, der »Jahre später in den Erzählungen meines Vaters als polnischer Soldat in einer britischen Uniform« wieder auftaucht. »Als ob das ganze Leben nur ein Maskenball sei.«

Der Großvater macht seinem Enkel die Recherche nicht leicht: Jósef Koźlik kreiert immer wieder Heldengeschichten um seine Person und gibt diese auch – durch einen intensiven Alkoholkonsum - völlig unbefangen in zahlreichen Kneipenrunden zum Besten. Das bringt Mensing auf seiner Suche zu dem Zwischenfazit: »Joséf war ein Lügner, aber einer, dem man gern glaubte.«

Wir durchleben mit Kolja Mensing eine harte und lange Suche nach der Wahrheit über eine Familiengeschichte, die durch die historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ganze drei Generationen auseinander getrieben hat. Wir lesen die Briefe von Mensings Vater an Jósef Koźlik, wir fühlen mit ihm zusammen »[…] die Ohnmacht gegenüber einem Schweigen, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden war, und die Bitterkeit, die daraus erwachsen konnte.« Dennoch ist »Die Legenden der Väter« kein herkömmlicher Roman, er ist kein Drama und kein Sachbuch. Vielmehr ist das Buch eine Mischung aus alledem. Es ist eine akribisch niedergeschriebene Recherche, die sich durch emotionale Zwischentöne und historischen Fakten auszeichnet, die sich zu einem lesenswerten Werk verdichten.

Wichtig ist in diesem Werk der Begriff der Wahrheit, der in allen Zeilen von »Die Legenden der Väter« mitschwingt. Was der Leser aus diesem Buch auf jeden Fall mitnehmen kann: Der Wahrheit kann sich nur angenähert werden, wenn unvollständige und lückenhafte Geschichten hinterfragt werden. Wenn der eigene Antrieb und Wille da ist, die Dinge nicht so stehen zu lassen, wie sie einmal aufgeschnappt wurden. Kolja Mensing fasst erst als erwachsener Mann den Entschluss, die Kindheitsgeschichten seines Vaters zu erforschen. Akribisch genau werden über ein Jahrzehnt lang Chroniken studiert, Gespräche geführt, Aufzeichnungen studiert. Mensing besucht sogar einen Polnischkurs, um in der Muttersprache seines Großvaters Interviews führen und Recherche betreiben zu können. Seine Mühen haben sich auf jeden Fall gelohnt: »Die Legenden der Väter« besticht durch ebendiese Genauigkeit, aber auch durch die sehr persönliche Perspektive auf eine Familie, die in einer historisch turbulenten Zeit bestehen musste. Die »Legenden der Väter« ist eine Suche. Eine Suche nach dem Lebensweg von Joséf Koźlik, einem »fragwürdigen, jedenfalls meist glücklosen Zeitgenossen.«

Artikel online seit 05.10.15
 

Kolja Mensing
Die Legenden der Väter
Verbrecher Verlag, 2015.
Broschur, 288 Seiten
14,00 €
9783957320865

Leseprobe

 


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