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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Anatomin der Aufklärung

Rebecca Messbarger erzählt die spannende Geschichte
von Anna Morandi, einer Anatomin im 18. Jahrhundert.

Von Georg Patzer

 

Sie hatte "eine große Eisensäge; eine kleine Säge mit einem weißen Griff; ein gebogenes Messer zum Abschaben der Knochen; eine Röhre mit einem silbernen Mundstück zum Einführen von Luft", Eisenscheren, Messer, Feilen, Handbohrer, ein Mahlstein, Zangen, Pinzetten, Skalpelle und "eine Kapuze zum Schutz gegen den Leichengeruch". Tausende von Leichen hat Anna Morandi seziert und dann anatomische Modell aus Wachs hergestellt, sie und ihr Mann Giovanni Manzolini. Die Modell hat sie u.a. Professor Givoanni Antonio Galli gegeben, seit 1757 Professor an der Universität Bologna im renommierten Istituto delle Scienze, wo er Hebammen und Chirurgen in der Geburtshilfe ausbildete.

Ganz recht: 1757. Anna Morandi war eine Ausnahmeerscheinung. Wissenschaftlerinnen gab es damals so wenig wie berühmte Künstlerinnen. Nicht einmal studieren durften sie, und schon gar nicht Medizin. 1771 schrieb der Bologneser Anatomen Petronio Ignazio Zecchini in seinem Buch "Della dialettica delle donne ridotta al suo vero principio", die Frau sei nur ein "utero pensante", ein denkender Uterus.

Es hieß, sie sei aus ärmlichen Verhältnissen und habe ihre Ausbildung von ihrem Mann bekommen, aber eigentlich weiß man nicht viel über die Zeit, bis die 26-Jährige 1740 den Künstler und Anatomen Manzolini heiratete: "Es gibt keine Dokumente, die uns sagen würden, wie und wo sie gelernt hat, Latein zu lesen und auch gewandt, mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu schreiben, bei wem sie ihre künstlerische Ausbildung durchlaufen, wie sie ihren Mann kennengelernt hat." Man weiß nur, dass sie eine der berühmtesten Bildnerin von anatomischen Wachsmodellen war, dass sie später "Honorarprofessorin in der Akademie des Instituts der Wissenschaften von Bologna" war, dass sie auch den Koryphäen widersprach, wenn sie beim Sezieren etwas anderes fand als diese. Wie beim Aufschneiden des Auges, dass der untere schräge Muskel am Augapfel sich bis zum Tränensack erstreckt. Vor allem nach dem frühen Tod ihres Mannes, der 1755 an Tuberkulose starb, wuchs ihr Selbstbewusstsein, als sie allein weiterarbeitete.

Geboren wurde Anna Morandi am 21. Januar 1714 (sie starb 1774), das Ehepaar arbeitete im Atelier des Künstlers und Anatomen Ercole Lelli, wo sie für Papst Benedikt XIV. acht lebensgroße Figuren eines Mannes und einer Frau in Wachs schufen. Das Skelett bestand aus echten Knochen, die Muskeln, Sehnen und Bänder waren aus Wachs, die Figuren waren allerdings anatomisch nicht korrekt und nur für Künstler als Studienmaterial vorgesehen. 1746 gründeten die beiden ein eigenes Labor. Sie bekamen von Galli den Auftrag, zwanzig anatomische Wachsmodelle zu den Phasen der Schwangerschaft herzustellen. Sie erhielt Angebote für eine Professur von vielen Universitäten, korrespondierte u.a. mit Voltaire, Kaiser Joseph II. besuchte sie 1769, sogar Katharina die Große wollte sie St. Petersburg holen, woraufhin der Papst ihr ein jährliches Einkommen auf Lebenszeit sicherte.

Die amerikanische Romanistin Rebecca Messbarger beschreibt in einem detailreichen und wunderschön gestalteten Buch nicht nur das Leben dieser Anatomin des Barock, sondern erzählt gleichzeitig natürlich auch von den gesellschaftlichen Konventionen und Konflikten, die diese Frau in einer Welt auszufechten hatte, die von Männern beherrscht war. Sie war "hochwillkommen als Wahrzeichen des kulturellen Wiederaufstiegs der Stadt und ein gefeierter Beweis für deren Unvergleichlichkeit, was die Verbindung von Aufklärung und Fortschritt mit gesellschaftlichem und intellektuellem Austausch anging." Messbargers Kulturgeschichte, aufgehängt an einer außergewöhnlichen und souveränen Frau, die trotz aller ausgebreiteten und gut aufbereiteten Materialien immer noch ein Geheimnis bleibt, ist allerdings nicht immer einfach zu lesen, denn sie ist eine Freundin allzulanger Satzperioden. Dennoch bleiben die Befunde und Erzählungen spannend und aufschlussreich.

Zu loben ist auch die Buchgestaltung der international ausgezeichneten Designerin Susanna Dulkinys mit den Abbildungen der Wachsfiguren und -modelle, die das Leben von Anna Morandi anschaulich macht. Das geht bis zum Einband, der sich anfühlt wie eine Haut.

Artikel online seit 13.02.16

 

Rebecca Messbarger
Signora Anna, Anatomin der Aufklärung
Eine Kulturgeschichte aus Bologna
Übers. aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber
Die Andere Bibliothek 2015
334 Seiten
42 Euro
978-3-84770368-6

 


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