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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Auf dem Weg ein vertrockneter Feigenbaum

Der erstmals in deutscher Übersetzung erschienene Roman
»Judas« von Amos Oz erzählt von Liebe und Einsamkeit,
von Selbstfindung, Religion und nationaler Identität.

Von Laura Ott

 

Die Ausgangsposition des Romans wird schnell geklärt: Schmuel Asch, Student, fühlt sich beschissen. Seine Freundin macht Ernst und verlässt ihn, um ihren früheren Freund zu heiraten. Seine Eltern können ihn wegen des Konkurses der eigenen kleinen Firma nicht mehr finanzieren. Und sein Studium? Das stagniert in der Phase der Abschlussarbeit über »Jesus in den Augen der Juden«. Schmuel steckt fest, bricht das Studium ab und außerdem den Kontakt zu Eltern und Freunden. Als er nicht weiter weiß, findet er die Anzeige: »Einem alleinstehenden Studenten der Geisteswissenschaften, sensibler Gesprächspartner mit historischem Wissen, wird freies Wohnen und eine bescheidene monatliche Unterstützung geboten, wenn er bereit ist, einem behinderten Mann von siebzig Jahren jeden Abend fünf Stunden Gesellschaft zu leisten, einem kultivierten, gebildeten Menschen.« Schmuel reagiert. Für unbestimmte Zeit wird das Haus in der Rav-Albasgasse 17 im Viertel Sche’arei Chesed zu seiner Wohn- und Arbeitsstätte.

Einsamkeit, zu was bist du gut?

Aus irgendeinem Grund wird Schmuel vorerst bleiben. Irgendetwas gibt es da, in diesem dunklen, stillen Haus, in dem Geheimnis und Vergangenheit kühl durch die Zimmer streichen. Mit seiner neuen Arbeit lernt Schmuel die zwei Menschen kennen, die in der nächsten Zeit zu seinen einzigen Ansprechpartnern werden. Gerschom Wald sitzt im Rollstuhl und begegnet Schmuel mit zynisch-verbitterter Ironie. »Schmuel stellte verwundert fest, dass, im Gegensatz zu der fröhlichen Stimme mit dem ironischen Ton, die blauen Augen bewölkt waren, voller Trauer.« Atalja Abrabanel wohnt auch im Haus und pflegt den Alten. Sie ist 45 und unnahbar. Ihr langes braunes Haar fällt sanft über ihre linke Brust und stets ist sie mit Veilchenduft umgeben – ein Symbol für verborgene Sexualität. Schmuel fühlt sich direkt zu ihr, die viel älter ist, hingezogen. Immer wieder sind da Schmuels unerfülltes Verlangen, die kurzen Flirts bei einer Tasse Kaffee in der Küche, Ataljas Zurückweisungen. Dazwischen die langen Sitzungen mit Gerschom Wald, der Schmuel schon bald warnt: »Hören Sie bitte. Verlieben Sie sich nicht in sie.« Im Laufe der Geschichte kommen Schmuel immer wieder die Tränen. Der Grund dafür ist Mitleid, mit den beiden, aber auch mit sich selbst.

Diese zusammengewürfelte Dreiecksbeziehung wird letztendlich zum Rettungsanker für jeden: Gerschom Wald lässt sich auf Schmuel ein und wird vom Dozierenden zum Diskutierenden. Atalja empfindet wieder etwas, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Und Schmuel muss plötzlich mit einer Einsamkeit leben, die sich in der Schwere doch schon mal von seiner unterscheidet. Erstere ist nämlich für immer. Wahrscheinlich ist es dieses gemeinsam empfundene Gefühl der Verlorenheit, das dazu führt, dass Schmuel das Vertrauen der beiden gewinnt und beginnt, die Zusammenhänge zwischen Gerschom Wald, Atalja Abrabanel und dem Haus, in dem sie wohnen, zu ergründen.

Judas und Israel und die ganze Welt

Die täglichen 5 Stunden füllen der alte Gerschom Wald und Schmuel mit Gesprächen über Politik, Religion und die Geschichte Israels. Es geht um die Staatsgründung und die Ideale des Zionismus, um die jüdisch-arabische Konfliktsituation wie die andauernden jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen. Gleich zu Beginn wird es gesagt: »In dieser Geschichte gibt es so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt.« Angestoßen wird diese Frage durch eine Neuinterpretation des Begriffs des Verräters am Beispiel Judas.

Plötzlich, Kapitel 47, findet sich der Leser zurückversetzt in der Zeit. Schmuel, der sich eben noch über Ataljas Verhalten den Kopf zerbrach, ist nun nicht mehr da, dafür ein anderer: Es ist Judas, der an den Feigenbaum denkt, den Jesus auf dem Weg nach Jerusalem verfluchte, weil der keine Früchte trug. Der Feigenbaum vertrocknete auf der Stelle, der Fluch hatte ihn getroffen und Judas, der sich wundert, woher der Hass Jesu auf einen Baum kommt, redet sich ein, er hätte merken müssen, »dass Jesus trotz allem nur aus Fleisch und Blut war, so wie wir.« (S. 297) Er merkt es aber nicht und glaubt weiterhin, dass Jesus der Gottessohn ist. Erst als Jesus am Kreuz stirbt und seine Vermutungen unbestätigt bleiben, gibt Judas auf und bringt sich um.

Mehr und mehr entwickelt sich die These, dass Judas Jesus nicht für Geld verriet, sondern zu dem Zweck, dass sich die Göttlichkeit Jesu endlich - durch das Wunder der Unsterblichkeit - offenbare. Das heißt, so formuliert Schmuel, dass es das Christentum ohne Judas‘ »Verrat« nicht gegeben hätte. Der Roman fragt weiter, ob eine alternative, friedliche Lösung der Staatsgründung 1948 möglich gewesen wäre. Dieser Ansatz zeigt sich in der Person des bereits verstorbenen Shealtiel Abrabanel, der Ataljas Vater und Gegenspieler der Politik Ben Gurions war. Abrabanel stand in gutem Kontakt mit dem arabischen Volk, weshalb die israelische Regierung ihn als Verräter bezeichnete.

Amos Oz, der 1939 in Jerusalem geboren wurde, ist seit dem 6-Tage-Krieg in der israelischen Friedensbewegung aktiv und befürwortet eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensischen Konflikt. Außerdem ist er Mitglied der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Peace now. Die Suche nach einer friedlichen Lösung spiegelt sich auch im Roman Judas wider, der nach Mein Michael (Suhrkamp 1979) und Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (Suhrkamp 2004) ein weiteres Mal im Jerusalem Ende der 50er Jahre spielt.

»Er stand da und überlegte«

Mit seinem Roman Judas entwirft Amos Oz ein Stimmungsbild, dass Stück für Stück an Genauigkeit gewinnt. Durch die Psychogramme der drei Hausbewohner, die sich im Laufe des Buches wie ein Puzzle zusammensetzen lassen, entsteht eine Atmosphäre, die den Leser nur langsam, aber dann umso mehr erreicht. Durch immer wiederkehrende Momente wie der ewige Veilchenduft Ataljas oder die depressiven Phasen Schmuels, in denen einfach nichts passiert und die einen selbst ganz phlegmatisch werden lassen, wird der Leser in eine Stimmung gezwungen, die der in dem dunklen Steinhaus sehr zu ähneln scheint. Kurz bevor man denkt, jetzt reicht’s, erwacht Schmuel aus seiner Lethargie und befreit den Leser, indem er ihn auf seine Streifzüge durch Haus, Vergangenheit und Jerusalem mitnimmt. Judas ist auf ganz eigene Art und Weise geschrieben. Einfach geschildert und zugleich treffsicher detailliert entwirft Amos Oz das Szenario einer Begegnung dreier Leute, die sich fern und nah zugleich sind. Ebenso der Stil: Oz schreibt sich ganz nah an den Leser heran und bricht dann ab, wie eine Welle am Strand, die einen kaum am Fuß berührt. Ob man dieser Welle ins Wasser folgen will, muss jeder Leser selbst entscheiden. Sich kreisförmig wiederholend scheint alles verbunden: Judas und Israel und die ganze Welt, die Einsamkeit, die Liebe und die eigene Identität. Und so landet Schmuel letztendlich in einem Dorf, in einem Hof, vor einem vertrockneten Feigenbaum.

Übersetzt wurde Judas von Mirjam Pressler, die dafür hochgelobt wurde und den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 gewann.

Artikel online seit 11.05.15
 

Amos Oz
Judas
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp
335 Seiten
978-3-518-42479-7
22,95 €

Leseprobe

 


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