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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Polyphone Wirklichkeit

Ulrich Peltzers Roman »Das bessere Leben«
 ist der Versuch
einer ästhetischen Darstellung der Mittelschicht im globalen
Kapitalismus. Und das gelingt ihm mit großer Könnerschaft.

Von Lothar Struck

 

Es gibt drei Hauptfiguren in Ulrich Peltzers Roman "Das bessere Leben". Es beginnt mit Sylvester Lee Fleming. Zu Beginn des Buches ist er in einem Hotelzimmer in Sao Paulo, kann nicht schlafen, erinnert sich seiner Studentenzeit in den USA und der Zeugenschaft des Kent-State-Massakers, als 1970 die amerikanische Nationalgarde in eine studentische Kundgebung gegen die Ausweitung des Vietnamkrieges auf Kambodscha schoss. Es gab vier Tote, unter anderem Allison Krause, eine gute Freundin von Fleming. Er war damals ein kleiner Rauschgiftdealer. Inzwischen versichert er im Maßanzug Unternehmen unter anderem gegen Forderungsausfälle oder hilft auch schon einmal bei Entführungen, indem er Lösegeldübergaben koordiniert. "Asset Recovery-Insurance" steht nichts- wie vielsagend auf seiner Visitenkarte (die angegebene Mailadresse ist sicherheitshalber falsch).

Und dann Jochen Brockmann, ein gut bezahlter "Sales Manager", tätig in einer italienischen Maschinenbaufabrik; er lebt und arbeitet seit einiger Zeit in Turin. Er hält sich zu Beginn des Romans Zürich auf, wo er ein Nummernkonto eingerichtet hat, welches irgendwann das Erbe seiner Tochter werden soll. Es sind, wie man später erfährt, 650.000 Euro (und man fragt sich, ob für diese Summe ein Schweizer Bankier überhaupt seinen Kugelschreiber hervorholt). Peltzer schildert Brockmann als sympathischen Aufsteiger in die obere Mittelschicht mit Bildungsbürgerhintergrund, der in kleinem Rahmen Kunst-Zeichnungen sammelt. Die dritte Figur ist Angelika Volkhardt, die als Managerin in einer Reederei in Holland arbeitet. Volkhardt wurde in der ehemaligen DDR sozialisiert.

Der Roman spielt im Jahr 2006, also vor dem Ausbruch der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Volkhardt ist damals um die 45 Jahre alt, Brockmann 51, Fleming dürfte der älteste sein. So unterschiedlich die drei sind - sie eint ein diffuses, nicht rein ökonomisch geprägtes Unbehagen am weiteren Fortgang der Dinge wie bisher. Ihnen ist bewusst, dass ihre "besten Jahre" bald vorbei sein könnten (oder vielleicht sogar bereits vorbei sind). Ob gesundheitlich wie bei Fleming, der eine "teuflische Pein in seinem Kopf" feststellt und seit Jahren Erinnerungsprobleme hat oder beruflich wie Brockmann, der am Ende tatsächlich entlassen wird.

Dabei gibt es zahlreiche Nebenfiguren, etwa die beiden Trader Roland Prader und Felix Harnack, die unter anderem dubiose Geschäfte mit Generika betreiben. Oder das schwule Paar Ian Cardew und Peter Möhle (Möhle war ein ehemaliger WG-Mitbewohner von Brockmann aus Londoner Zeiten). Auch Flemings Gehilfe Ángel gehört dazu, ein Art Faktotum fürs (kriminelle) Grobe. Allesamt Personen, die in diesem Roman eher wie dekorative Möbelstücke wirken und nur gebraucht werden, um die Komplexität der Weltenläufte zu illustrieren.

Begegnungen

Meist werden die Geschichten der drei nebeneinander erzählt. Höhepunkte sind dann die paarweisen Begegnungen der Hauptfiguren (zu Dritt treffen sie nicht aufeinander und wissen auch nicht voneinander, was durchaus relevant ist). Volkhardt und Fleming kennen sich seit 1994. Es begann mit einem "harten Blickfick" in einem Hotel. Zuweilen mailen und telefonieren sie noch miteinander. Brockmann trifft Fleming in Südamerika, um vertretungsweise für einen Kollegen ein Geschäft einzufädeln. Man speist üppig, trinkt viele und erlesene Weine. Er stuft Fleming sofort als Soziopath ein. Unklar bleibt allerdings, ob er in kriminelle Aktionen Flemings verstrickt wird, der ihm dubiose Vorschläge unterbreitet. Brockmann im letzten Viertel des Buches Angelika Volkhardt. Den Status der "Affäre" überspringen sie; zwischen den beiden entwickelt sich rasch eine rührende, zuweilen fast kitschig erzählte Liebesgeschichte. Beide scheint es zu dämmern nicht mehr endlos Zeit zu haben. In den Zeiten gepflegter Bindungslosigkeiten wird die Bindung irgendwann wieder wichtig.

Zum elliptischen Erzählen Peltzers gehören ausufernde Nebenstränge. Volkhardts Erinnerung an eine Russisch-Lehrerin führt zu einer Szene, in der eine Art Schauprozess im Moskau der 1930er erzählt wird, die die Lehrerin als Kind mitbekommen haben dürfte oder ihr später berichtet wurde. Die Szene ist ein Schmuckstück, dramaturgisch beeindruckend die Dialoge. Dennoch erscheint sie im Umfeld dieses Romans in dieser Länge deplatziert. In einer anderen, sehr kurzen anderen Szene, wird der Leser auf einen Friedhof geführt, auf dem eine nichtgenannte Person ein Grab einer 19jährigen schmückt. Es wird nahegelegt, Fleming als Besucher zu vermuten, der Krauses Ruhestätte immer noch regelmäßig besucht. Hier zeigt sich die "weiche" Seite des Bösewichts. Später wird Jochen Brockmann zusammen mit seiner Tochter die Museuminstallation Partially buried in three parts besuchen, die das Massaker von 1970 und Krauses Tod thematisiert. Ein (Erzähl-) Bogen schließt sich.

Die Gefangenschaft der Realität

Die atmosphärische Dichte dieses Buches ist zuweilen mit Händen zu greifen. Das Getrieben-Sein der Protagonisten wird nicht nur behauptet, sondern plastisch. Und man sieht, riecht und hört förmlich die Ödnis der Hotels, Restaurants und Meetingräume, wobei es keine Rolle spielt, dass es zumeist Luxusgebäude sind, die frequentiert werden. Um die einprasselnde polyphone Wirklichkeit mit all ihren Gleichzeitigkeiten einzufangen, bedient sich Peltzer eines besonderen Verfahrens: Er setzt einzelne, sich simultan neben dem Hauptereignis abspielende Handlungen oder Gedankenströme einfach im Klammern. So entstehen lange, mäandernde Assoziationsströme, welche eine wimmelbildähnliche Wirklichkeit evozieren.

Niemand ist vor der Maschinerie des "Weiter so" gefeit. Zufällig begegnet Brockmann in Zürich dem ehemaligen Schulfreund Harald Söhnker, der ein berühmter, genialischer Mathematikprofessor wurde und zufällig dort einen Vortrag hält. Die Begegnung mit Söhnker wird zu einem weiteren Steinchen im Selbstvergewisserungsmosaik Brockmanns. Wenn man seinen Namen in eine Suchmaschine eingeben würde, so denkt Brockmann, wäre der erste Treffer die Aktiengesellschaft, für die er arbeitet. Und sein Leben sonst? "Geschieden, Freundinnen, immer noch Kinogänger, dreieinhalb Sprachen, in den letzten Monaten häufig merkwürdig zerstreut, sich mit Idioten herumschlagend, die an einem Stuhl sägen, auf dem sie selber sitzen wollen (was ein Widerspruch ist, an dem sie scheitern werden, Gesindel), Mann ohne Hobbys, Garten, Ferienhaus, aber, nicht zu bestreiten, Sammler… was eine Schwäche wäre, wenn man es drauf anlegte. Leben im Schnelldurchlauf…". Fragen nach "Peps", dem anarchistischen Mitschüler, der alle Mädchen haben konnte (nach 30 Jahren immer noch Groll bei Brockmann weniger darüber als über dieses Posieren in billiger Verweigerungshaltung). Dann ein Anruf auf Söhnkers Mobiltelefon und der Seufzer ("Wenn man nicht alles selber macht"). Eine Koryphäe, die nicht einmal die Zeit hat, einen Espresso zu trinken. "Sie erhoben sich im selben Moment, standen sich zaudernd gegenüber, wie denn jetzt, wie kriegt man das hin?" Und was, wenn man sich danach nie mehr begegnet?  

Einmal wird es für einen kurzen Augenblick, auf 13 Seiten, essayistisch. Keine erkennbare Figur spricht, eher ein Chor wie aus einer griechische Tragödie. Wie wäre es, heißt es dort, die "Gefangenschaft einer Realität" zu bejahen? Wäre das nicht der erste Schritt, diese Ketten zu überwinden? "Anstatt zu jammern von morgens bis abends, dass die Dinge nicht so laufen, nie so laufen, wie man es sich ausgemalt hat. Sich in die Wirklichkeit stürzen wie ein Leser in die Seiten eines Buches (nur so zum Vergleich), besteht denn nicht darin die wahre, die einzige und letzte Freiheit?" Ein vorauseilender Pragmatismus vielleicht, im Wissen der Sinnlosigkeit utopischer Lebensentwürfe? "Schön wär's, wenn man das könnte, Ideen abschießen wie Travis Bickle herbeihalluzinierte Gegner, über die Schulter in einen Spiegel schauend; um nicht mehr von ihnen gejagt zu werden, Gespenster vom Grund des Bewusstseins…" Hier schimmert ohne ihn zu erwähnen Karl Poppers Diktum durch, Ideen sterben zu lassen und nicht Menschen. Fragt sich nur noch, welche Ideen.

Zum letzten Mal die Filme im Partykeller

Gegen Ende des Romans besucht Brockmann seine Eltern, die ihre diamantene Hochzeit feiern. Fast alle kommen nach Krefeld an den Niederrhein. Hier ist noch einmal eine Epoche zu betrachten, die längst vergangen ist. "Die Möbel von Interlübke irgendwie zeitlos", Rieslingsekt, Canapés, Gespräche. Elke, die Schwester, "ein Abitur mit Einskommawas. Das System attackieren, aber Vorzugsschülerin…" Sie will nach der Feier mit ihren Geschwistern reden wie es "weitergehen soll, grundsätzlich" mit den Eltern, die "nachließen, rapide", "Ausfälle, Vergesslichkeiten". Diskussionen mit Jochen, der freiwillig den Advocatus Diaboli gibt (und nach dem "warum" fragt) und all das verkörpernd, was den anderen nicht gefällt "die Wirtschaft, die Finanzindustrie", aber immerhin "kein erbitterter Streit wie einst, kein Hohn, den man ausschüttete über alle, die nicht im Besitz der absoluten Wahrheit waren (jeder außer uns)…sind wir jetzt vernünftig geworden?" Frieder, der Bruder, ein "beinharter Atheist", singt dann im Gottesdienst mit und am späten Abend im Partykeller des Elternhauses, die Super-8-Filme der Kindheit. "'Die gucken wir jetzt aber nicht', sagte Elke. […] 'Beim nächsten Mal vielleicht.' 'Wann, bitte, soll das denn sein?', fragte Frieder und zog die schwarze Schutzkappe vom Objektiv." Ein letzter Blick zurück.

Ulrich Peltzers "Helden" haben nicht die Welt verändert. Jetzt, mit um die 50, halten sie inne, und bemerken, dass sie es eigentlich nie wollten (abgesehen von der Machbarkeit). Als Gescheiterte begreifen sie sich nicht; eher als Überlebende, die im Dschungel der Globalisierung bisher ganz gut durchgekommen sind (Mittelschicht halt) und nun nach dem weiteren Weg suchen, weil sie fühlen, dass es vielleicht nicht mehr so weitergeht. Brockmann schaut Kinderfilme, Volkhardt erinnert sich an die Utopien in der DDR, an Menschen, die an die Staatsideologie geglaubt hatten (obwohl sie von Schauprozessen wussten). Aber das Mitschwimmen im Kapitalismus (und sei es nur als kleines Rädchen), der Sieg des "Westens"  – symbolisiert im Roman durch Flemings Zwielichtigkeit – ist auch nicht "das bessere Leben".

Trotz der Ideologie eines schrankenlosen Individualismus - die Reflexionen, das Rekapitulieren des bisherigen Lebens zeigt den Verlust ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte an. Das ist etwas anderes als eine Suche nach einer verlorenen Zeit. Der Rückblick ist nur noch ein letztes Mal, bevor es darum geht, den Rest des Lebens auf die Zukunft zu richten, auf ein besseres, einfacheres Leben. (Und daher ist der Titel nicht, wie es ein Rezensent sagte, ironisch gemeint.)

Der Grundton des Buches ist melancholisch, keineswegs trübsinnig. Peltzers Sprache ist (von wenigen Ausnahmen abgesehen) im Verhältnis zum verhandelten Gegenstand wohltuend unaufgeregt, aber nicht lakonisch (das will der Autor auch gar nicht). Das Urteilsvermögen des Lesers wird nicht mit Parolen belästigt. Die Etiketten, die man diesem Roman aufgeklebt hat, sind so zahlreich wie unzureichend. Sigrid Löffler nannte ihn "Generationenroman" und "Weltwirtschaftsroman". Andere entdecken eine Abrechnung mit dem Kapitalismus bzw. dem (sogenannten) Neoliberalismus (der alles menschliche Handeln in ökonomische Kennzahlen transformiert) oder nennen ihn gleich einen "Thriller". Letzteres stimmt nicht, weil der Roman noch viel komplexer ist (zuweilen gerade daran ein bisschen leidet), ersteres mag stimmen, aber niemals erhebt Peltzer dabei den Zeigefinger. Eine billig zu habende moralische Entrüstung ist nicht seine Sache.

Wenn der Hegelianer zum Zyniker wird

Die Kunstfigur im Buch ist Fleming. Das Feuilleton einigte sich darauf, ihn als modernen Mephisto zu charakterisieren (so in der SWR 2-Bestenliste-Sendung und auch hier, hier und hier), was zwar gut klingt, aber ungenau ist, denn Peltzers Roman fehlt eine antipodische Figur wie Faust (oder Dr. Faustus). Ihn als das potentielle Böse einzuordnen, wäre zu einfach gedacht. Fleming ist mit einem hegelianischen Geschichtsbild ausgestattet. Im Laufe der Zeit mutiert er immer mehr zum Zyniker. Nur in schwachen Stunden fragt er sich "warum, warum, warum?" und entdeckt überall "fortschrittsgläubige Narren, die von Formeln träumen, die sie erlösen könnten". Von Weltgeist keine Spur mehr. Übrigens kann man in einer kleinen Bemerkung im Buch von Jochen Brockmanns umfangreicher und freiwilliger Lektüre von Hegels Werken "von A bis Z, Paragraph für Paragraph" in der Jugend lesen. Es sind diese feinen, fast unsichtbaren Fäden, die diesen Roman durchziehen und die ihn auch noch bei der zweiten, dritten Lektüre interessant machen.

Es bleiben Fragen. Ist Peltzers Roman ein Plädoyer für den Rückzug ins Private? Wieder muss man sich klarwerden, dass er 2006 spielt und der Leser einen Informationsvorsprung hat, was seitdem ökonomisch geschehen ist. Diejenigen aus den Baby-Boomer- und 68er-Generationen, die es in die (gehobene) Mittelschicht geschafft haben, verorte(te)n plötzlich den Globalisierungsstrudel (der ihnen so lange gewogen war) als fragil. Sie hatten ihre emotionalen, transzendentalen und metaphysischen Bindungen abgelegt zu Gunsten eines Erfolgs- und Fortschrittsdenkens. Dessen Strahlkraft lässt nun rapide nach; es wirkt plötzlich reizlos wie eine 80er Jahre-Einbauküche. Die Zukunft muss organisiert werden; sie ergibt sich nicht mehr automatisch. Äquivalent dazu die Unklarheiten im Roman, wie es mit Angelika und Jochen weitergeht. Da ist diese merkwürdige Szene am Schluss, die Ahnungen beim Leser auslösen; Ahnungen von Flemings Einfluss auf die Liaison Brockmanns und Volkhardts.

Wer jemals seine Nase in die Brockmann- und Volkhardt-Welt hineingehalten hat, kann die aufkeimenden Zweifel der Protagonisten vielleicht eher nachvollziehen als Feuilletonisten, die ihre Wirtschafts-Kenntnisse aus dem Handelsblatt und Spiegel-Reportagen beziehen. Die Kritik einiger Rezensenten an diesem Buch resultiert wohl daraus, dass sie einen realistischen womöglich moralinsauren Roman erwartet haben, der die gängigen Genrebilder von "Globalisierung" oder "Finanzwelt" wie sie sich Krethi und Plethi vorstellen, reproduziert. Aber es handelt sich um Literatur. Die Künstlichkeit, d. h. das zum Teil wüst wirbelnde Zufallsprinzip, welches die Figuren in Beziehung(en) zueinander setzt, ist so notwendig wie die Zwielichtigkeit von Fleming. Peltzer will sich gerade keinem kruden Realismus hingeben oder eine weitere "Doku-Fiction" mit Schlüsselroman-Qualitäten abliefern. Peltzers Roman ist der Versuch einer ästhetischen Darstellung der Mittelschicht im globalen Kapitalismus. Und das gelingt ihm mit großer Könnerschaft.

Artikel online seit 07.12.15

 

Ulrich Peltzer
Das bessere Leben
Roman
S.Fischer
448 Seiten
€ (D) 22,99
| € (A) 23,70
978-3-10-060805-5

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