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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Der beste Freund

Über den großartigen Film »Enklave« von Goran Radovanović

Von Lothar Struck

 

Immer wieder besucht der österreichische Schriftsteller Peter Handke die serbische Enklave Velika Hoča. Mindestens zwei Mal stiftete er in den letzten Jahren Preisgelder, um die Infrastruktur des Ortes zu verbessern. 2009 erschien von ihm "Die Kuckucke von Velika Hoča", ein Buch, welches eine seiner Reisen erzählerisch und auch dokumentarisch festhielt.

Handke erzählt und beschreibt das Leben in dieser serbischen Enklave inmitten des albanischen Kosovo, befragt die dort lebenden Menschen, versucht sich als Reporter (was er bald aufgibt) und muss feststellen, dass auf zielgerichtete Fragen ungern, kurz und ausweichend geantwortet wird. Auf die Frage ob sich seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo etwas für sie geändert habe, antwortete einer der Befragten zum Beispiel: "Es ist ruhig". Erst wenn Handke keine Fragen mehr stellt, sondern die Menschen erzählen lässt, formt sich ein Bild. Es ist das Bild eines aus jeder Zeit gefallenen Gemeinwesens, vollkommen zukunftslos. Er trifft ein paar Zusammensitzende, unter ihnen der "halbverelendete Sohn des einstigen…Ortsvorstands", der Bruder eines früheren Fabrikdirektors und der ausgediente aber irgendwie immer noch tätige Schuster. Sie treffen sich in einem fensterlosen Container, den sie "Rambouillet" nennen. In Deutschland muss man die Bedeutung dieses Sarkasmus erklären – es ist eine Anspielung auf die sogenannten Friedensverhandlungen zur Kosovo-Problematik 1999 in eben jenem Pariser Vorort. Verhandlungen, die am Ende scheiterten, weil die jugoslawische Seite die Bedingungen der westlichen Teilnehmer nicht akzeptierten, wobei der einstmalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger in einem Interview bekannte, dass kein "Serbe mit Verstand" diese Bedingungen hätte akzeptieren können. In diesem tristen Container, in dem fast nur Plastikstühle stehen, verbringen diese Menschen ihre Zeit.

Und dann macht sich Handke auf den Weg, zu Fuß. Auf einen Weg aus der Enklave in das albanische Nachbardorf, mit dem seit dem Krieg keine Verbindung mehr besteht, nicht einmal mehr zwischen den beiden Geistlichen, dem Popen und dem Imam. Es herrschte (herrscht?) Sprachlosigkeit. Sein "Dahinwandern" empfand Handke als ein Eindringen, eingebettet in eine seltsame Stille - kein Hund bellte, kein Mensch begegnete ihm, kein Traktor fuhr. Am Ende kam es ihm vor, als wäre er diesen Weg nur im Traum gegangen. Einzig der Ruf der Kuckucke – kukavice und qyqe – bildete so etwas wie einer Klammer zwischen diesen nahen und doch so fernen Welten.

Wenn vielleicht nicht unbedingt gottverlassen, so sind die serbischen Enklaven im Kosovo mindestens öffentlichkeitsverlassen. Peter Handkes Erzählung ist einer der wenigen Beiträge, der sich mit der Situation dieser Menschen beschäftigt. Das Fernsehen, die Zeitungen – sie berichten immer nur dann, wenn es "Zwischenfälle" gibt. Im Augenblick wird dieses Gebiet jedoch irgendwie "befriedet". Es ist eben "ruhig".

Ruhig beginnt auch Goran Radovanovićs Film Enklave ("Enklava" im Original). Ein Junge (Filip Šubarić) liest aus einem Buch vor. Man erkennt sofort, dass er in einer Schule ist. Aber er ist alleine, was man erst etwas später sehen kann. Musste er etwa nachsitzen? Die Lehrerin ist zufrieden mit ihrem Schüler Nenad. Aus dem Dialog erfährt der Zuschauer: Nenad ist der einzige Schüler. Die Stunden sind nun zu Ende; es geht nach Hause. In nahezu jedem anderen Ort der Welt kommt nun irgendwann ein Schulbus. Aber hier kommt ein Panzer mit der Aufschrift "KFOR". Nenad steigt ein, wie selbstverständlich. Im Panzer ist noch ein anderer Fahrgast, der Pope, der mit dem Jungen weiter übt.

Nenad fährt nach Hause, aber hierfür geht durch sogenanntes albanisches Gebiet. Daher der Panzer, der zuweilen auch mit Steinen beworfen wird. Nenad lebt mit seinem Vater Vojislav (Nebojša Glogovac) und dem Großvater (Meto Jovanovski) auf einem kleinen Hof. Seine Mutter hat den Hof verlassen. Vojislav hat zwei Kühe und so etwas wie eine Schreinerwerkstatt. Er trinkt, ist jähzornig. Als Nenad mit seinen ausnahmslos albanischen Spielkameraden eines Nachmittags schwimmen geht, verliert er die Hose. Zu Hause angekommen, wird er von seinem Vater für diese "Schwäche" verprügelt.

Mit dem todkranken und bettlägerigen Großvater spielt Nenad manchmal Domino. Ansonsten wartet man auf das Zubettgehen. Abends fällt immer mal das Licht aus; eine Schikane der Anderen. Immerhin bekommt der Pope eine neue Glocke. Etwas, was man jetzt am wichtigsten brauche, kommentiert Vojislav sarkastisch. Die Perspektivlosigkeit mit Händen zu greifen wird in knappen wie präzisen Bildern lakonisch, unaufgeregt erzählt. Da Leben in der Enklave ist eine einzige Kommunikationslosigkeit zwischen den beiden Volksgruppen. Es ist ein Belauern, ein feindseliges Nebeneinanderleben.

Als der Großvater stirbt, reist Nenads Tante zur Beerdigung in einem Bus in die Enklave. Der Bus wird mit Steinen beworfen. Jetzt bräuchte man einen Panzer. Ein Stein trifft die Windschutzscheibe; der Fahrer und einige andere Fahrgäste werden verletzt. Zu allem Überfluss werden sie auch von der kosovarischen Staatsmacht, symbolisiert von drei Polizisten, schikaniert und dürfen, weil ihr Bus beschädigt ist, nicht weiterfahren. Sie müssen zu Fuß gehen. Der Chef der drei Polizisten, Čekič, ist Serbe. Er hat sich angepasst.

Parallel erzählt der Film nun die Beerdigung des Großvaters, eine albanische Hochzeit und ein eskalierendes Spiel der Dorfbuben. Bashkim, der "Anführer" (Denis Murić), hat eine Pistole von den Verwandten entwendet und schießt im Spiel um sich. Durch einen Querschläger verletzt er sich selber, während Nenad ausgerechnet unter der neuen Glocke licht- und nahezu luftlos eingeschlossen wird.

Radovanovićs Film zeigt intensive Bilder. Zuweilen kontrastiert er aber auch das Elend mit einer grotesken Heiterkeit. Beispielsweise die Szene, in der zunächst der ungepflegte und zum Teil zerstörte serbische Friedhof, der im "Albanergebiet" zu liegen scheint, gezeigt wird. Und dann braust der KFOR-Panzer mit dem Sarg des Großvaters obenauf durch das Gelände, damit der Termin der Beerdigung eingehalten werden kann.

Kurz vor der Beerdigung des Großvaters bekommt Vojislav Besuch von den drei Polizisten. Weil er einige Tage vorher potentielle Viehdiebe cholerisch mit einer Schusswaffe vertrieben hatte, wurde er angezeigt. Während die albanische Gemeinde Waffen mit Wissen der Polizei hortet, filzt sie die versteckten Gewehre von Vojislav und nimmt ihn fest. Auf der Polizei bietet ihm eine KFOR-Gesandte einen Job bei der örtlichen Polizei an. Ein Angebot für die Zukunft, ein "Zeichen der Versöhnung", so die Frau. Aber der störrische Serbe lehnt sofort ab, nimmt lieber eine Strafe an. Währenddessen bringt der Pope den verletzten und von ihm verbundenen Bashkim zu den Eltern. Auf die Frage, wer ihn angeschossen habe, lügt Bashkim. Es wäre ein Serbe gewesen.

Dann gibt es einen Schnitt. Man sieht Nenad mit seinem Vater im Zug, wenig später in Belgrad in einer Schule. Hier gibt es eine richtige Klasse mit vielen Mitschülern. Aber Nenad ist auch hier Außenseiter: man nennt ihn "den Albaner", ähnlich also wie man ihn im Kosovo nur als Serben wahrnahm. Dann soll er einen Aufsatz schreiben mit dem Titel "Mein bester Freund". Nenad denkt kurz nach und beginnt dann zu schreiben.

Er schreibt über seinen besten Freund in der Enklave. Radovanović verbindet dieses Aufschreiben mit dem Zeigen Rettung Nenads. Diesen Umstände sollen hier nicht verraten werden, aber es ist eine rührende (nicht zu verwechseln mit rührselige) Wendung, eine Friedenswendung, die einen Gran Zuversicht vermittelt. Eine Wendung, die vielleicht irgendwann einmal die Gräben wenn nicht zuschüttet, so doch überwindet. Eine Wendung, die einen neuen Geist des Anfangens ermöglicht. Es ist vielleicht auch ein Geist des Vergessens, des Vergessens der alten Geschichten, ein Abschied von den angeblich so identitätsstiftenden Mythen, die am Ende den Unfrieden mit den anderen immer nur neu rechtfertigen, statt eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln.

Ich habe den Originalfilm gesehen, mit englischen Untertiteln. Hier sind die beiden Sprachen – albanisch und serbisch – im Schriftbild unterschieden. Ich hoffe, dass diese Unterschiede irgendwie erhalten bleiben, wenn der Film ab heute im Kino gezeigt wird. Gerade in der Zweisprachigkeit symbolisieren sich die Differenzen. Erst ganz zum Schluss wird deutlich, dass die Sprache alleine keine Identität stiftet – Nenad bleibt auch in Belgrad der Paria.

"Enklave" ist das, was man "großes Kino" nennt. Die Bilder wird man nicht mehr so schnell los, sie setzen sich fest und bleiben. Ein großartiges, ein episches Meisterwerk.

Artikel online seit 17.02.17

 

Enklava, D/SRB 2015, 92 Min.,
Regie: Goran Radovanović ,
Drehbuch: Filip Subarić, Nebojsa Glogovać, Anica Dobra

 


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