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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Bar jeder Zivilisation

Heinz Reins apokalyptischer Roman über die finale Schlacht um Berlin
war Jahrzehnte ein vergessenes Buch. Klaus Schöffling hat das literarische
Höllengewitter ohne Scheu vor Pathos erfolgreich reanimiert.


Von Gregor Keuschnig
 

Spätestens in der Schule kam man an ihnen nicht mehr vorbei. Da war der Kriegsheimkehrer Beckmann aus Borcherts "Draußen vor der Tür", der Soldat Feinhals und die Architektenfamilie Fähmel aus Bölls Werken, später noch Clown Schnier und dessen Ansichten. Oskar Matzerath kannte jeder (meist allerdings ohne das Werk en détail gelesen zu haben). Seltener waren schon die Erlebnisse mit dem desillusionierten Bundestagsabgeordneten und Schöngeist Keetenheuve (Koeppens "Treibhaus") oder dem Maler Ludwig Nansen aus der 60er Jahre "Deutschstunde" (Siegfried Lenz). All diesen Figuren ist gemein, dass sie heute noch Erinnerungen hervorrufen und Referenzgrößen der deutschen Nachkriegsliteratur wie selbstverständlich herbeizitiert werden. Aber wer kennt eigentlich Joachim Lassehn, den Deserteur aus Heinz Reins "Finale Berlin"? und wer kennt dieses Buch, das bereits 1947 erschienen war und in vehement-drastischer Sprache die Schrecken des Krieges nicht nur erzählte, sondern vor dem Leser fast ausspie?

Sicherlich, vergessene Bücher mit vergessenen Schriftstellern aus dieser Zeit gibt es viele. Neben Heinz Rein fallen einem auf Anhieb Hans Scholz ("Am grünen Strand der Spree" [dieses Buch wurde in den 1960er Jahren erfolgreich für das Fernsehen verfilmt]), Peter Bamm und Hans Hellmut Kirst ein, die allesamt mit dem Vorwurf des Trivialautors zu kämpfen hatten. Aber auch ästhetisch anspruchsvollere Autoren wie Gert Ledig und Josef W. Janker gingen im Literaturbetrieb unter, vor allem weil sie nicht in das ästhetische Konzept der Gruppe 47 hineinpassten, einer informellen Vereinigung, die sukzessive die Hoheit über die deutsche Nachkriegsliteratur übernahm und schon vor der Usurpierung durch die Kritiker-Viererbande (Reich-Ranicki, Mayer, Kaiser, Jens) eine machtvolle Position einnahm. Wer heute den Kanon durchschaut, den diese Wenigen aufgestellt haben, entdeckt überall die immergleichen Namen: Heinrich Böll, Günter Eich, Günter Grass, Alfred Andersch, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser (der eigentlich als "gruppenfremder" Autor galt), ein bisschen Wolfdietrich Schnurre und Walter Höllerer noch. Allesamt Autoren, die an den Sitzungen der Gruppe 47 zum Teil regelmässig teilnahmen und dadurch bis heute das literarische Bild der 1950er und 1960er Jahre in Deutschland prägten.

Achtete man peinlichst darauf, keine nazibelasteten Schreiber in der Gruppe zu haben (was, wie sich später herausstellte, gründlich misslang), so konnte man jedoch als Opfer, das nicht den soldatischen Weg eingeschlagen hatte, kaum reüssieren, wie am Beispiel Paul Celan deutlich wurde. Exilanten mied man offiziell aus ästhetischen Gründen – in Wahrheit wollten sich diese in der Regel nicht mit Wehrmachtsoldaten oder "Inneren Emigranten" messen. Ambitionierte Prosa, die sich von der dem Realismus verpflichteten sogenannten Trümmerliteratur abwichen, hatte  ebenfalls keine Chance; sie waren auf Fürsprache außerhalb der Gruppe angewiesen, was bei einigen Ausnahmen (Koeppen, Siegfried Lenz) gelang.

Höllengewitter ohne Scheu vor Pathos

So ist es nicht überraschend, dass Heinz Rein, der Autor von "Finale Berlin", niemals in der Gruppe 47 gelesen hat. Sein Roman entsprach mit seinem derben Splatter-Expressionismus nicht dem Geschmack der Gruppe, die es vorzog, den deutschen Soldaten nach dem Krieg als Opfer der Umstände darzustellen. Reins Buch dagegen zeigt in expressiven, zum Teil pathetisch-brutalen Bildern ein Berlin vom 15. April 1945 bis zur Kapitulation am 2. Mai. Es ist ein Berlin der Straßen- später sogar Häuserkämpfe – eine Bevölkerung eingepresst zwischen Roter Armee und rücksichtslos gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgehender SS-Truppen. Es ist ein Berlin der bis zum Schluss an den Sieg Glaubenden, ein Berlin, das am Ende großflächig in Schutt und Asche liegt, übersät mit Leichen bzw. Leichenteilen. Rein entwickelt eine Topographie des Schreckens; wer möchte, kann Truppen- und Kampfbewegungen auf einer Karte genau nachvollziehen. Berlin wird zur Hölle, bar jeder Zivilisation.

Hier wird nicht lakonisch erzählt oder am Wirtshaustisch sinniert. Hier spritzt die Gehirnmasse der Erschossenen, hier rutscht der nach einem Luftangriff nach seiner Frau Suchende im Leichenmatsch aus, hier stolpert der Wasserholer auf den Trümmern umher und wird per Zufall auf dem Rückweg von einem Granatsplitter tödlich getroffen. Hier zerren die verblendeten Mörder einen sogenannten Deserteur an einem Strick vor den Augen seiner Mutter hinauf. Man stellt sich diese Leute nach 1945 als treusorgende Familienväter, Beamte im mittleren Dienst oder einfach nur als nette Onkels vor. Vermutlich wurden sie niemals belangt für ihre Morde.

Am 14. April 1945 um 14 Uhr sitzt Joachim Lassehn in Oskar Kloses Kneipe, Am Schlesischen Bahnhof. Berlin. Klose ahnt sofort, was mit dem 22jährigen, der krampfhaft eine Pistole umklammert, los ist. Lassehn ist bei Klose genau richtig, denn dieser gehört mit dem Arzt Dr. Böttcher (56 Jahre alt) und dem seit Jahren in der Illegalität lebenden ehemaligen Gewerksschaftssekretär und Sozialdemokrat Wiegand (46) zur Widerstandsgruppe "Berolina". Klose gewährt Lassehn Obdach und zum ersten Mal fühlt sich dieser angenommen, aufgehoben. Er kann seinen Geist an den Disputen zwischen Böttcher und Wiegand schulen; später kommen noch andere wie Schröter (62) von der kommunistisch inspirierten Widerstandsgruppe "Ringbahn" hinzu. Lassehn ist ein ungeschliffener Diamant, ängstlich, aber er ergreift auch die Initiative wenn es sein muss. Zwei Mal tötet er gezielt – als die Gruppe durch einen "Blockleiter" drohte aufzufliegen und als Wiegands Frau von einem brutalen SS-Mann beinahe totgeschlagen worden wäre.

Die einzelnen Kapitel beginnen zumeist der morgendlichen Draufsicht auf Berlin. Exemplarisch hierzu etwas vom Morgen des 23. April 1945, als Rein von den Menschen in den Luftschutzkellern erzählt, die sie inzwischen kaum mehr verlassen:

Der neue Morgen bleibt draußen, er dringt nicht durch die eisernen Türen in die Keller. Müdigkeit, Starre, Stumpfheit, Hilflosigkeit haften wie Schatten an, und nur das mechanische Hilfsmittel der Uhr verleiht den Menschen das Bewußtsein, daß außerhalb ihrer Katakomben Licht vom Himmel auf die Stadt herabströmt und durch die Fenster in die leeren Wohnungen sickert. Mit dem neuen Tage, der da irgendwo, weltenfern, aufsteigt, bricht über die Menschen neue Qual herein, vermehrt sich die Ungewißheit, verlängert sich das Warten, das Ende der Nacht bringt kein Licht, belebt nicht den Geist, spannt nicht die Glieder, denn mit zunehmender Helligkeit beginnt das Artilleriefeuer wieder, setzen die Fliegerangriffe erneut ein, kommt die Front, die an den dunklen Rändern in der Nacht erstarrt war, wieder in Bewegung.

Und was geschieht sozusagen "oberirdisch"? Auch hier wird nicht mit Pathos gespart:

SS, Feldpolizei und das neu eingerichtete fliegende Standgericht halten die Reste des auseinanderstrebenden, auseinandergefallenen Heeres noch mit brutalem Terror zusammen. Innerhalb von Minuten werden Todesurteile ausgesprochen und an irgendeinem Straßenbahnmast oder Laternenpfahl vollzogen, im Zentralkriegsgericht in der Rüsternallee in Charlottenburg amtiert noch eine Meute von Kriegsgerichtsräten, Oberfeldrichtern, Oberstabsrichtern, Heeresjustizinspektoren und ›zuverlässigen‹ Beisitzern, sie sprechen kein Recht, sondern führen nur Befehle aus und verhängen ›Im Namen des deutschen Volkes‹ täglich Dutzende von Todesurteilen, die unmittelbar nach Urteilsverkündung vollstreckt werden. Es ist nicht allein der äußere Druck, der die formlose Masse der Einheiten und Verbände immer wieder zusammenknetet, es ist auch der ihnen eingedrillte Zwang des Befehls, der von innen heraus wirkt, sie zwar nicht entschlossen bis zum Letzten kämpfen (sondern sich eher, wenn möglich, vor dem Kampfe zu drücken), aber bis zum Letzten gehorchen läßt.

Da man dieses umfassende Leiden, Sterben und Schießen nicht auf Dauer aushalten kann, wird irgendwann auf die kleine Gruppe um Lassehn, Klose, Böttcher und Wiegand gezoomt und es ergeben sich häufig endlos scheinende Schulfunk-ähnliche Dialoge, die äußerst didaktisch aufbereitet sind, so, wie man es Ende der 1940er Jahre gebraucht hat, ethische und moralische Häppchen, die nicht nur Fritz J. Raddatz in seinem Nachwort stören, aber die notwendig waren, wenigstens damals und die Rein in der Ausgabe für die Büchergilde Gutenberg 1980 nicht entfernt hat, womöglich weil er den Lesern damals nicht traute. Man fiebert – auch hier hat Raddatz recht – mit dieser Gruppe mit, lernt Lassehns Freund, den inzwischen zum Oberleutnant beförderten Tolksdorff kennen, der im Gespräch "umgedreht" wird, weil er noch nicht gänzlich der Gewaltspirale und der Ideologie der Nazis erlegen ist. Man überlegt mit, wann denn nun die Stellung die weiße Fahne hissen soll ohne Gefahr zu laufen von der SS noch erwischt zu werden. Man verflucht Wiegands ältesten Sohn, der zum glühenden SS-Schergen wird und dann – aber naja, das soll der Leser gefälligst selber herausfinden.

"Finale Berlin" ist – das sollten die langen Zitate oben illustrieren - ein emotionales Berserkerwerk, zunächst fast noch behäbig daherkommend, sprüht es am Ende vor Grauen. Es ist ein Berlin-Roman, anders und doch zugleich auf eine merkwürdige Art und Weise ähnlich dem Döblin-Werk, nicht nur, wenn es um den Alexanderplatz geht. Ein Buch, das ungeachtet seiner durchaus vorhandenen literarischen Schwächen zu einem der wichtigsten Bücher über den Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache gezählt werden muss.

Rein passte vorher wie nachher nicht in den Zeitgeist

Rein, Jahrgang 1906, war selber früh mit den Nazis aneinander geraten, geriet in Gestapo-Haft, durfte nicht publizieren. Raddatz weist darauf hin, dass das über 700 Seiten starke Buch in einem Rausch geschrieben worden sein muss und dies trotz der katastrophalen Umstände nach dem Krieg (Papiermangel, weitgehend zerstörte Infrastruktur) bereits 1947 in Ostberlin erschien und, so ist zu lesen, mit 80.000 Exemplaren ein sensationeller Erfolg war. Daß es, wie auch der Autor, keinen dauerhaften Niederschlag im Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur gefunden hat, ist bezeichnend. Die Verflechtungen der Gruppe 47 wurden bereits erwähnt. Und wer als Autor keiner der begehrten Aufträge für den Rundfunk erhielt, konnte nicht bekannt werden – hier waren unter anderem Günter Eich und Alfred Andersch die Türhüter. Vielleicht wollte Andersch seine Desertionsgeschichte selber vermarkten und blockierte daher Rezeption von Reins? Und war der Umgang mit der Schuld und Verantwortung auch der deutschen Soldaten, die Reins als blinde und dumme Befehlsempfänger selbst Stunden vor der erwartbaren Niederlage unbarmherzig charakterisierte, ein zu großer Affront für die braven Schäfchen, die womöglich jeden Tag von Kriegsbeginn bis Ende Soldat gewesen waren und nun versuchten, eine Sprache hierfür zu finden?

Nein, die Gruppe 47 wollte keine Trivialliteratur in ihren Reihen haben wie sie damals auch schnell um sich griff. Zumal, wenn, wie bei einigen Repräsentanten (exemplarisch sei hier Heinz G. Konsalik genannt), der Revanchismus-Gedanke drohte. Aber bei aller Ablehnung des Soldatischen und Kriegerischen: War man nicht auch ein wenig infiziert von der Mär der "sauberen Wehrmacht", in der sie "gedient" hatten und bissen daher jeden, der dies ein bisschen entzaubern wollte weg? Griff so etwas wie Verantwortung auch diejenigen an, die sich wie auch immer arrangiert hatten – mögen ihre Gründe auch noch so verständlich gewesen sein? Wirbelte da einer einen neuen, stillschweigenden Konsens durcheinander, in dem er zeigte, was doch möglich gewesen wäre?

Faszinierende Sprachanalysen

Etwa bei der Analyse der gängigen Nazi-Berichte. Faszinierend, wie Dr. Böttcher und Wiegand die Wehrmachtsberichte und Durchhalteartikel der Nazi-Presse ("Der Panzerbär") zerpflückten, die Parolen, Euphemismen und Großkotzereien heraussiebten und so die aussichtlose militärische Lage zusammen mit einigen Hinweisen von "Feindsendern" (endlich wird auch mal Radio Moskau genannt und nicht immer nur die BBC) recht genau herausdestillieren konnten. Sprachkritik und –analyse - didaktisch aufbereitet. Zunächst die Originaltexte, dann die Analyse. Er zeigt damit: Seht, das hättet ihr auch gekonnt, wenn ihr nur gewollt hättet, denn es war kein Kunststück die geschraubten Formulierungen zu "lesen" und das Schönsprech zu entlarven.

Niemals gibt es einen Zweifel, dass Rein eine gehörige Mitschuld für diese apokalyptisch anmutende Katastrophe, die längst überwunden geglaubte archaische Verhaltensweisen der Menschen wieder hervorholt, bei denen sieht, die hier dann am Ende ausgebombt, erschossen, gehenkt  oder verbrannt werden. Wiederholt wird etwa auf die Mitverantwortung und Schuld der "Arbeiterklasse" hingewiesen, die – wenn auch murrend – durch ihr braves Granatendrehen und Panzerhochrüsten die Blutwalze einer gesinnungslosen Armee instand hielten und so zum allzu oft grinsenden Massenmord – ob in Oradour, Warschau oder in den Weiten Russlands – befähigten. Aber auch die "proletarische Überheblichkeit" der Kommunisten wird attackiert ("Ihr müßt endlich einmal die Hüllen der proletarischen Überheblichkeit abstreifen, wir wollen doch nicht den Ariernachweis durch den Proletariernachweis ablösen. Das neue Deutschland, das ja nach dem Sturz des Nationalsozialismus kommen wird, darf nicht mit dogmatischen Engstirnigkeiten beginnen." – Böttcher). Der Byzantinismus der deutschen Journalisten im "Dritten Reich" wird sarkastisch aufgespießt. Einzig der Jugend, d. h. der um 1925 geborenen (und jünger), deren moralisches Bewusstsein durch die Nazis verbrannt worden sei, sollte man, so Böttcher, nach dem Krieg mit einem Generalpardon begegnen. Politische Identifikationsfiguren in diesem Buch sind liberal-sozialdemokratische, pragmatische Figuren wie Dr. Böttcher und Wiegand. Sie sind es, die auch in dieser Katastrophe nicht vollends resignieren.

Dennoch darf die Gesinnung nicht als Entschuldigung für die ästhetischen Probleme dieses Buches herhalten. Reins Schematismus muss aus der Zeit seines Entstehens heraus gelesen werden. Wer den Mikrokosmos der Widerständler als zu pädagogisch empfindet, könnte sich mit den expressiven Berlin-Schilderungen begnügen. In jedem Fall ist das Buch ein, wie Raddatz schrieb, "unvergleichliches Zeugnis […] – hart, ohne Schluchzen, präzise, weniger Klage als Anklage." Die Höllengewitter des zerstörten, von Roter Armee angegriffenen und vom SS-Mob regierten Berlins der letzten April-Tage 1945 scheint uns heutige Leser entfernter als die 70 Jahre Distanz dies nahelegen. Aber diese Zeitreise zurück ist auch heute noch möglich. Solche Welten wie sie Heinz Rein beschreibt, liegen nur ein paar Flugstunden entfernt.

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Artikel online seit 11.08.15

 

Heinz Rein
Finale Berlin
Roman
Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz
Schöffling & Co.
760 Seiten. Gebunden.
€ 24,95   €[A] 25,70   
ISBN: 978-3-89561-483-5

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