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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Kitschiges Kulissenbild

Ralf Rothmanns umjubeltem Roman »Im Frühling sterben«
fehlen Innenperspektive und Tiefenschärfe.

Von Gregor Keuschnig

 

»Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.« So beginnt Ralf Rothmann seinen Roman »Im Frühling sterben«. Man sieht vor seinem geistigen Auge förmlich den prätentiösen Ausdruck des Dichters oder Vorlesers, der bedeutungsschwere Duktus, der den Leser, die Leserin, auf diese Literatur vorbereiten soll und unumwunden signalisiert: Hier entsteht etwas ganz Besonderes, ein Meisterwerk. Das Schweigen, »wenn es Tote meint«, füllt das Leben mit »Wahrheit«. Fragen, wessen Leben mit Wahrheit gefüllt werden soll und wie dies mit dem »tiefen Verschweigen« gemeint sein könnte, wirken da eher störend, nach dem Sinn dieses Satzes zu suchen erst recht.

Sechseinhalb Seiten skizziert ein Ich-Erzähler mit starken Strichen das Leben seines Vaters Walter Urban. Das schweigsame Wesen, seine Hilfsbereitschaft (»das Wort hochanständig fiel oft«), die Jacken von C & A, die er gerne trug. 30 Jahre arbeitete er als Hauer im Bergwerk in Essen, ohne Gehörschutz. Er ertaubte und verstand nur noch seine Frau, »ob es ihre Stimmfrequenz war oder die Art der Lippenbewegung« weiß der Erzähler nicht. Nach der Frühverrentung, die ihn kränkte, war das Leben praktisch schon zu Ende. Es gab die Zeitung, Heftchenromane und, leider, den Alkohol. Schließlich der Krebs mit 60, das war 1987. Der Erzähler schenkt ihm ein Heft, in dem er etwas vom Krieg, von seinem Leben aufschreiben soll, aber außer ein paar Ortsnamen schreibt Walter Urban nichts hinein. Der Schriftsteller sei doch er, bemerkt er spitzbübisch. Auf dem Sterbebett beginnt er im Schlaf zu sprechen. Er sei jetzt »wieder im Krieg« sagt dann seine Frau. 

Und dann, auf Seite 13, beginnt eine Geschichte von Walter Urban ab Februar 1945. Er ist Melkerlehrling in Norddeutschland, der Prügel-Vater im Feld irgendwo auf dem Balkan (strafversetzt, weil er Gefangenen Zigaretten gegeben haben soll), die Mutter mit seiner Schwester in Essen. Es ist Sonntag und es gibt ein Fest. Der »Reichsnährstand« gibt einen aus. Man trifft sich im »Fährhof«, die Kapelle, die aus Kriegsversehrten besteht, spielt Hans Albers, Zarah Leander und Heinz Rühmann. Irgendwo steht auch ein SS-Mann mit der Aufschrift »Frundsberg« – schöner Gruss von Rothmann an Günter Grass.

Walter trifft den wilden Fiete, der auch auf dem Hof als Lehrling arbeitet (man nennt die beiden Ata und Imi, weil sie so gründlich sind), seine Flamme Elisabeth und Fietes Verlobte Ortrud. Alles ist wunderbar, die Cordhose sitzt, das Bier schmeckt. Ein entstellter SS-Offizier, Ritterkreuzträger, erzählt von seinen Heldentaten, »zaghafter Applaus» im Publikum. Und dann die Rede eines Funktionärs vom »Reichsnährstand», der in einer kruden Rekrutierungsaktion mündet, die man schon leicht abgewandelt in Heinz Reins 1947 erschienenem, fulminanten Buch »Finale Berlin» findet. Der Funktionär »schlägt vor», dass jeder Mann auf diesem Fest schon am nächsten Tag freiwillig in die »siegreiche Waffen-SS» eintreten soll. »'Wer dagegen ist, kann ja jetzt aufstehen.'» Stille im Raum. Fiete will aufstehen, Walter hält ihn aber zurück. »Fernbleiben ist Desertion» heißt es sicherheitshalber beim Offizier am Tresen. Und schon sind alle ab Montag 7 Uhr früh in der Waffen-SS.

Es folgen auf rund 180 Seiten die Erlebnisse Walter Urbans. Die Grundausbildung dauert nicht drei Monate, sondern drei Wochen. Die Zeit reicht, um den Führerschein zu machen und Walter wird Fahrer. Binnen weniger Tage ist die Einheit in Ungarn. Der Erzähler beobachtet Walter wie ein Berichterstatter. Es gibt elegische Schilderungen von Landschaften, ekelerregende aus Lazaretten, fürchterliche von menschenverachtenden SS-Schergen, die willkürlich ernannte Partisanen aufhängen. Nur eines gibt es nicht: Eine Innenperspektive der Figur Walter Urban. Sie bleibt für die Zeitgenossen und für den Leser unnahbar, öffnet sich nicht und es werden keine Anstalten gemacht, dies zu ändern.

In einer kühnen Aktion, die ihm ungeplant passiert, befreit Walter eingeschlossene Kameraden. Eine Auszeichnung hierfür lehnt er ab und erwirkt beim Kommandeur (Marke guter, netter Hauptsturmführer) die Erlaubnis, das Grab seines Vaters, der zwischenzeitlich in der Nähe von Györ gefallen sein soll, zu suchen. In Anbetracht der im März 1945 grassierenden Treibstoffknappheit ist die Erlaubnis zu diesem Dreitagesausflug ziemlich unwahrscheinlich, aber Rothmann braucht das wohl um die Zerstörungen der Landschaft, die Verrohung der Soldaten und die Aussichtslosigkeit des Unterfangens bei gleichzeitigem Weitermachen Aller zu illustrieren. Als er nach vergeblicher Suche zum vereinbarten Ort eintrifft (obwohl ihm ein Treibstoffkanister gestohlen wird) sitzt Fiete in der Todeszelle, weil er nach seiner halbwegs überstandenen Verwundung sofort wieder eingesetzt werden sollte und deshalb desertieren wollte. Walter will intervenieren, aber der »gute« Hauptsturmführer ist tot. Hier entsteht die gelungenste Szene im Buch. Walter setzt sich beim neuen Kommandanten Domberg für Fietes Begnadigung ein. Die Figur Domberg, der in Walters fehlendem Genitiv fast den Untergang der Jugend herbeibeschwört  und en passant den Beruf des Melkers für obsolet erklärt, weil demnächst alles von Maschinen gemacht würde, ist in der Schilderung der freundlichen Brutalität, die viel unerwarteter daherkommt als die kruden Methoden anderer SS-Leute und dadurch noch abscheulicher wirkt, sehr gut gelungen.

Am Morgen wird dann »die Stube« abkommandiert, Fiete zu erschießen. Also auch Walter. Warum Fiete plötzlich zu Walters Stube zählt, ist nicht ganz deutlich, denn zwischenzeitlich waren sie in anderen Einheiten. Einer der Schützen hat eine Platzpatrone – das ist der Trost. Selbst Danebenschießen traut man sich nicht. Es ist Walters einziger Schuss in diesem Krieg. Nach dem Tod Fietes am 30. März 1945 könnte der Roman eigentlich zu Ende sein, aber es geht dann nach dem Krieg noch nach Essen zu Walters Mutter, die er sofort wieder verlässt. In Kiel trifft er Elisabeth und diese folgt ihm dann in die Landwirtschaft (bis sich Dombergs Diktum dann bewahrheitet).

Es gibt noch einen Epilog, in dem der Ich-Erzähler zum Grab seiner Eltern fährt. Die Pachtzeit ist abgelaufen und er überlegt, ob er sie verlängern soll. Die Entscheidung möchte er am Grab treffen. Es schneit, er kauft Blumen, aber er findet die Grabstätte nicht mehr. Dann ist das Buch aus.

Und das Feuilleton jubelt

Aber warum? Ist es die Coolness des Helden, der Clint-Eastwood-mässig die Schrecken seiner Eindrücke in sich vergräbt? Etwas, das viele dieses 27er-Jahrgangs gemacht haben und, was man viel intensiver und eindringlicher bald in Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« wird nachlesen können. Sind es die sogenannten »poetischen» Stellen, die derartige Verzückungen auslösen? Etwa die »langen Schatten« der Wimpern der ungarischen Steppenrinder? Oder als Walter auf der Suche nach dem Grab seines Vaters an einen mysteriösen Platz kommt und es heißt: »Die Abendsonne füllte die herumliegenden Helme mit Schatten.«? Vielleicht ist es ja »poetisch«, wenn ein Blitzmädel Walter mit ihren »milchblauen» Augen anschaut? Am Morgen, als Fiete exekutiert wird, »musterte« ein alter Keiler »die Tannen am anderen Ufer aus schmalen Augen, ehe er sich hinabbeugte und die Entengrütze schlürfte« und der »Pürzel kreiselte vor Behagen« (es ist wohl ein »Bürzel« gemeint, aber egal). Als Walter mit den anderen für die Exekution seines besten Freundes den Stahlhelm aufsetzen muss, fühlt er dessen kaltes »Metall« nicht etwa auf dem Kopf, sondern auf dem Scheitel.

Statt Poesie sehe ich vor allem eine gehörige Portion Edelkitsch, garniert mit schwülstig-klebrigen Manierismen. Anlässlich eines Films von Hans-Jürgen Syberberg über Adolf Hitler sprach Saul Friedländer in »Kitsch und Tod« 1984 von »wollüstiger Beklemmung und hinreißenden Bildern«, die »man unentwegt weitersehen will«. Genau diese Faszination wird in diesem Buch befeuert.

Weil die Emotionen Walters nicht erkennbar sind - weder von ihm noch vom Erzähler vermittelt - flüchtet sich Rothmann in Umgebungsbeschreibungen um eine kontrastierende Stimmung zu evozieren, die indirekt auf Walters Gefühlshaltung hinweisen soll. Dies mag in den Ruhrgebiets-Romanen Rothmanns gelingen, denn die Lebenswirklichkeit des Erzählers korrespondierte hier mit der der Figuren. Im vorliegenden Roman ist dies jedoch nicht der Fall: Rothmann ist 1953 geboren. Das bedeutet nicht, dass man als Nachgeborener nicht über solche Figuren erzählen kann (im bereits erwähnten Buch von Jan Koneffke zeigt sich, dass dies möglich ist). Aber indem die Figur derart emotionslos sozusagen »abgefilmt« wird, entsteht nur das eindimensionale Kulissenbild eines behaupteten Geschehens; Walter Urbans scheinbare Beherrschtheit wirkt fast schon arrogant. Lediglich die Exekutionsgeschichte durchbricht diese erzählerische Schwäche, weil der Leser sofort Partei für die wesentlich farbiger erzählte Figur Fiete entwickelt. Genau hier findet sich dann auch die einzig erkennbare halbwegs als Emotion zu deutende Stelle bei Walter, als der Schuss, den er auf den Freund abgibt »ein Reflex mehr als die Ausführung eines Befehls« bezeichnet wird. 

Noch aus einem anderen Grund ist »im Frühling sterben« problematisch: In dem der Ich-Erzähler suggeriert, von seinem Vater kaum signifikantes über den Krieg erfahren zu haben und dann doch eine derartige Geschichte ausgebreitet wird, wird der Eindruck der Authentizität vermittelt. Indem er die Schilderungen des Lebens und kurzen Sterbens des Vaters an den Anfang stellt, wird ein Eindruck erzeugt, dass ab Seite 13 nun die reale Lebensgeschichte des Vaters beginnt. Der Erzählduktus verstärkt diesen Eindruck noch. Ohne diesen Kniff wäre die Betroffenheit des Lesers geringer, da durch den Prolog bereits eine Identifikation mit Walter geschaffen wurde (und sei es Mitleid).

Der Enthusiasmus, der diesem Buch landesweit in den Feuilletons entgegengebracht wird, ist von dessen Text her allein jedenfalls nicht nachvollziehbar.

Den Artikel können Sie hier im Begleitschreiben kommentieren.

Artikel online seit 31.07.15
 

Ralf Rothmann
Im Frühling sterben
Roman
Suhrkamp
Leinen, 234 Seiten
978-3-518-42475-9
19,95 €

Leseprobe

 


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