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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Kleine Epiphanien

Andrzej Stasiuks »Geschichten vom Fernweh«

Von Wolfram Schütte

 

Als aufmerksamer & passionierter Leser von „Lettre international“ konnte man dort  schon mehrfach auf die Reiseprosa des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk stoßen. 1960 in Warschau geboren, war sein erster auf Deutsch erschienener Roman „Der weiße Rabe“ (1998) auch deshalb ein bemerkenswertes Buch, weil es eigentlich – zumindest in meiner Erinnerung – nichts anderes zu sein schien, als die mäandrierende Beschreibung der winterlichen  Reise in eine abgelegene, völlig eingeschneite polnische Gebirgslandschaft, wo sich einige Saufkumpane mit genug Wodka in einem Haus zusammengefunden haben. Seit E.A.Poes grandioser Sprachorgie über das Weiß in seinem Romanfragment des „Gordon Pym“ hat erst der polnische Newcomer wieder vergleichbar intensiv über das Weiß des (Schnee-)Weiß geschrieben.

Die Reise gehört also zu den zentralen Topoi des (seit er Suhrkamp-Autor ist) mittlerweile wohl bekanntesten polnischen Gegenwartsautors bei uns. Ein edition suhrkamp-Bändchen mit dem phonetisch geschriebenen Titel „Dojczland“ sammelte hochironisch seine Erfahrungen als Vorleser hierzulande, während  er in den es-Bänden „Fado“ & „Tagebuch danach geschrieben“ den Balkan bereist & seine Heimat Polen vom Neoliberalismus verwüstet vorfindet. In dem ersten seiner auf Deutsch gesammelten Reiseprosabände „Unterwegs nach Babadag“ beschreibt er das memorierende Entstehen seiner Ortsbeschreibungen vornehmlich Ost- & Südeuropas abseits touristischer Ziele. Darunter sind auch einige seiner in „Lettre“ erstpublizierten literarische Erkundungen.

Das jetzt in der Übersetzung von Renate Schmidgall erschienene Buch „Der Stich im Herzen“ bietet  „Geschichten vom Fernweh“ & ist mit seinem ansprechend aufgemachten Cover – ein zartblauer Wolkenhimmel über dem  winzigen Strich einer Graslandschaft, auf der ein einsames Pferd steht – in jeder Hinsicht ein Unikum im Verlagsprogramm Suhrkamps. Seine attraktive optische Aufmachung annonciert ein leichtes Ferien-Urlaubs-Buch in Taschenbuchhandlichkeit. Diese Erwartung wird sowohl enttäuscht wie übertroffen.

Denn „Der Stich im Herzen“ gehört zu jener seltenen Spezies von Büchern, mit deren lustvoller Lektüre  man sofort wieder beginnen kann, wenn man sie gerade beendet hatte. Die rund 50 Prosastücke sind thematisch so vielfältig & erzählerisch so solide gearbeitet, dass man sie gerne liest & jede die vorige vergessen lässt, aber alle zusammen einen Sog entwickeln, der nach einer zweiten Lektüre verlangt. Es geht einem ja manchmal ähnlich mit Lyriksammlungen, öfters auch mit Musik-CDs.

Der Geruch chinesischer Textilien

Die zwischen zwei & vier Seiten langen (autobiographischen) Feuilletons – denn das ist ihr Genre – sind wahrscheinlich alle ursprünglich für das Wochenendmagazin einer polnischen Zeitung geschrieben worden. Das stiftet den seriellen Charakter der Betrachtungen, Berichte & Reflexionen. Aus diesen kleinen Erzählungen erfahren wir zwar nicht, dass Stasiuk mit seiner Frau einen Verlag in der polnischen Provinz hat, aber dass der Warschauer Erzähler heute  auf dem Land im südöstlichen Polen lebt, vor 7 Jahren mit dem Rauchen aufgehört hat, öfters mit Schlafsack, Flugzeug, Bahn & Auto nach dem Osten verreist (bis in die Mongolei & China) & als Kind bei den bäuerlichen Großeltern am Bug, der heutigen Grenze zur Ukraine & Weißrussland, auf Sommerurlaub war.

Die Erinnerungen an diese ländlichen Aufenthalte bei den Großeltern oder Verwandten während des Kommunismus konfrontiert der Memorierende mit der neoliberalen Gegenwart. So ist auch der Gemüse- & Viehmarkt, den er vor 15 Jahren noch in der Kleinstadt seiner ländlichen Lebensgegend kannte, heute vollständig verschwunden. Statt des durchdringenden Vieh-Geruchs, den  auch der Anblick des verfallenden Gebäudes seines elterlichen Bauernhofs als olfaktorische Erinnerung bei ihm hervorruft, wird der heutige Markt vom „Geruch chinesischer Textilien“ dominiert, und „in der Sonne stinkt es nach Gummi und Plastik“.

Aber Stasiuk erhebt kein Lamento über den Verfall oder die radikale Veränderung auf seinem provinziellen Markt; er konstatiert nur (& setzt einen finalen Knickschlag als verbale Pointe): „Noch vor fünfzehn Jahren hat der Markt das Lokale symbolisiert, Unabhängigkeit oder sogar Autarkie. Heute trägt er wie ein fliegender Teppich Massen von Menschen direkt in die Postmoderne. Wuchtige Landfrauen probieren goldschimmernde Schühchen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen an. Kahlrasierte Jungs, die den lokalen Dialekt sprechen, nehmen Imitationen des israelischen Uzi in die Hand und wiederholen Gesten, die sie im Kino abgeguckt haben. Über dem ganzen Markt hängt der Duft nachgemachter Parfums und exotischer Gewürze. Wie auf allen andern Märkten der Welt“.

Mit Herta Müller in Rumänien

Melancholie ist bei dem Schriftsteller die vorherrschende, bzw. wiederkehrende Stimmungslage beim hellwachen, nachdenklichen Blick auf die Welt. Nicht immer ist es die Wahrnehmung verschwindender Örtlichkeiten & unwiederholbarer Lebenszeiten, die Stasiuks Gedanken in Gedenken verwandelt – wenn er z.B. Stück für Stück die verschiedenen Stadien des Verfalls des bäuerlichen Hofs & Dorfs memoriert. Es ist ihm dabei, „als würde mein eigenes Leben weniger. Denn was wird mit uns geschehen, wenn alle Orte untergehen, an denen wir unser Zeit verbracht haben? Wir werden sie neu erfinden müssen und auch unser früheres Leben wird sich in eine Erfindung verwandeln. Es wird eine Spielerei des Gedächtnisses sein, mehr nicht“.

Doch ist´s mehr! In einem sehr schönen Porträt von Herta Müller, mit der Stasiuk an die Stätten ihrer Banater Jugend fährt, feiert er an dem Oeuvre der Autorin, dass sie “hartnäckig an dem Vergangenen und dem Schrecklichen festhält“. Die „anachronistische und grausame Literatur Herta Müllers“ sei deshalb „so wichtig“, weil die Welt vor allem nach Amnesie verlange, um mit ihrer Hilfe an ihre Unschuld glauben zu können.

Ein besonders liebenswert-leuchtendes Stück ist nur 2 ½ Seiten lang. Dieser Nachruf auf einen bäuerlichen Onkel erzählt sowohl einige Kuriosa aus der Zeit, als der Bug die Grenze zwischen dem von Hitler-Deutschland & der UdSSR aufgeteilten Polen war, der Onkel zwischen den Fronten noch schmuggelte, während auf seinem Hof die Deutschen einquartiert waren – als auch wie der „kleine, zerbrechliche, selbstironische“ Onkel, „der sich immer im Zentrum der Ereignisse befand“, noch als Toter so viel Anziehungskraft besaß, dass die Verwandten, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten, aus allen Ecken des Landes zu seiner Totenfeier kamen.

Stasiuk beschließt diesen „ganz privaten Nachruf nicht aus einer Laune heraus.“ Wie ein polnischer Johan Peter Hebel beschließt er das Stück, mit einem „fabula docet“, was besagt, „dass der Tod uns manchmal seinen Sinn offenbart. Er bewirkt, dass wir uns treffen und uns auf eine Art und Weise freuen, dass wir zusammen sind, wie es ohne diesen Tod nicht möglich gewesen wäre. Und dort im fernen Dorf meines Onkels, der sowjetischen Spiritus über den Fluss geschmuggelt hat, begriff ich, dass der Tod uns im Leben recht nützlich sein kann“.

Wie schön hier doch die Melancholie mit der Dialektik getanzt hat & die zarte Ironie im letzten Satz fast lautlos & lächelnd  hinzu tritt!

Unheimlich aber dagegen ist sein „Denkbild“ (Benjamin), das „Raubtier“ heißt. Als er nach Mitternacht auf die Wiese vorm Haus auf dem Land tritt, um seine drei angeketteten  Schafböcke in den schützenden Stall zu treiben, erblickt er im nächtlichen Dunkel, jenseits des Lichtkegels des häuslichen Zimmers, zwei der Böcke  auf der Wiese „ruhig & vollgefressen“  wiederkäuen. Von dem dritten sieht er beim Nähertreten, dass er nur noch aus einem Vorderteil besteht & als er seine Hand in das warme Offene schiebt, greift er in die noch vorhandenen Eingeweide.“Wenn es ein einzelner Wolf gewesen war, musste er mehr als zehn Kilo gefressen haben“, denkt er lakonisch. Das Bestürzende war aber nicht der blutige Beweis des wölfischen Überfalls & die möglich andauernde Anwesenheit des Raubtiers im nahen Dunkel der Nacht.

Was den Erzähler Stasiuk viel mehr irritiert, sind die beiden ruhig wiederkäuenden tierischen Gefährten des gerissenen & halbverschlungenen Schafbocks an ihrer Seite. “Sollte es so sein“, überdenkt der Autor die offensichtliche Gleichgültigkeit der in ihre „Schafeinsamkeit“ versunkenen Wiederkäuer, „dass das Wehrlose, wenn das Raubtier, wenn die Bestie kommt, noch wehrloser wird? Dass die Natur ihre eigene Herrin ist und wir längst und  für immer ihr Reich verlassen haben, obwohl wir uns noch immer danach sehnen? (..) Im Grunde genommen hoffen wir die ganze Zeit, dass das Raubtier kommt, dass die Bestie erscheint. Wenn nicht aus dem Wald, nicht aus der Dunkelheit, dann kommt es irgendwann aus unseren Eingeweiden, um uns Schmerz zuzufügen und schließlich den Tod zu bringen. Deshalb rufe ich immer wieder das Bild der zwei Tiere herbei, die so ruhig dalagen, als eines von ihnen getötet wurde“.

Phantasmagorie der Heimkehr aller in der Fremde gestorbenen Polen

„Totenfeier“ heißt eine merkwürdige Überlegung des offenbar gläubigen Katholiken, der in einem der beiden Essays, die einem Pfarrer gewidmet sind, beklagt, dass heute der polnische Klerus sowohl dem Volk wie dem Heiland nicht mehr so nahe sei wie zu den kommunistischen Zeiten, als der Katholizismus „verfolgt wurde“. Ausgehend von seinem Besuch bei einem polnischen Pfarrer in Sibirien, der sich nicht nur um seine wenigen lebenden Gemeindemitglieder kümmert, sondern auch um die vielen, verstreuten Gräber der einst nach dort Verbannten, entwickelt er eine eigenartige Vision. Vom Zarismus bis zum Ende der Sowjetunion sind unzählige Polen in den Weiten Asiens zu Tode gekommen. Stasiuk wünscht sich in einem bewegten & bewegenden Bild, dass sie alle heimgeholt werden sollten. Er imaginiert einen „mit Trauerflor bedeckten transsibirischen  Zug: lang, unendlich wie alle Niederlagen meines Volkes“.

Er schwelgt geradezu in dieser grandiosen Phantasmagorie eines endlosen Trauer-Zugs, dessen hunderte von Waggons quer durch Asien nach Polen fahren & alle Toten nachhause in polnische Erde bringen. „Es ist fast, als würden sie auferstehen, weil sie in unser Leben eintreten“, wenn man sie „in der Ebene bei Kutno“  (in Zentralpolen) beisetzt, “damit es alle gleich weit haben  im Herbst, wenn die Feuer angezündet werden“, um mit den Toten „Allerseelen“ zu feiern. Mit dem „Amen“ einer katholischen Predigt beschließt er seine patriotische Imagination einer symbolischen Heimholung aller in der Fremde verstreuten Landsleute  literarisch ebenso treffend wie selbstironisch.

(Vielleicht ist er in diesem Stück, wie auch bei anderen seiner Verteidigungen von Armut, Hässlichkeit & Provinzialität in der unvermuteten Nähe Pasolinis, freilich ohne dessen sexualpolitische Unterströmung; aber z.B. in ihrer Liebe zur archaischen bäuerlichen Welt & dem volksgläubigen Katholizismus sind sie sich sehr nahe.)

Der Tod ist in vielerlei Anrufung & Gegenwärtigkeit einer der Auslöser für diese ebenso vielfältigen wie emphatischen Reise-Feuilletons. Der Autor versammelt aber z.B. auch die Monate März, Mai & September zu unterschiedlichen Charakterporträts. In anderen nachdenklich formulierten  Erzählstücken werden abgelegenste Orte & Örtlichkeiten auf dem kosevarischen Balkan, dem Pamir, in der endlosen Steppenweite der Mongolei  oder „nur“ als vergessener Karpatenpass einem als mitreisendem (& nicht selten mitgerissenem) Leser sinnlich- emblematisch vor Augen gestellt.

»Bialystok« als Sehnsuchtsname für das Abenteuer des Lebens

Bemerkenswert ist auch eine offene Auseinandersetzung mit seinem ukrainischen Schriftstellerfreund Taras Prochasko. Der hatte geschrieben: „Wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, wäre die Ukraine in den europäischen Kulturkreis geraten“. Stasiuk beschließt seine Widerrede, in der er auf die bukolische Schönheit ukrainischer Dörfer ebenso kommt wie auf die heute besonders in Betracht gezogenen Verbrechen des russischen Stalinismus, der einige Millionen Bauern (Kulaken) bewusst verhungern ließ, mit folgender ebenso verstehensbereiter wie unmissverständlich abweisender Bemerkung: „Es gibt einfach Länder, auf denen ein Fluch lastet. Sie sind ein Spielball des Schicksals, der Geschichte, des Wahnsinns der Ideologien. (…) Da kann es einem in der Tat so vorkommen, als wäre selbst ein zum richtigen Zeitpunkt geschlossener Pakt mit dem Teufel besser gewesen“.

Der Grund- Impuls des immer wieder vornehmlich in untouristische Weltgegenden aufbrechenden Autors stammt noch aus jener Kindheitserinnerung, als die Dorfjungen am Grenzfluss Bug saßen, einheimischen Wein tranken & billigste Zigaretten rauchten. Das gegenüberliegende Ufer erschien den Buben wie das Inbild der (amerikanischen?) Prärie. Und dann & wann seufzte einer von ihnen leise: „Da drüben ist Bialystock“. So mag im Mittleren Westen beim Blick über den Mississippi das Sehnsuchtsziel auf den Namen „San Francisco“ gelautet haben.

Stasiuk – im letzten Stück des Bandes – fährt dann fort, um den Titel des Büchleins zu erklären: „Der Stich dieser Sehnsucht traf mein Herz, und ich spüre ihn bis heute. >Da drüben ist Bialystock< bedeutet in Wirklichkeit: >Da drüben ist die Welt<. Später suchen wir unser Leben lang nach Orten, an denen wir diese Stich zu spüren hoffen.“

Artikel online seit 10.08.15
 

Andrzej Stasiuk
Der Stich im Herzen
Geschichten vom Fernweh
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp, Berlin 2015
207 Seiten
10,00 €

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