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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Ein wohlformuliertes Bekenntnis

Carlo Strengers »Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit - Zivilisierte Verachtung«

Von Gregor Keuschnig

 

"Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit" untertitelt Carlo Strenger sein Buch und es ist glücklicherweise nicht eines jener Pamphlete, die den marktliberal-ökonomischen Freiheitsbegriff hochleben lassen, sondern es geht ihm um die Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung in unserer postmodernen Welt, die mit "zivilisierter Verachtung" gestärkt werden soll.

"Zivilisierte Verachtung" bedeutet, dass jene Wert- und Moralpositionen, die den freiheitlichen Idealen der Aufklärung entgegenstehen, geächtet und nicht mit falscher Toleranz geduldet werden. Die zivilisierte Verachtung steht dabei in Opposition zur "politischen Korrektheit". Ein eher unglücklicher Begriff, wobei andere Vokabeln wie "Appeasement" oder "Relativismus" ähnlich kontaminiert gewesen wären. Strenger meint mit politischer Korrektheit nicht die Übersetzung vermeintlicher oder tatsächlicher Sprach- und Denkverbote, sondern jenen nivellierende Sichtweise, die auch antiaufklärerische Wertvorstellungen aus Rücksicht vor anderen kulturellen Prägungen gleichberechtigt gelten lässt. Strenger hält eine vorauseilend postulierte Gleichrangigkeit anderer, antiaufklärerischer Werte und Moralvorstellungen für eine "groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips".

Der besonders ab den 1960er Jahren in der politischen Linken verfochtenen These, dass das Verhalten des kolonialistischen, weißen Mannes die Aufklärung als gescheitertes Projekt diskreditiert habe, und die sich derzeit wieder neuer Beliebtheit erfreut, widerspricht Strenger scharf. Auch den Vorwurf eines "Eurozentrismus" und/oder einer einseitigen und idealisierten Fixierung auf den "Westen" lässt er nicht gelten, was er mit der weltweiten "Strahlkraft westlicher Errungenschaften" begründet. Die Kritik an der Aufklärung als "Enthumanisierungsprojekt" wird entschieden zurückgewiesen. 

Strengers "zivilisierte Verachtung" greift zwar die Meinungsfreiheit nicht an, möchte sie jedoch immer dann befragen und als Diskursposition ablehnen dürfen, wenn grundlegende Werte des liberalen Rechtsstaats und der Demokratie auf dem Spiel stehen (wobei gelegentlich "Aufklärung" mit "Demokratie" ein bisschen fahrlässig gleichsetzt werden).

Dabei bedeute zivilisierte Verachtung ausdrücklich nicht eine Abwertung nationaler, religiöser oder kultureller Gruppen. Sie ist ausschließlich sach- und themenbezogen. Grundvoraussetzung sei eine "intellektuelle Selbstdisziplin, die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen". Dies nennt Strenger "verantwortliche Meinungsbildung". Es gelte Tatsachenbehauptungen bspw. aus dem wissenschaftlichen Bereich bis zum Beweis des Gegenteils (Popper dient hier als Referenz) als solche zu akzeptieren, auch wenn sie nicht zu den eigenen "emotionalen und weltanschaulichen Präferenzen passen". Hierfür entwickelt Strenger den sogenannten "Ärztetest", der Dogmatiker, Religionsführer und Wissenschaftsleugner decouvrieren soll: "In dem Moment, in dem sie [bspw. Religionsführer] Tatsachenbehauptungen aufstellen, die Menschenleben und menschliche Würde betreffen, müssen sie den Anforderungen entsprechen, welche auch die meisten religiösen Menschen an die Vertreter jenes Berufsstands richten, dem sie ihre Gesundheit anvertrauen." Wer also bei seiner eigenen Krankheit einen Arzt konsultiert, kann sich, so die Schlussfolgerung, einer kontrollierten Abgabe von Kondomen zur AIDS-Verhütung nicht mit scheinmoralischen Argumenten verschließen.

Die Neigung, Überzeugungen oder überlieferte Narrative als satisfaktionsfähige "Argumente" gegen Tatsachenbehauptungen zuzulassen, findet sich, wie Strenger richtig herausstellt, in allen Lagern – links wie rechts. Der Appell dieses Essays geht dahin, diese "kognitiven Verzerrungen" nicht mehr zu akzeptieren. Er hält den Relativismus, der wissenschaftliche Erkenntnisse und sozio-kulturelle Errungenschaften leichtfertig hergibt für eine Bedrohung der freiheitlichen Gesellschaft.

Die Befürchtung geht dahin, dass, wenn man die Werte der Aufklärung nicht mit zivilisierter Verachtung begegnet, rechte und rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien wie beispielsweise die SVP in der Schweiz, Le Pen in Frankreich und Wilders in den Niederlanden mit revanchistischen und nationalistischen Parolen genau die Werte unterhöhlen, die sie vorgeben, zu schützen. So einleuchtend diese Befürchtung auch ist, so merkwürdig unkonkret bleibt Strenger welche Konsequenzen seine zivilisierte Verachtung beispielsweise für Gesetzgebung und Justiz nach sich ziehen sollte. Hinzu kommt, dass er zuweilen selber in einer Art politischer Korrektheit ge- bzw. befangen zu sein scheint, wenn er etwa islamkritische Auseinandersetzungen recht schnell mit dem Attribut "islamophob" bezeichnet. Zwar rekapituliert er die Fatwa gegen Saman Rushdie um die "Satanischen Verse" und konstatiert mehr oder weniger ein Versagen des Westens. Aber was hätte man tun sollen? Sein Heldentum bleibt stumpf, wenn er zum Beispiel an die Ermordung des japanischen Übersetzers erinnern muss.

So richtet Strenger seinen Aufruf, die "Kränkung" der argumentativen Niederlage zu ertragen, an die falsche Seite. Die Verfechter der Aufklärung dürften hiermit keine Probleme haben, was er sogar an zwei Beispielen belegt: Die Aufregung um Philipp Roths Buch "Portnoys Beschwerden" Ende der 1960er Jahre in der jüdischen Gemeinde der USA. Und ein Musical, das sich kritisch mit der Religionsgemeinschaft der Mormonen auseinandergesetzt hatte. In beiden Fällen hätte es zwar erbitterte Debatten gegeben, aber grundsätzliche Werte wie Publikations- und Meinungsfreiheit seien von den Kritikern niemals infrage gestellt worden; Drohungen und persönliche Angriffe seien unterblieben. Ein Kapitel, wie die Kränkungen von denen zu verkraften sind, die Strengers Aufklärungsideale nicht verfechten und was zu tun ist, wenn aus Kränkungen Drohungen oder gar Aktionen werden, sucht man leider vergebens.

Die Zeugen für Strengers Vorgehen sind gewichtig, wenn auch einseitig. Da das Ideal der säkulare Liberalismus ist, neigt er in der Religionskritik ziemlich stark Dawkins und Hitchens zu. In der politischen Ökonomie dienen ihm Krugman und Stiglitz als Vorbilder, was ein wenig überrascht. Philosophisch werden Autoren wie Pascal Bruckner, André Glucksmann und Bernard-Henry Lévy zitiert, ohne freilich deren zum Teil drastische Sprache zu übernehmen. Sorgfältig vermeidet Strenger Begriffe wie "Multikulturalismus" und "Parallelgesellschaft". Um die Frage des außenpolitischen Interventionismus, den die Vertreter der "Nouvelle Philosophie" gerne verfechten, indem sie Aufklärung, Demokratie und "zivilisierte Verachtung" notfalls mit militärischer Gewalt in andere Staaten exportieren möchten, drückt sich Strenger ebenfalls. Damit bleibt sein Essay ein wohlformuliertes Bekenntnis, dass sich jedoch bedauerlicherweise nicht mit den Niederungen der Exekutive abgibt. 

Strenger lebt in Israel, lehrt an der Universität in Tel Aviv und forscht über Terrorismus. Da wäre es sehr interessant gewesen, welche Lösungsmöglichkeiten er für diejenigen Minderheiten in westlichen Gesellschaften vorschlägt, die sich den Idealen der Demokratie und Aufklärung nicht nur widersetzen, sondern sie auch aktiv und zum Teil mit Gewalt auslöschen wollen. Das Spektrum dieser militanten Aufklärungsverweigerer ist übrigens größer als gedacht. Es umfasst nicht nur den salafistischen Prediger in Dinslaken, London oder Kairo oder die evangelikalen Abtreibungsgegner in den USA, sondern auch den Neo-Nazi aus Dortmund und die linksautonome Szene in Hamburg.

Als das Buch schon fast zu Ende ist, liefert Strenger noch eine präzise Analyse der wichtigsten Gefahr für die westlichen Gesellschaften. Im Rekurs auf Nietzsche entwirft er den zeitgenössischen "Letzten Menschen", der nur noch damit beschäftigt sei, "Risiken so weit wie möglich zu minimieren, bis auch Extremsport versicherungstechnisch abgedeckt ist." Die neuesten technischen Errungenschaften, ein Abo für das Fitness-Studio, ein halbwegs komfortables Leben – das genüge schon. "Der Letzte Mensch möchte nur noch in Ruhe gelassen werden, damit er sich auf Karriere, Familie und Hobbies konzentrieren kann." Politik wird delegiert, als "Management" betrachtet. Der "apathische Letzte Mensch" ist dadurch aber anfällig für falsche Versprechungen und totalitäre Politikentwürfe, sofern sie sein Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Status quo bedienen. So könnte man erklären, dass die generalstabsmässigen Bespitzelungen durch Geheimdienste und/oder multinationale Konzerne billigend und ohne großes Murren in Kauf genommen werden. In der Freiheit, die Strenger so emphatisch verfechtet, steckt nur dann eine "sinnstiftende Leidenschaft", wenn sie endgültig verloren gegangen ist, so der Autor. Ansonsten wird sie als allzu selbstverständlich genommen; ihre Einschränkungen und Bedrohungen bemerkt man womöglich erst zu spät.

Strengers Idee der "zivilisierten Verachtung" könnte man auch als "wehrhafte Demokratie" bezeichnen. Sofort wird dann der Fokus von der bequemen, akademischen Betrachtung auf die alltägliche Praxis gelenkt. Denn eine "wehrhafte Demokratie" definiert nicht nur ihre Werte, sondern setzt eigene, gesellschaftliche Standards, beispielsweise auch in der Migrations- und Einwanderungspolitik. Eben um diese Themen nicht politisch radikalen Gruppierungen zu überlassen. Die "zivilisierte Verachtung" Strengers, beim Wort genommen, wäre eben kein Wohlfühl-Paradiesgarten, sondern ein Gebilde, in dem es verbindliche Werte und Regeln für Alle gibt. Welche Konsequenzen dies bedeuten könnte – auch hierüber hätte man gerne etwas erfahren.

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Artikel online seit 24.08.15
 

Carlo Strenger
Zivilisierte Verachtung
Zivilisierte Verachtung - Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit
Suhrkamp Verlag
Broschur, 104 Seiten
10,00 €
978-3-518-07441-1

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