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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Indische Taxifahrerin & vier japanischen Geschwister

Ein paar Eindrücke auf den 49. Hofer Filmtagen

Von Wolfram Schütte

 

Das 64. Internationale Filmfestival in Mannheim & Heidelberg wurde dieses Jahr wieder einmal (wie in den Sechziger bis Neunziger Jahren) in den Oktober verlegt. Es ging nach der Marathon-Dauer von 16 (!) Tagen Ende Oktober zu Ende – gleichzeitig mit den  49. Internationalen »Hofer Filmtagen«. In knapp einer Woche liefen im Oberfränkischen Hof 28 deutschen Lang- & 31 deutschen Kurzfilme neben zahlreichen Arbeiten u.a. aus der Schweiz, Österreich, Indien, Belgien, Kanada, Argentinien, Japan, Frankreich in 8 unterschiedlich großen Kinos. Obwohl also zeitgleich stattfindend, kamen sich die beiden konkurrierenden Herbst-Filmfestivals nicht in die Quere.

Wie man in der »Metropolenregion« an Rhein & Neckar mit dem ersten Spielfilm aus Malta geprunkt hat, so rühmte sich die oberfränkischen Metropole damit, einen ersten Film aus dem Jemen im Programm zu haben; und wie die Mannheim-Heidelberger Veranstaltung dieses Jahr vielfach verändert an den Start ging, konnten die Hofer Filmtage ab diesem Jahr einen mit 7.500 € dotierten Dokumentarfilmpreis vergeben. Er heißt »Granit«, weil es dessen Härte bedürfe, wie der ewig Pilzköpfige Hofer Verantwortliche, Heinz  Badewitz, den ungewöhnlichen geologischen Namen des Preises begründet, um Dokumentarfilme zu machen. Dafür hatte Hof (wie auch schon Mannheim-Heidelberg) eine ganze Reihe nationaler & internationaler Dokumentarfilme anzubieten. Es waren insgesamt, wie mir schien, mehr als in den vergangenen Jahren. Seit das Genre in den letzten Jahren eine Formen-Vielfalt zwischen Essay & Erzählung, biographischer Recherche & Langzeitbeobachtung  entwickeln konnte, hat es auch an Attraktivität für die Neugierigen im Publikum an Attraktivität gewonnen.

»Heart of a dog«, der zweite Film des weltbekannten nordamerikanischen Multitalents Laurie Anderson, ist ein sehr persönliches, witziges & fantastisches mixtum compositum, das sich rund um den von der Künstlerin sehr geliebten Terrier Lolabelle kristallisiert. Die Dokumentation »BErliN« von Pantea Lachin & Sobo Swobodnik, die das 85jährige Berliner Original Ben Wagin auf viele Weisen evoziert, leidet jedoch darunter, dass die beiden Dokumentaristen dem eigensinnigen Aktionskünstler offenbar zu nahe sind & keine überzeugende Form gefunden haben, ihr reichhaltiges filmisches Material über Leben, Tätigkeiten & Werke Ben Wagins zu organisieren. Dem 1979 geborenen Hendrik Löbbert ist mit seinem Debüt »Grenzbock« ein auch optisch faszinierender Essay über den Wald, das Wild & die Jagd gelungen, der in seiner kühlen Rätselhaftigkeit & gelegentlichen menschlichen Komik an die frühen irritierenden Dokumentationen des jungen Werner Herzog erinnert & in monumentaler Ruhe Landschaft & Jäger-Bürokratie zur leuchtenden Erscheinung bringt.

Frauenmut & Tapferkeit vor dem Mann

Völlig zurecht hat aber die an der Filmakademie Baden Württemberg studierende 28jährige Manuela Bastian den ersten »Granit«-Preis für ihre Langzeitdokumentation »Where to, miss?« erhalten. Über mehrere Jahre hinweg ist sie mit nur einem Kameramann nach Indien gefahren, »um Verständnis zu erzeugen für die Frauen, die es nicht schaffen, aus den traditionellen gesellschaftlichen Strukturen auszubrechen, und denen Mut zu machen, die den langen, zähen Kampf aufnehmen«, um das Zwangskorsett abzulegen, in das die männlich dominierte indische Gesellschaft selbstbewusste Frauen von Kindheit an zwängt: erst als Tochter, dann als Ehefrau, schließlich als Mutter.

Die Münchner Dokumentaristin begleitet die junge Devki, die Tochter eines Fliessenlegers in Neu-Delhi, deren größter Wunsch es ist, als Taxifahrerin auch finanziell auf eigenen Beinen zu stehen – in der »gefährlichsten Stadt Indiens« (Bastian), weil dort die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander treffen & die brutale Massenvergewaltigung einer Studentin kürzlich weltweit Bestürzung ausgelöst hat. Die Dokumentaristin, die sich nur über einen Dolmetscher mit der jungen, höchst eigensinnigen Rebellin verständigen konnte, dokumentiert die Ups & Downs der ebenso mutigen wie zähen sympathischen Frau, sich erst der Zwangsheirat mit einem Alkoholiker, dann der fürsorglichen Versorgung des Vaters für die geschiedene Tochter entzieht. Als die resolute Jeansträgerin die Prüfung für die Taxifahrerlizenz im zweiten Anlauf besteht, heiratet sie einen neuen Mann, den sie liebt. Er bringt  die schwangere Ehefrau aus der gefährlichen Stadt, wo sie durch ihren Verdienst eigenständig ist, zu seinen konservativen Eltern auf dem Land, wozu sie sich erst einmal einen Sari zulegen muß, um akzeptiert zu werden. Dort am Rande des Himalaya,  wo sie die einheimische Sprache nicht versteht & vollständig isoliert, gewissermaßen aus ihrer bisherigen Lebenswelt gefallen ist bringt sie, unter der Knute des alles bestimmenden Schwiegervaters, ihren Sohn zur Welt. Obwohl sie Glück hat, einen Sohn statt einer Tochter geboren zu haben, gerät sie nun als Städterin umso tiefer in die traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse der dörflichen Gemeinschaft.

Erstaunlich an diesem sehr dicht erzählten Lebenslauf ist die Intimität, welche die Deutsche nicht nur zu ihrer indischen »Heldin« aufbauen konnte, sondern auch zu Vater, Mann, Schwiegervater &-mutter, die alle ihre unterschiedlichen, kontroversen Lebensansichten vor der Kamera äußern.

Mittlerweile hat sich Devki, die Sari tragende Mutter aus den ländlichen Zwangsverhältnissen wieder gelöst & sogar ihre Schwiegermutter mit zurück in die Stadt mitgenommen. Das erzählte die deutsche Dokumentaristin im Gespräch. Sie schließt nicht aus, ihre Langzeitbeobachtung des Emanzipationskampfes der kühnen Devki – den sie bisher mit minimalen ökonomischen Mitteln fabulös realisiert hat – weiterhin fortzusetzen, vielleicht mit dem Preisgeld, das die ebenfalls bewundernswerte junge deutsche Regisseurin nun  gewonnen hat.

Satirische Geißelung & gefühlvolle Beschwörung der Familie

Unter den vielen Spielfilmen, die in Hof gezeigt wurden, fielen mir der scharfe satirische Witz des Argentiniers Alexander Katzowicz auf, der in seinem bravourösen »Internet Junkie« eine vielstimmige Groteske über die »Zombies im Wunderland ihrer Computer & Laptops« vorlegte. Dabei fiel einem (jetzt noch) in den Fiktionfilmen  auf, was in Kürze zum unauffälligen Alltag im öffentlichen Leben & deshalb auch im Film gehören dürfte: das Tablet; es gibt nämlich kaum einen Film, der ohne den demonstrativen Wisch-Gebrauch eines leuchtenden Tablets auskommt. Schon jetzt funktioniert das Tablet im Film wie einst im Tonfilm das Telefon: nicht nur als Alltagsgegenstand der Kommunikation, sondern auch als Leitfossil. zur Historizität des jeweiligen Films.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe, gehört der sehr schöne japanische Film »Unsere kleine Schwester« noch zur Vor-Tablet-Zeit. Sein 1962 in Tokio geborener Regisseur Hirokazu Kore-Eda hat so etwas wie das heutige Remake eines idealen Ozu-Films gedreht. .Zwar vermisst man die strenge kalligrafische Ikonografie des japanischen Altmeisters, aber »Unsere kleine Schwester« ist mit großer menschlicher Wärme, liebender Zuneigung, wissender Melancholie & zartem Humor erzählt.

Lokalisiert in einem großen alten Holz-Haus in einer Hafenstadt leben die drei erwachsenen Schwestern noch immer einträchtig zusammen, obwohl sich Vater & Mutter vor 15 Jahren getrennt & andernorts neue Partner gefunden hatten. Während die älteste, die Krankenschwester Sachi, die die familiäre Mädchen-Kommune dominiert, ein Verhältnis mit einem verheirateten Arzt unterhält, gerät die zweitälteste immer wieder an die falschen Männer, die ihr nach kurzer Zeit den Laufpass geben. Nachdem die drei Schwestern bei der Beerdigung ihres geliebten Vaters dessen vierte Tochter - aus seiner zweiten Ehe mit einer jüngeren Frau - die 13jährige Suzu, erstmals zu Gesicht bekommen haben, laden sie nach anfänglichem Fremdeln das Mädchen, das offenbar sterbenden Vater allein gepflegt hatte, spontan ein, zu ihnen zu ziehen, was sie Suzu auch bald tut.

Wie bei Ozu geschieht in dieser familiären Hausgemeinschaft, die wir immer wieder beim gemeinsamen Essen sehen, kaum etwas: ein ritualisiertes, ereignisloses Leben, dessen Gleichförmigkeit von einem wiederkehrenden musikalischen Motiv untermalt & akzentuiert wird, das an das Mahlersche Adagietto in Viscontis »Tod in Venedig« von ferner erinnert.

Aber im Verlauf dieser minimalen Entwicklungen, blättert Hirokazu Kore-Eda mit seinen vier fabelhaften Hauptdarstellerinnen im Zyklus der Jahreszeiten & dem ewig anbrandenden Meer am Strand des Städtchens ein ganzes Panorama familiärer Befindlich- & Verschwiegenheiten, sozialer Verwerfungen & Bedrohungen, weiblicher Wünsche & Ängste, Glück & Sorgen auf & macht uns mit der Dialektik von individuellen Fluchtemotiven & kollektivem Verantwortungsbewusstsein bekannt. »Die kleine Schwester« ist eine subtile philosophische Erzählung darüber, wie mit Würde & fürsorgender Liebe guten Gewissens zu leben (& auch zu sterben) sei.

Es ist ein großes Glück, dass dieser sehr schöne Film sogar bald in einige unserer Kinos kommen wird – was man leider von den meisten Filmen, die es – ob in Hof oder Mannheim-Heidelberg – verdient hätten, nicht wird  erwarten können. Nur wer hier & dort in die Kinos der lokalen Filmfestivals gegangen war, kann von sich sagen, dass er dabei war, als das Kino der Welt jenseits des Mainstreams zu sehen & zu entdecken war. Die überregionale Print-Presse, für die einmal beide Festivals »Pflichtveranstaltungen« waren, schaut schon längst nicht mehr vorbei.  

Artikel online seit 28.10.15
 

 


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