Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Einübung ins Meisterdenken

Peter Sloterdijks Taschenspielertricks

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Wir verdanken Peter Sloterdijk einige der bemerkenswertesten philosophischen Metaphern seit Friedrich Nietzsche. Es sind Bilder, mit denen er die Probleme der Gegenwart veredelt ohne die überflüssige Kraftanstrengung auf sich nehmen zu müssen, nach unmöglichen Lösungen zu suchen. Denn er gefällt sich in der Rolle eines Kommentators der politischen und gesellschaftlichen Krise. Seine ästhetisch aufgeladene Andeutungsprosa, schwankend zwischen Kunstsprache und Sprechblase, entfaltet ein polyfokales All-Over an Themen, Thesen und titanischer Theatralik. So kann der große Poet unter Deutschlands Denkern jede Kritik problemlos als absichtliche Fehldeutung kontern.
Wir können uns Peter Sloterdijk als Meistertrainer im Denken vorstellen. Beginnen wir unsere kleine Übungsanleitung mit Hilfe der Lektüre »Was geschah im 20. Jahrhundert?«.

Deine philosophische Strategie

Schreibe nebulös und zweideutig, damit Du jede Interpretation als »Nuancen-Mord« zurückweisen darfst. Mach Andeutungen, vage Annahmen, tarne Deine Argumente als Hinweise oder »launige Digression« – und Du hast nichts weiter zu fürchten als die naiven Einwürfe der philosophisch Auszubildenden, deren Zeilen stets ins Leere laufen. Bediene Dich skrupellos der Umdeutungskunst, die jeden Einwand als skrupellose Umdeutungskunst enttarnt. Brandmarke Diskurse als überhitzt, obwohl Du selbst die Debatte entzündet hast. Fühle Dich als ewig Missverstandener, damit man das Dunkle Deiner Gedanken ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Stürz Dich ins Metapherngestöber, neige zu Übertreibungen, sei stets suggestiv und provokant in Deinen Äußerungen. Werde zum Trainer Deiner eigenen Sprachspiele. Bleibe in allen Dialogen immer ein Solipsist: Spiele stille Post mit den Gedanken Deiner Zeitgenossen. Habe immer Recht. Wer will schon mit Dir streiten, wenn Du in der Wahrheit wohnst?
In Deinen Texten lebe das Prinzip der Big Canvas: Deine Bilder sollen nicht einmal mit dem Ultraweitwinkelobjektiv der Hermeneutik einzufangen sein. Betrachte die Welt selbst aus der Felix-Baumgartner-Perspektive: Wage den philosophischen Stratosphären-Sprung.

Dein philosophischer Einstieg

Fordere nicht weniger als eine prophetische Vernunft und erinnere mit Thomas Hobbes an die Tatsache, dass im Zeitalter des Menschen ein Krieg aller gegen alle entfesselt worden ist.
Lobe Deine prognostische Intelligenz, kritisiere die »Kognitions-Industrie«.
Betrachte die Lage der Menschheit als permanente Gerichtsverhandlung und rette Dich an Bord Deines selbsterbauten philosophischen Rettungsbootes.
Als Konsument sei asketisch, nicht aber als Rhetor.
Werde Meteorologe, Reformator der Gegenwart, und rufe zur Umkehr auf (Wann hat jemals ein Meteorologe zur Umkehr aufgerufen?).
Sprich endlich über Platon als habe er Begriffe des 14. Jahrhunderts (»Pastor«) vorweggenommen
. Vergiss dabei, dass der gute Hirte bei Platon  ὁ ποιμὴν ὁ καλός heißt. Vergiss hingegen niemals Nietzsches Selbstzüchtungstheorem und nenne den Menschen getrost einen »König der Haustiere« oder ein »Autodomestikationsprodukt«. Definiere seine Kultur als »umfassenden Brutkasten«. Verweise in einer gedanklichen Blutgrätsche auf die Menschenpark-Diskussion.
Behaupte, das Reproduktionsgeschehen sei regulierungsbedürftig, insbesondere in den gewaltbeheimateten arabischen Ländern. Erspare Dir die Frage, was regulierungsbedürftig heißt und wie und durch wen reguliert werden soll. Du bist kein Ethiker. Verweise im Zweifel auf einschlägige historische Dokumente, sage jedoch nie (hörst Du, nie!), welche das sind.

Dein philosophischer Aufstieg

Kehre sodann auf den Ozean Deiner Metaphern zurück. Du musst Dich als »Angestellter des Ganzen« verstehen lernen.
Nimm die technologischen Neuerungen in der globalisierten Welt ebenso wahr wie die »Apokalypse des Realen«, die bis dato nur eine Agonie (Baudrillard) war. Entdeckst Du die Motoren? Die »Energiesubjekte ohne Kopf«? Die »geköpften Subjekte«? Frage Dich nicht, wer den Motoren den Kopf abgeschlagen hat. Es könnte sein, dass sie nie einen besessen haben.
Schweife in Gedanken bis in Renaissance und Barock zurück, um zu erkennen, was die gegenwärtige Welt im Innersten zusammenhält: Die triumphierende Ungeduld und »das Prinzip Sofort«.

Versuche, Deine Ethik aus einer Neu-Interpretation der Sonne zu gewinnen. Versuche nie, auch nur einen ethischen Satz zu formulieren.
Denke immer daran, dass der Mensch ein von Texten bewohntes Tier ist. Es erzählt Geschichten, die eine Art alternativen Wärmestrom erzeugen, der seit dem 14. Jahrhundert durch die Zivilisationen fließt (Lord Kelvin und Joseph Beuys könnten als Zeugen auftreten).
Markiere das Jahr 1348 als den Beginn eines Zeitalters der Ansteckungsräume und Risikozonen. Denke darüber nach, ob eine Raumstation Rettung verspricht. Schließlich ist sie ein »ontologisches Implantat«, eingepflanzt in den »externen Welt-Behälter«.

Beschäftige Dich ausgiebig mit Heidegger, weil alle Meisterdenker sich mit Heidegger beschäftigen müssen. Siehst Du in dem einstigen Rektor der Universität Freiburg nicht auch den »Adventsbeschleuniger« im Dienste der großen Geschichte – oder doch nur den brüllenden Messias mit hässlichem Oberlippenbart?

Schreibe Sätze wie diese:

»Nie ist der Denker [Heidegger] dem generativen Pol seiner Begriffskraft näher, als wenn er den Exodus aus der Pseudo-Ewigkeit des Schulwissens in die aufgewühlte Temporalität des gegenwärtigen Daseins ausarbeitet – eines Daseins, das ganz unter dem trüben Licht seiner Ratlosigkeit und Rastlosigkeit liegt. Bei diesem Geschäft entfaltet der Denker eine Kraft zur Explizitheit, die seinem Genie ein hohes Zeugnis ausstellt. Der Ausdruck Dasein lädt sich schon früh mit der Schwingung eines stark aktualisierten Zeitbewußtseins auf: Weil das Existieren im jungrealistischen Stil eine kontra-transzendente Bewegtheit aufweist; weil es mit hohem Einsatz seine Ent-Ewigung betreibt und im Abstieg von der derealisierten Höhe distanzierter Theorie die Vermählung mit der strömenden Gegenwart im Sinn hat ..., wird es von seinem eigenen Elan gedrängt, die Zugehörigkeit zu der reißenden Zeit affirmativ hervorzukehren.«

Lass diese Sätze auf Deine Leser wirken.

Dein philosophischer Abstieg

Wer die Sonne gesehen hat, muss in die Höhle zurück. Du brauchst Weggefährten. Nimm Odysseus mit. Ein Sophist durch und durch, wie Du weißt. Denke bei ihm auch einmal in vorgedachten Bahnen. Betrachte ihn wie schon so viele vor Dir als polytropos, polymetis, polytlas und polymechanos: Reiselustig, vielwissend, geduldig und listenreich.

Und obwohl ein Vergleich zwischen Odysseus und der Sophistik förmlich danach ruft: Lass den Hippias minor beiseite, denn Hippias von Elis hat Odysseus doch bloß als πονηρός und ψεῦδος, boshaft und falsch, portraitiert. Du kannst Odysseus freilich auch als Vorläufer des Platonismus betrachten. Fokussiere zu diesem Zweck die ἀνάμνησις-Lehre.

Denke Odysseus als Prototypen. Vermittle über seine Person die Latenz historischer Erfahrungen, Erfindungen, Katastrophen und Geisteshaltungen, die im 20. Jahrhundert zum Durchbruch gelangen. Damit bist Du bei Deinem eigentlichen Thema: Den Mittellosen, die andere »durch ihre Kläglichkeit nötigen.« Errichte deshalb ein Trainingslager der Tüchtigkeit.

 Deine fünf philosophischen Maximen

1. Beginne stets mit Philosophie und ende immer in Rhetorik.
2. Erzürne nie Deinen Meister.
3. Sei sparsam mit Kritik.
3. Werde selbst zur Metapher.
4. Wiederhole die Übung.

PS.: »Die Welt ist nicht Thema des Dichters, sondern Wörterbuch seiner Metaphern.« (Nicolás Gomez Davila)

Artikel online seit 16.05.16

 

Peter Sloterdijk
Was geschah im 20. Jahrhundert?
Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft
Suhrkamp
Gebunden, 348 Seiten
26,95 €
978-3-518-42507-7

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten