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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Der Holocaust als Kapitel politischer Bildung?

Timothy Snyder analysiert in »Black Earth« die Entstehung
des
Holocaust und warum er sich wiederholen kann.


Von Jürgen Nielsen-Sikora

In seinem viel diskutierten Buch »Bloodlands« hat der Historiker Timothy Snyder vor ein paar Jahren einen Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und stalinistischen Barbarei angestrengt. Sein Ziel war, »unser Zeitalter und uns selbst zu verstehen.« Das Buch war insofern der historische Aufhänger einer Gegenwartsdiagnose und nichtsdestotrotz eine gut geschriebene Zusammenschau jahrzehntelanger Forschungen zu den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945 in Plen, der Ukraine, in Weißrussland und den Baltischen Staaten. Die »Bloodlands« bilden auch den Kern von Snyders jüngstem Buch mit dem an einen Science-Fiction-Film erinnernden Titel »Black Earth«.

Das Zusammenspiel von NS-Herrschaft und Stalinismus wieder aufnehmend, geht es in »Black Earth« um die Entstehung des Holocaust, insbesondere um die Judenverfolgung und -ermordung vor und während des Zweiten Weltkriegs. Sein Hauptthema bettet Snyder ein in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Zwischen Militär- und Ideengeschichte angesiedelt, fesselt das Buch nicht zuletzt durch detailreiche Einzelfallstudien, durch die Snyder weniger bekannte und geläufige Schicksale zu einem äußerst lesenswerten Essay verwebt. Wie zurzeit kaum ein anderer vermittelt er äußerst erfolgreich, öffentlichkeitswirksam und gleichsam kenntnisreich den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa.

So begegnen wir auch Jan Karski wieder. Der katholische Leutnant und Nachrichtenkurier zwischen der polnischen Untergrundregierung und ihrer Repräsentanten zunächst in Frankreich und später in England avancierte zu einem bedeutenden Protagonisten des polnischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Auch berichtet Snyder von Menachem Begin, der 1977 israelischer Ministerpräsident wird, und in den 1930er Jahren Mitglied in der jüdischen Untergrundorganisation Irgun war, die starke politische Verbindungen nach Polen hatte. Die Schilderung der jüdisch-polnischen  Netzwerke, die sich bis weit in die Geschichte des Staates Israel fortsetzen, gehört zweifellos zu den faszinierendsten Kapiteln des Buches.

Die Schauplätze von »Black Earth« sind nicht selten jene aus den »Bloodlands«: Charkow, Babi Jar, Warschau, Kiew und Minsk – Orte, an denen unter anderen die Einsatzgruppen wüteten, Orte zahlreicher Kriegsverbrechen, Orte der Kollaboration und des Einflusses nicht-deutscher Nationalsozialisten auf den Holocaust.

Das Buch beginnt mit einem lesenswerten Psychogramm Hitlers. Snyder konstatiert sodann, die Juden seien für Hitler die »Zerstörer des Paradieses« gewesen, der Holocaust Hitlers Versuch, die »Ursünde der jüdischen Spiritualität« zu tilgen und ein »Paradies des Blutes« wiederherzustellen. Hitlers Verschwörungstheorie mündete in der Barbarei: Im Lauf der NS-Herrschaft hat er seine zoologische Theorie in eine politische Ideologie verwandelt, die im Holocaust ihren traurigen Höhepunkt fand. Allerdings war dieser schon vor Auschwitz in vollem Gange. Er begann mit der Zerstörung staatlicher Strukturen und Institutionen, der Abschaffung von Recht und Gesetz und den Massenerschießungen überall in Europa. Eine Gleichsetzung von Auschwitz mit dem Holocaust wäre insofern viel zu kurz gegriffen, so Snyder.

Der Holocaust hatte seine Wurzeln zuvorderst im Antisemitismus und der Angst; Momente, die Hitler geschickt zu nutzen wusste, indem er eine konsequente Vermischung von Politik und Wissenschaft betrieb. Er verband politische Probleme mit pseudobiologischen Erklärungen und propagierte einen ewigen Krieg der Rassen.

Insgesamt ist Snyders Interpretation nachvollziehbar und überzeugend, auch wenn hin und wieder kleine Fehleinschätzungen den Gesamteindruck ein klein wenig trüben. So ist die Behauptung, die Judenverfolgung in Deutschland habe die Juden nach Palästina getrieben und so die arabischen Unruhen ausgelöst, nicht ganz richtig. Die Unruhen gab es bereits Ende der 1920er Jahre, hervorgerufen durch die Einreise von Juden aus aller Welt, die sich Herzls zionistischem Programm einer Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina verschrieben hatten. Auch der Vergleich am Ende des Buches zwischen den Ideen der Frankfurter Schule und der NS-Ideologie ist wohl eher als verunglückte Randbemerkung von »Black Earth« einzuordnen.

Diskussionsstoff bietet vielmehr der fulminante Schluss. Denn Snyder bleibt nicht bei der bloßen Schilderung der Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 stehen. Er fragt auch nach den Lehren aus der Vergangenheit und entwirft Szenarien der Zukunft. Obwohl der Untertitel des Buches ein wenig über den Inhalt hinausschießt, indem die deutsche Fassung von einer möglichen Wiederholung des Holocaust spricht, so begreift Snyder die Darstellung des Holocaust nicht zuletzt als ein politisches Mittel, um zu zeigen, dass auch in der Gegenwart gefestigte Staatsstrukturen notwendig sind, um zukünftige Barbareien verhindern zu können. Snyders These: Wir müssen den Holocaust verstehen, um unsere Menschlichkeit auch in Zukunft zu bewahren.

Die größte Gefahr sieht er in diesem Zusammenhang beim Thema Klimawandel. Denn dessen Auswirkungen könnten dazu führen, erneut nach globalen Opfern zu suchen. Für solche Spekulationen mag er Kritik ernten – sein Buch bleibt ein aufregendes und aufschlussreiches Stück Zeitgeschichte.

Artikel online seit 17.12.15
 

Timothy Snyder
Black Earth
Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann
Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl-Heinz Siber und Andreas Wirthensohn
C.H. Beck
488 Seiten mit 24 Karten. Gebunden
29,95 €
978-3-406-68414-2


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