Wilhelm Schmid, Philosoph und Experte für Lebenskunst, hat ein neues
Beratungsbuch geschrieben. »SEXOUT. Und die Kunst neu anzufangen« (2015) steht
auf dem genau 135 bedruckte Seiten umfassenden Insel-Band. Blinkend in zwei
Silben zwischen Rot (SEX) und Pink (OUT), wie eine Neonreklame, die gleich
mehrere Alternativen und Möglichkeiten, Verstrickungen und Ausgänge anzeigt und
damit ein heterogenes Publikum anwirbt.
Der
plakative Exhibitionismus des obsessiv gewordenen Themas vom Sado-Maso im
Themenzimmer über die Merkel-Raute bis zum Blow-Job direkt unterm
Konferenztisch, die Allpräsenz in den Medien und im Internet steht quer zur
realen Ambivalenz zwischen Euphorie und Frustration, Verwirrung und Aufklärung,
Gruppenbildung und Isolation der Individuen auf ihren Lust-Pfaden in den
Labyrinthen der säkularen westlichen Gesellschaften. Sex ist zu einer diffusen
Wellness-Religion geworden, einem oft verblödenden Hintergrundrauschen in
Bildern, Texten und Angeboten, jederzeit abrufbar auf dem Smartphone, und doch
mehr Verfallsform des Freudianischen Wissens als wahrhaft
griechisch-fernöstliche Liebeskunst. Die sexuelle Revolution der Babyboomer ist
längst vorbei, das Thema Aids beunruhigend verharmlost. Sex ist ein flüchtig
verhandelbarer Bestandteil, ein Reizthema des zivilen 24-Stunden-Alltags
geworden, zwischen Klamauk und Sehnsucht, Treue und Skandal, Einmaligkeit und
Routine, Hausfrauenkick und Managerrisiko. Homosexuelle Minderheiten pochen
selbstbewusst und erfolgreich in Politik und Gesellschaft auf ihre Rechte und
streben den allgemeinen Rollenwandel hin zur sexuell vielseitigen Orientierung
an. Missbrauchsskandale im linksalternativen, sozialliberalen und kirchlichen
Spektrum führen zur Korrektur und Aufarbeitung von gefährlichen Heucheleien und
Hierarchien, Illusionen und Praktiken von Heiligkeit und Sünde, Unschuld und
Verfügung.
Schmid hat seine neue Publikation im Stil seiner zahlreichen früheren kleinen
Ratgeber geschrieben, vor allem im Tonfall des überaus erfolgreichen Bandes
»Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden« (2014), der immer noch
die Beststellerlisten ziert. Gelassenheit ist eine antikische,
stoisch-aristotelische Haltung, zwischen Vergeistigung und Askese, modern zur
Coolness transformiert. Die Fähigkeit und Fertigkeit, sich in allen möglichen
Lebenslagen zwischen Glück und Beschwernis ausgewogen, bedächtig und umsichtig
zu verhalten, um die eigene Souveränität im Denken und Handeln zu wahren und
sich nicht von situativen Versprechungen oder Gefährdungen einseitig
manipulieren und bedrängen zu lassen.
Manchmal wünscht man sich in dem Band »Gelassenheit« eine umfassendere
analytische Einbettung und Kritik dieser umfassenden »Tugend« zwischen Basis und
Überbau, Seele und Geist, Erziehung und Konstitution, um verdeutlicht zu
bekommen, wie viel sportive Arbeit, Training und infantile Robustheit, aber auch
intellektuelle Konzentration und Horizonterweiterung sowie soziale
Rücksichtnahme und Widerstandskraft (siehe Sloterdijk) gerade im scheinbar
reibungslosen Funktionieren der heute nach außen nivellierten
Beschleunigungs-Gesellschaft benötigt wird, ohne derzeit den intensiven Output
der früheren Expertenkulturen mit spezialisierten und verfeinerten Kompetenzen
zu erreichen.
Vielleicht ist da bei Wilhelm Schmid ein bisschen zu viel Heidegger im Spiel,
der die Gelassenheit gegen das Technik-Zeitalter stellte. Was empfand Martin H.
in den Liebesnächten mit Hannah Arendt, die seine Frau wissend ertragen musste?
Gefällig, eher nüchtern als einflüsternd im Ton, und nie ohne
philosophisch-argumentativen Background geschrieben, kann Wilhelms Schmids
Gelassenheits-Buch dennoch einerseits leicht als Hängemattenphilosophie
missverstanden und konsumiert werden, weil die Schräglagen des Lebens,
Älterwerden, Einsamkeit, Scheitern, Krankheit und Tod, oft in verbale Watte
gepackt erscheinen. Das ist zum Teil dem Gestus der Popularität und einem
entsprechend milden Ton geschuldet. Dem nachdenklicheren Leser wird auch quer
durch die Kapitel Anlass zum Disput über heute noch partiell oder allgemein
gültige Tugenden und Ethik-Positionen zwischen Egomanie, Gruppenzwang, echter
Partnerschaftlichkeit und legitimem Restuniversalismus der Vernunft angesichts
der Lebenszeitalter und der Begrenztheit unseres Daseins geboten.
Die marktförmige Attraktivität des Buches zur Gelassenheit liegt in zwei
Dimensionen begründet: Einerseits hat Schmid im Rückgriff auf Michel Foucault
gediegene theoretische Begründungsarbeit zwischen Rationalität, Macht und
Lebensdienlichkeit geleistet, vor allem in seinem Hauptwerk »Philosophie der
Lebenskunst – Eine Grundlegung« (1998). Zum anderen besticht er hier bereits mit
einem weitgespannten und zugleich konkreten, nie verstaubten Ansatz der Sorge um
sich und der anzustrebenden Souveränität, das eigene Leben jederzeit aktiv
selbst zu gestalten und auch für andere diese machtvolle Freiheit hier und jetzt
im Alltag zu fördern. Darin liegen Foucaults und auch Schmids Ansätze, Kants
Programm der theoretisch-geistigen Aufklärung praktisch zu verankern. Und so
wirken die Empfehlungen und Ratschläge selten aufgesetzt oder zurechtgebastelt
oder akademisch (wie bei vielen Publikationen anderer Autoren auf dem
überschwemmten Markt), sie sind immer gedanklich, essayistisch und hypothetisch
abgefedert, frei vom Zwang, sie annehmen zu müssen, vor allem stellen sie
lebendige Einladungen dar, mit dem Autor und mit sich selbst als Leser ins
Gespräch zu kommen und den Prozess des Verstehens über sich und andere wieder
einzuleiten.
Nun also geht es um »Sex«,
zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Manie und Burnout, akzeptierter Routine und
sozialem Outing. Und wiederum betont Schmid die Gelassenheit und die Fähigkeit
zur Reflexion, um die Lage der angestrebten oder vermissten Lust (allein oder zu
zweit) immer wieder anders bewerten und einschätzen zu können und den Stillstand
im Leben und im Denken zu vermeiden. Der Lebenskunst- und Souveränitäts-Ansatz
soll das Phänomen Sex positiv rekonstruieren und bisher möglicherweise
übergangene Schritte und Perspektiven freilegen, die Chancen für das versingelte
Individuum oder für die Möglichkeiten alter und neuer Freund-, Lieb- und
Partnerschaften unter halbwegs Gereiften und Erwachsenen erschließen. Insofern
liegt hier weder ein reißerisches Buch spätpubertärer Träume oder Arsenal
schlüpfriger Sextopien wie in manchen »Jokes« von Žižek vor, auch keine Bibel
der Political Correctness oder ein exhibitionistischer Gender-Kodex zur
Verschmelzung männlicher und weiblicher Begehrensformen, sondern eine körperlich
und seelisch unverklemmte Grammatik der erotischen Urteilskraft zwischen Männern
und Frauen.
Gefordert wird die freundschaftliche Differenz, mit sich selbst und anderen in
einen seriösen und zugleich amüsanten Dialog über Möglichkeiten der erotischen
Inszenierung zu kommen und dabei auch ein Stück so oft verloren gegangener
Privatheit und Verbundenheit neu zu konstituieren. Mitten im Trubel der
erwarteten Lust, der vermeintlichen Vorlieben und Aversionen, in der erogenen
Landschaft der pochenden Körper und im delikaten sozialen Kontext sollen
menschliche Würde, ungezwungene Experimentierfreude und ein bestimmtes Maß an
partnerschaftlicher Liberalität geistvoll aufeinandertreffen, ohne Amor allzu
stark zum Götzenbild zu erheben, wovor schon Platons Sokrates im »Symposion«
warnte, lange vor dem Zeitalter des kommerziell ausgeschlachteten Cybersexes.
Wir werden sehen, wie die Stufe 2 des vorherigen Beratungsbuch-Erfolges zündet.
Artikel
online seit 27.07.15
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Wilhelm Schmid
Sexout
Und die Kunst, neu anzufangen
Insel Verlag
Gebunden, 130 Seiten
8,00 €
978-3-458-17646-6
Leseprobe
Wilhelm
Schmid
Gelassenheit
Was wir gewinnen, wenn wir älter werden
Insel Verlag
Gebunden, 118 Seiten
8,00 €
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Leseprobe
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