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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Probier's mal mit Gelassenheit

In Wilhelm Schmids neuestem philosophischen Ratgeber
geht es um »Sex«, zwischen Wunsch und Wirklichkeit,
Manie und Burnout, akzeptierter Routine und sozialem Outing.

Peter V. Brinkemper

 

Wilhelm Schmid, Philosoph und Experte für Lebenskunst, hat ein neues Beratungsbuch geschrieben. »SEXOUT. Und die Kunst neu anzufangen« (2015) steht auf dem genau 135 bedruckte Seiten umfassenden Insel-Band. Blinkend in zwei Silben zwischen Rot (SEX) und Pink (OUT), wie eine Neonreklame, die gleich mehrere Alternativen und Möglichkeiten, Verstrickungen und Ausgänge anzeigt und damit ein heterogenes Publikum anwirbt.

Der plakative Exhibitionismus des obsessiv gewordenen Themas vom Sado-Maso im Themenzimmer über die Merkel-Raute bis zum Blow-Job direkt unterm Konferenztisch, die Allpräsenz in den Medien und im Internet steht quer zur realen Ambivalenz zwischen Euphorie und Frustration, Verwirrung und Aufklärung, Gruppenbildung und Isolation der Individuen auf ihren Lust-Pfaden in den Labyrinthen der säkularen westlichen Gesellschaften. Sex ist zu einer diffusen Wellness-Religion geworden, einem oft verblödenden Hintergrundrauschen in Bildern, Texten und Angeboten, jederzeit abrufbar auf dem Smartphone, und doch mehr Verfallsform des Freudianischen Wissens als wahrhaft griechisch-fernöstliche Liebeskunst. Die sexuelle Revolution der Babyboomer ist längst vorbei, das Thema Aids beunruhigend verharmlost. Sex ist ein flüchtig verhandelbarer Bestandteil, ein Reizthema des zivilen 24-Stunden-Alltags geworden, zwischen Klamauk und Sehnsucht, Treue und Skandal, Einmaligkeit und Routine, Hausfrauenkick und Managerrisiko. Homosexuelle Minderheiten pochen selbstbewusst und erfolgreich in Politik und Gesellschaft auf ihre Rechte und streben den allgemeinen Rollenwandel hin zur sexuell vielseitigen Orientierung an. Missbrauchsskandale im linksalternativen, sozialliberalen und kirchlichen Spektrum führen zur Korrektur und Aufarbeitung von gefährlichen Heucheleien und Hierarchien, Illusionen und Praktiken von Heiligkeit und Sünde, Unschuld und Verfügung.

Schmid hat seine neue Publikation im Stil seiner zahlreichen früheren kleinen Ratgeber geschrieben, vor allem im Tonfall des überaus erfolgreichen Bandes »Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden« (2014), der immer noch die Beststellerlisten ziert. Gelassenheit ist eine antikische, stoisch-aristotelische Haltung, zwischen Vergeistigung und Askese, modern zur Coolness transformiert. Die Fähigkeit und Fertigkeit, sich in allen möglichen Lebenslagen zwischen Glück und Beschwernis ausgewogen, bedächtig und umsichtig zu verhalten, um die eigene Souveränität im Denken und Handeln zu wahren und sich nicht von situativen Versprechungen oder Gefährdungen einseitig manipulieren und bedrängen zu lassen.

Manchmal wünscht man sich in dem Band »Gelassenheit« eine umfassendere analytische Einbettung und Kritik dieser umfassenden »Tugend« zwischen Basis und Überbau, Seele und Geist, Erziehung und Konstitution, um verdeutlicht zu bekommen, wie viel sportive Arbeit, Training und infantile Robustheit, aber auch intellektuelle Konzentration und Horizonterweiterung sowie soziale Rücksichtnahme und Widerstandskraft (siehe Sloterdijk) gerade im scheinbar reibungslosen Funktionieren der heute nach außen nivellierten Beschleunigungs-Gesellschaft benötigt wird, ohne derzeit den intensiven Output der früheren Expertenkulturen mit spezialisierten und verfeinerten Kompetenzen zu erreichen.

Vielleicht ist da bei Wilhelm Schmid ein bisschen zu viel Heidegger im Spiel, der die Gelassenheit gegen das Technik-Zeitalter stellte. Was empfand Martin H. in den Liebesnächten mit Hannah Arendt, die seine Frau wissend ertragen musste? Gefällig, eher nüchtern als einflüsternd im Ton, und nie ohne philosophisch-argumentativen Background geschrieben, kann Wilhelms Schmids Gelassenheits-Buch dennoch einerseits leicht als Hängemattenphilosophie missverstanden und konsumiert werden, weil die Schräglagen des Lebens, Älterwerden, Einsamkeit, Scheitern, Krankheit und Tod, oft in verbale Watte gepackt erscheinen. Das ist zum Teil dem Gestus der Popularität und einem entsprechend milden Ton geschuldet. Dem nachdenklicheren Leser wird auch quer durch die Kapitel Anlass zum Disput über heute noch partiell oder allgemein gültige Tugenden und Ethik-Positionen zwischen Egomanie, Gruppenzwang, echter Partnerschaftlichkeit und legitimem Restuniversalismus der Vernunft angesichts der Lebenszeitalter und der Begrenztheit unseres Daseins geboten.

Die marktförmige Attraktivität des Buches zur Gelassenheit liegt in zwei Dimensionen begründet: Einerseits hat Schmid im Rückgriff auf Michel Foucault gediegene theoretische Begründungsarbeit zwischen Rationalität, Macht und Lebensdienlichkeit geleistet, vor allem in seinem Hauptwerk »Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung« (1998). Zum anderen besticht er hier bereits mit einem weitgespannten und zugleich konkreten, nie verstaubten Ansatz der Sorge um sich und der anzustrebenden Souveränität, das eigene Leben jederzeit aktiv selbst zu gestalten und auch für andere diese machtvolle Freiheit hier und jetzt im Alltag zu fördern. Darin liegen Foucaults und auch Schmids Ansätze, Kants Programm der theoretisch-geistigen Aufklärung praktisch zu verankern. Und so wirken die Empfehlungen und Ratschläge selten aufgesetzt oder zurechtgebastelt oder akademisch (wie bei vielen Publikationen anderer Autoren auf dem überschwemmten Markt), sie sind immer gedanklich, essayistisch und hypothetisch abgefedert, frei vom Zwang, sie annehmen zu müssen, vor allem stellen sie lebendige Einladungen dar, mit dem Autor und mit sich selbst als Leser ins Gespräch zu kommen und den Prozess des Verstehens über sich und andere wieder einzuleiten.

Nun also geht es um »Sex«, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Manie und Burnout, akzeptierter Routine und sozialem Outing. Und wiederum betont Schmid die Gelassenheit und die Fähigkeit zur Reflexion, um die Lage der angestrebten oder vermissten Lust (allein oder zu zweit) immer wieder anders bewerten und einschätzen zu können und den Stillstand im Leben und im Denken zu vermeiden. Der Lebenskunst- und Souveränitäts-Ansatz soll das Phänomen Sex positiv rekonstruieren und bisher möglicherweise übergangene Schritte und Perspektiven freilegen, die Chancen für das versingelte Individuum oder für die Möglichkeiten alter und neuer Freund-, Lieb- und Partnerschaften unter halbwegs Gereiften und Erwachsenen erschließen. Insofern liegt hier weder ein reißerisches Buch spätpubertärer Träume oder Arsenal schlüpfriger Sextopien wie in manchen »Jokes« von Žižek vor, auch keine Bibel der Political Correctness oder ein exhibitionistischer Gender-Kodex zur Verschmelzung männlicher und weiblicher Begehrensformen, sondern eine körperlich und seelisch unverklemmte Grammatik der erotischen Urteilskraft zwischen Männern und Frauen.

Gefordert wird die freundschaftliche Differenz, mit sich selbst und anderen in einen seriösen und zugleich amüsanten Dialog über Möglichkeiten der erotischen Inszenierung zu kommen und dabei auch ein Stück so oft verloren gegangener Privatheit und Verbundenheit neu zu konstituieren. Mitten im Trubel der erwarteten Lust, der vermeintlichen Vorlieben und Aversionen, in der erogenen Landschaft der pochenden Körper und im delikaten sozialen Kontext sollen menschliche Würde, ungezwungene Experimentierfreude und ein bestimmtes Maß an partnerschaftlicher Liberalität geistvoll aufeinandertreffen, ohne Amor allzu stark zum Götzenbild zu erheben, wovor schon Platons Sokrates im »Symposion« warnte, lange vor dem Zeitalter des kommerziell ausgeschlachteten Cybersexes. Wir werden sehen, wie die Stufe 2 des vorherigen Beratungsbuch-Erfolges zündet.

Artikel online seit 27.07.15
 

Wilhelm Schmid
Sexout
Und die Kunst, neu anzufangen
Insel Verlag
Gebunden, 130 Seiten
8,00 €
978-3-458-17646-6

Leseprobe

Wilhelm Schmid
Gelassenheit
Was wir gewinnen, wenn wir älter werden
Insel Verlag
Gebunden, 118 Seiten
8,00 €
978-3-458-17600-8

Leseprobe
 


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