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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Der große Tumult

Beobachtungen, Überlegungen & Thesen zum gesellschaftspolitischen Augenblick

Von Wolfram Schütte

 

Es ist wohl nicht verwunderlich, dass der massenhafte Zustrom zumeist nichteuropäischer, muslimisch geprägter Menschen, die nach Deutschland kommen, unter Hinz & Kunz der Einheimischen emotionale Bewegung, kontroverse Empfindungen & intellektuelle Widersprüche zur Folge hat.

Umso mehr, als gleichzeitig islamistischer Terror in Form von Attentaten den europäischen Öffentlichkeiten deren jederzeitige Verletzbarkeit bereits mehrfach blutig vor Augen geführt hat & von den »Revenants« des IS in die europäischen Länder eine weitere, kontinuierliche Bedrohung befürchtet wird, mindestens aber nicht auszuschließen ist.

Die vermutlich alles andere als spontanen  Handgreiflichkeiten von alkoholisierten, unzweifelhaft nordafrikanischen Jungmännern aus muslimischem Milieu an jungen Frauen vor allem in der Kölner Sylvesternacht (aber auch andernorts) markieren sowohl faktisch wie symbolisch eine gesellschaftliche, politische, kulturelle & intellektuelle Situation, die sich von der sozusagen »paradiesischen« Übersichtlichkeit der vergangenen Jahrzehnte – mikro- & makropolitisch betrachtet – meilenweit entfernt hat.

Wir sind alle mitten im großen Tumult. Der »Einbruch der Wirklichkeit« (wie Navid Kermani seine Erkundungen »auf dem Flüchtlingstreck durch Europa« nennt) hat weitreichende Folg(erung)en für uns alle. Jeder Augenblick kann eine neue Verwerfung bringen.

Die moralische, intellektuelle oder politische Frage, wie in diesem tumultuösen Gegenwartsmoment der »neuesten Unübersichtlichkeit« mit den von der Situation provozierten Herausforderungen umzugehen sei, zwingt fortlaufend jeden zu vorsichtig tastenden Versuchen (s)einer individuellen Positionierung durch Selbsterfahrung & -findung im intellektuellen, moralischen & politischen Handgemenge der Gegenwart. Das kann schmerzlich sein, weil man sich womöglich auch gezwungen sieht, von großherzigen Annahmen & hoffnungsvollen Projektionen sich trennen & mancher tristen Faktizität ins Auge schauen muss.

Man tut dabei gut daran – intellektuell & moralisch -,  von keinem festen Boden unter den Füßen auszugehen. Besser wäre es, auf  voraussichtlich lange Zeit schwankendem Boden intellektuelle & moralische Haltungen auszuprobieren, die einem in dem disparaten Gelände weiterhin einen »aufrechten Gang« & eine an Kants sittlichen Maximen orientierte Verhaltensweise erlauben. Aufklärerische Skepsis legt einem auch nahe, mögliche Irrtümer  auf diesem Weg nicht auszuschließen, aber jederzeit offen zu sein für deren Revisionen – im Zuge & Bewusstsein permanenter (Selbst-)Aufklärung.

                                            *

In einem Essay des »Perlentauchers« vom 27.1.2016 entwickelt der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli, dessen Essay »Die Opferfalle« eben auf Deutsch erschienen ist, den Gedanken, es sei angemessener, in den Flüchtlingen nicht »Opfer«, sondern »Subjekte« zu sehen, damit sie nicht »der Willkür unseres Wohlwollens« ausgeliefert seien. Das ist eine schlüssige Idee, weil sie die Geflüchteten nicht bloß mit unserem »Mitleid« (als großzügige Helfer) »umarmt«, sondern sie als  Gleiche anerkennt & behandelt, deren riskante Entscheidung & tatkräftige Logistik zur Flucht unseren Respekt verdiene.

Am Ende seiner moral-politischen Überlegungen kommt Giglioli jedoch zu einem merkwürdigen Schluss, der lautet: »Opfer haben keinerlei Pflichten, weil sie keinerlei Verantwortung haben - wäre dem nicht so, dann wären sie keine Opfer. Subjekte haben sehr wohl Pflichten und Verantwortung. Einem Subjekt kann man nicht sagen: Du darfst hierherkommen, unter der Bedingung, dass du dich unseren Regeln fügst. Das wäre ein Widerspruch in sich. Man kann ihm nur sagen: Komm hierher, damit auch du deinerseits diesen Raum teilen und also regieren kannst. Die neuen Regeln schreiben wir gemeinsam (was zu Konflikten führen könnte, auch zu heftigen, und es ist besser, darauf vorbereitet zu sein) - und für all das, was du von nun an tust, werden wir dich verantwortlich halten, genauso, wie wir alle für unsere Handlungen verantwortlich sind.«

Die Behauptung, der Opferstatus sei nur einer, wenn das Opfer »keinerlei Pflichten & Verantwortung habe«, spricht dem »Opfer« gewissermaßen eine »vogelfreien Souveränität« zu. Ihm wäre dann im Nietzscheschen Sinne entweder »alles erlaubt« oder aber es stünde gewissermaßen als unzurechnungsfähiges Mündel unterm Verdikt des §51 BGB.

Beides wäre grotesk.

Giglioli bedurfte wohl aus rhetorischen Gründen dieser falschen Definition. Er wollte die Flüchtenden als »Subjekte« aufwerten. Gibt es aber für die Flüchtlinge nur das eine oder das andere? Trifft nicht beides auf sie zu?

Wieso sollte man aber einem  Subjekt  nicht die Bedingung stellen, dass es sich an die Regeln hält, die dort gelten, wohin es aufgrund seines Muts & seiner logistischen Phantasie geflüchtet ist?

Wenn ich z.B. jemanden aufsuche, der das Betreten seiner Wohnung davon abhängig macht, dass ich mir meine Schuhe ausziehe, sobald ich die Schwelle übertrete, werde ich als »Subjekt« mich entsprechend verhalten & nicht mit meinen Schuhen reingehen. Sogar auch dann nicht, wenn ich eingeladen wäre & wüsste, dass es sich beim Einladenden zuhause so verhält! Nur wenn ich vor einer lebensbedrohenden Gefahr zu seinem Wohnungseingang geflüchtet wäre, könnte ich mit meinen Schuhen erst einmal in seine Wohnung fliehen, um  nicht zum Opfer meiner Lebensbedrohung  zu werden.

D.h. es ist kein Widerspruch in sich, einem hierher Flüchtenden die »Einhaltung unserer Regeln« abzuverlangen. Darauf könnte hierzulande für Frauen z.B. ein Burka-Verbot gründen - wie im derzeitigen Iran  das Tragen eines das Kopfhaar bedeckenden Schals für Frauen in der Öffentlichkeit Pflicht ist.

Gigliolis weitere These, es sei moralisch nur erlaubt, einem Flüchtenden zu sagen »Komm hierher, damit auch du deinerseits diesen Raum teilen und also regieren kannst«, (weil er ja als »Subjekt« & damit als Unseresgleichen anzusehen sei), ist ebenso problematisch. Weil es eben nicht logisch oder moralisch-ethisch geboten ist, mit der Anwesenheit eines Neuen, Anderen, Fremden die eigenen Regeln automatisch einfach zur Disposition zu stellen. Vor allem, wenn es um »den öffentlichen Raum« geht.

                                              *

Der »öffentliche Raum«, bzw. »die Öffentlichkeit« der Gesellschaft ist deren zentraler Ort, an dem nicht nur juristisch »geregelt« ist, wieweit Kritik untereinander erlaubt ist oder die jeweiligen Privatheiten sich gegenseitig in »Ruhe & Frieden lassen«, bzw. auch die privatim ganz & gar anders lebenden individuellen Subjekte sich gegenseitig öffentlich respektieren. Nach Umfang & Reichweite des den unterschiedlichen Individuen zu ihrer subjektiven Entfaltung & Individualität zustehenden öffentlichen Raums (der z.B. von der Bekleidung bis zu den in der Verfassung garantierten Rechten reicht), wird der öffentliche Raum in einer laizistischen, die staatlichen Gewalten teilende demokratische Verfassung von keiner anderen Staatsform übertroffen.

Deshalb steht er – entgegen Gigliolis u.a. Meinung – nicht zur Disposition für ein neues Reglement des »Teilens« & »Regierens« mit den aus undemokratischen und/oder theokratischen Gesellschaften Hinzugekommenen, wie es der italienische Literaturwissenschaftler offenbar aus politisch-sittlichen Gründen  für selbstverständlich hält (s.o.).

Dabei fokussierten geradezu idealtypisch die Kölner Sylvesternachtereignisse die inhärente Problematik zwischen einer laizistischen öffentlichen Kultur der Erotik & einer religiös-codierten, repressiv-latenten frauenfeindlichen Alltagskultur. In der elaborierten Diskussion über die gemeinen Vorfälle einer Hetzmeute in Köln und anderswo ist meines Erachtens ein zentrales Problem noch gar nicht näher erwähnt & bedacht worden: die Rolle des Symbolischen & Ironischen in der Erotik des Öffentlichen Raums.

Sie ist einem rigiden, fundamentalistisch-puritanischen Feminismus als »Sexismus« verdächtig, während ein puritanischer Islam (also nicht bloß ein fundamentalistischer), wie ja auch bestimmte ultrakonservative Richtungen im Christen- & Judentum in der elaborierten (vor allem weiblichen) Erotik im Öffentlichen Raum »Dekadenz« & »Prostituierung« sehen. Selbstverständlich ist das der Zentralschaden eines religiös bedingten Frauenbilds. Die Frau wird als das potentiell Böse & deshalb ebenso gefährliche wie minderwertige Mitglied der Gesellschaft  betrachtet & ebenso behandelt.

Zurecht betrachten aber die Frauen in laizistischen »westlichen« Gesellschaften ihr langwierig erkämpfte & juristisch kodifizierte Gleichstellung & Gleichberechtigung im privaten wie im öffentlichen Raum als eine unhintergehbare Errungenschaft ihrer gesellschaftlichen Emanzipation. Diese ist zuinnerst damit verbunden, das der Geltungsbereich der Religion beschränkt wurde, um den »Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«(Kant) möglich zu machen. Die weibliche Emanzipation (aus der männlichen Verfügungsgewalt) hatte auch eine männliche zur Folge: die beidseitige Sublimation des sexuell-erotischen Spannungsverhältnisses.

In den drei monotheistischen Kulturen wird das erotisch-sexuelle Spannungsverhältnis, wo es noch nicht »emanzipativ« entwickelt ist, gewissermaßen radikal »privatisiert« & im Raum der Öffentlichkeit dadurch nahezu unsichtbar gemacht, bzw. realiter verdrängt, indem der weibliche Körper bis zur Vollständigkeit, zumindest aber die besondere Tabuzone des Haares in der Öffentlichkeit  (vor »den anderen«) verhüllt wird – und die Frau nur zuhause von ihrem Herrn & Gebieter angesehen, bzw. erkannt werden soll: als sein Besitz- & Gebrauchsgegenstand. Gedacht ist diese repressive Annihilation des Weiblichen als männlicher Schutz vor der sexuellen Attraktivität des weiblichen Körpers. Wer sich nicht daran hält – ob unter »Gläubigen« oder »Ungläubigen« – kann als erotisch-sexuelles »Freiwild« für männliche Übergriffigkeiten betrachtet werden.  Denn dem Mann ist in dieser Gesellschaft alles erlaubt, der Frau aber nur das, was er ihr erlaubt, damit sie »schutzwürdig« ist.

D.h. in dieser »rohen« Gesellschaft ist Erotik (als ästhetische Sublimation) soweit wie möglich inexistent, verpönt ohnehin, während sie in laizistischen demokratischen (westlichen) Gesellschaften gewissermaßen radikal öffentlich ist, zumindest aber ihre symbolisch-ironische Spielanordnung als Erotik im Raum der Öffentlichkeit entfalten kann

Denn die «sexistischen” Akzidenzien weiblicher Moden (z.B. Rocklängen, Hotpans, Dekolletee etc.) sind ja doch als symbolische Formen  attraktiver Selbstdarstellung gedacht & reflektieren auf eine Gesellschaft, in der sie als symbolische Formen des erotischen Spiels verstanden werden.

Sie sind gewissermaßen Spitzentanz vor einem Publikum von Balletttänzern. Wenn das Publikum aber nur flache Schuhe trägt & weder vom Ballett noch gar vom Spitzentanz etwas versteht, wird es weder irgendetwas  verstehen, noch das Symbolische, mithin auch nicht das Ironische des erotischen Spiels erkennen & das Spiel für bare Münze nehmen. Für eine Kultur, in der die Frau (seit Eva!) seinsmäßig die Verführung (zum Bösen) ist, wird dieses Spiel (mit dem sublimierten Feuer) & sein ästhetisches Raffinement zumindest erst einmal für «frivol” gehalten (ein katholisches Lieblingswort Heinrich Bölls) & dann, wenn man merkt, dass man davon selbst angesprochen wird, als provoziernde weibliche »anmache« betrachtet, die dem davon Erregten «alles erlaubt”: von symbolischen Handlungen, besser: Handgreiflichkeiten (Grapschen) bis zu brutalen Tätlichkeiten – weil  das Objekt der männlichen Begierde diese selbst durch sein »nuttiges« Betragen herbeigerufen habe. Dass ein solcher Täter, weil kein verständiger Adressat, aber gar nicht gemeint gewesen war, als sich Frauen »ungeschützt« ihre » provozierenden Frechheiten« herausnahmen, empört ihn natürlich als ausgeschlossener, nicht-gemeinter Mann umso mehr. usw. Um mit Ernst Bloch zu sprechen: hier geraten zwei «ungleichzeitige” gesellschaftliche Alltagskulturen & gesellschaftliche Mentalitätsmilieus auf einander: nicht nur in Köln zur Sylvesternacht, sondern vielerorts nun in Deutschland. »Wir sollten«, hat der niederländische Soziologe Paul Scheffer in einem eindringlichen Gespräch der SZ (1.2.16) die Deutschen aufgefordert, aus niederländischen Fehlern über »Die Eingewanderten« (Hanser-Verlag) zu lernen, indem sie »über die vielen Konflikte reden, die ausgetragen werden müssen, kulturelle, soziale, religiöse. Das wird bei der deutschen Willkommenskultur leicht vergessen…Eine offene Gesellschaft braucht Grenzen, um offen bleiben zu können in eine Umfeld voller Illiberalität«.

Die meisten der Flüchtlinge sind ja gerade deshalb nach Europa, bzw. Deutschland geflohen, um der durch Religion & Politik reduzierten oder reglementierten Öffentlichkeit zu entfliehen.

Allerdings ist es fraglich, ob der laizistische Rechtstaat in Europa hinlänglich Bürger findet, die ihn wider die Angriffe sowohl von nationalistisch-rassistischer wie islamistischer Seite energisch, sprich: nachhaltig verteidigen & aktiv schützen.

Begreifen die in einer langen Friedens- & Prosperitätszeit aufgewachsenen europäischen Nachkriegsgenerationen, dass unsere laizistischen Freiheitsrechte & liberalen Lebensweisen in einem langen historischen Prozess  politisch & sozial erkämpft wurden & diese gesellschaftlichen  Errungenschaften »mit Zähnen  & Klauen« immer wieder verteidigt werden müssen?

Die von der EU hingenommenen politischen Staatsumbauten in Ungarn & Polen oder die Virulenz eines fremdenfeindlichen Autoritarismus, der seine parlamentarische Repräsentanz in allen europäischen Ländern, wo er noch nicht im Parlament war, mit guten Erfolgsaussichten anstrebt oder die bislang etablierten Parteien vor sich her treibt, sind keine guten Omen.

Vermutlich sind die neoliberalen ökonomischen Versprechen mittlerweile in unseren konsumistischen europäischen Gesellschaften derart tief sedimentiert, dass das kapitalistische Geschäftsmodell leichthin mit dem politischen System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie identifiziert wird. Sonst würden weder die ungarische noch die polnische Gesellschaft ohnmächtig hinnehmen, dass eine von einer Minderheit der Polen gewählte parlamentarische Zweidrittelmehrheit sich zur totalen Machtübernahme aller Institutionen der repräsentativen Demokratie ermächtigt glaubt. Formal gleicht dieses Vorgehen der nationalsozialistischen »Machtübernahme« am Ende der Weimarer Republik. Sollte das kapitalistische »the winner takes all« auch in der Politik gelten, ist das Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie ausgehebelt.

Zwar heißt Demokratie »Volksherrschaft«; aber da das Volk die Regierenden nur für eine bestimmte Dauer wählt, sind die temporären Machthaber verpflichtet, die Unterlegenen  (die Opposition) so zu erhalten, dass das Volk bei der nächsten Wahl die Opposition in den Sattel der Machtausübung heben könnte. Politisch-parlamentarische Demokratie verlangt also zwingend politischen Minderheiten-, bzw. Wahl-Verliererschutz.

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Allerdings ist die derzeitige deutsche Demokratie auf andere Art prekär: durch die »Große Koalition«. Ihr unbezweifelbarer Nutzen politischer Stabilität ist geeignet, das parlamentarische »Kräftespiel«, das die reale Möglichkeit des Wechsels favorisiert, auf lange Sicht zu garottieren. Was allenfalls als »Notlösung« aufgrund numerischer Pattsituationen oder besonderer politischer Umstände politisch sinnvoll erscheinen könnte – dass nämlich die beiden um die Macht kämpfenden sogenannten »Volks-Parteien« sich zu einer Koalition der Großen zusammentun -, ist  mitnichten (wie manche Politiker behaupten) ein »Triumph des Kompromisses«, der die parlamentarische Demokratie auszeichne. (Sondern eher das Gegenteil.)

Sicherlich: die Fähigkeit zum Kompromiss ist ein substantielles Charakteristikum eines funktionierenden Parteienstaats. Jedoch wird dieser weitgehend außer Kraft gesetzt, wenn bestimmte Koalitionen unter den gewählten Parteien von diesen kategorisch ausgeschlossen werden & am Ende ausgerechnet die sich als parlamentarische Alternativen verstehenden »Volksparteien« so tun, als seien gewissermaßen gezwungen, »aus Verantwortung für den Staat«, eine »Große Koalition« zu bilden.

Eine solche »großkoalitionäre« parlamentarische Demokratie, wie wir sie derzeit haben, höhlt das Pathos des Demokratischen schleichend aus. Statt der Möglichkeit des politischen Wechsels, der die Wahl des Volks motiviert hatte, erfüllen sich nach der Wahl die beiden  »Volksparteien« gemeinsam ihren Wunsch zu Regieren.  Dadurch kann leichthin der Eindruck entstehen, dass den politischen Protagonisten nichts sonst mehr repräsentieren als nur sich selbst & ihre Einkommenspfründe. Nicht verwunderlich ist es, dass sowohl Wahlmüdigkeit als auch Politikverachtung um sich greifen & die politisch enttäuschten Wähler sich von einer im eigenen Saft kochenden politischen Oligarchie verraten, bzw. verkauft vorkommen & ihr wachsendes Desinteresse politisch herabdimmen & einer verwaltungsmäßig arbeitenden, sie politisch pazifizierenden Kanzlerin »den Job« gerne überlassen haben.

Solange deren bislang zehnjähriges Handeln oder Nichthandeln, das als »alternativlos« von ihr charakterisiert & von der übergroßen Mehrheit akzeptiert wurde, weil es eine apolitische, konfliktfreie & egomanische persönliche Existenzweise der Bürger garantierte, war von der inneren Erosion des Staates öffentlich nichts oder wenig  zu spüren. Er war so unauffällig geworden, dass er fast verschwunden schien – was so fern von der Wirklichkeit seiner grassierenden Auszehrung gar nicht war, wenn auch hin & wieder das Fehlen etwa von Lehrern, Krankenschwestern & Polizisten oder der Mangel an Kitas, Sozialen Wohnungsbauten & das Überhandnehmen katastrophal heruntergekommenen Schulraums  folgenlos bemerkt wurde.

Jetzt aber, nachdem durch den massenhaften Ansturm der Flüchtenden nur nach Deutschland sich die öffentlichen Probleme häufen, treten die jahrzehntelang geförderten »Verschlankungen« des Staatsapparats & seiner ebenso ausgedünnten wie vielfach verknöchert-unflexiblen Bürokratien in multiplem Galopp gnadenlos öffentlich zutage. Hätte es nicht das alle hier & weltweit überraschende Phänomen der sogen. »Willkommenskultur«, sprich die spontane Hilfsbereitschaft in der deutschen Zivilgesellschaft gegeben, sähe es im Lande von »Pegida« & AfD ganz anders aus als es heute noch der Fall ist.

Die Sylvester-Ereignisse im Schatten des Kölner Doms wirken nun als Epizentrum eines gesellschaftspolitischen Bebens im ganzen Land. Nicht nur hat die allgemeine gesellschaftspolitische Melange aus realitätsleugnender Verdrängung & politisch-gesellschaftlicher Naivität die kollektive Wahrnehmung getrübt; sie hat auch eine illusionslose Erkenntnis der Lage & die Vorstellungskraft wie die Phantasiefähigkeit vieler Politiker für gesellschaftliche, soziale, politische Entwicklungen verkümmern lassen. oder Das Morgenstern-Mantra, wonach »nicht sein kann, was nicht sein darf«, war zur Selbstberuhigung  allerorten in vielfältigem Gebrauch.

Die etablierten politischen Parteien  haben bei keiner der Kollateral-Konsequenzen von Fall zu Fall regulativ eingegriffen, die sich aus dem schon seit Jahren dauernden An- & Zustrom von afrikanisch-vorderasiatischen Flüchtlingen z.B. vor allem für die prekär lebenden Klassen zwangsweise ergeben haben. Auch um vorausschauend einer rechten, faschistoiden Totalopposition den Wind aus den Segeln zu nehmen & einem Vertrauensverlust in ihren Handlungs- & Ordnungswillen vorzubeugen. Die Multiplizierung der kulturell-religiösen gesellschaftlichen »Ungleichzeitigkeiten«, die zu vielfältigen & vielfachen, langwierigen & nachhaltigen Reibungskonflikten führen, wurden durch das gebetsmühlenhaft wiederholte Ziel einer allgemeinen abstrakten »Integration« weder in ihrem realen Konfliktpotential erkannt & benannt, noch gar bewältigt.

Es sind die bisher parlamentarisch allein vertretenen Parteien (an der Spitze die sogenannten »Volksparteien«), die durch ihr politisch-gesellschaftliches Versagen nicht die Flüchtlingskrise, aber die Krise, wie mit ihr gesamtgesellschaftlich umzugehen sei, herbeigeführt haben. »Pegida« wäre ja noch halbwegs als lokale Selbstentzündung im »Tal der Ahnungslosen« der Ex-DDR anzusehen & als hässlicher Dresdner Exotismus wegzustecken  gewesen. Die AfD ist da schon etwas ganz Anderes: eine »runderneuerte« ajour gebrachte Neue Deutsche Rechte & ein nach der Mitte offenes Sammelbecken der Unzufriedenen & Ängstlichen, die in keiner der etablierten Parteien noch ein offenes Ohr für ihre Sorgen oder auch nur die erkennbare Aussicht auf Resonanz gefunden hatten.

Die AfD ist nur deshalb nun zu der realen Bedrohung der parlamentarischen Demokratie geworden – so dass schon ganz besorgte den Schatten der Weimarer auf die Berliner Republik fallen sehen -, weil die Regierungsparteien & ihre verschlankten Bürokratien nicht in der Lage waren, auf die neuen, ungewöhnlichen, komplexen & komplizierten gesellschaftspolitischen Herausforderungen mit geistesgegenwärtiger Phantasie & konkreter Tatkraft zu reagieren. Stattdessen boten sie das Bild einer ebenso ohnmächtigen wie hilflosen  Politik, die sich vom Wahlvolk selbstgefällig entfernt hatte, jede skeptische Reserve & bedenkenvolle Kritik an der einsam-eisernen Kanzlerin automatisch nach Rechtsaußen  verwies.

So entstand bei immer mehr irritierten Bürgern der fatale Eindruck einer kollektiven Realitätsverweigerung bei dem wie gelähmt (sprich untätig) & bloß abstrakt moralisierend erscheinenden bisherigen Parteienverbund. Je pauschaler partikulare Vorbehalte, präzise Einsprüche, begründete Sorge & sogar bedachte Kritik an der politischen Passivität & den juridischen Selbstlähmungen der Regierenden und für nichts als »rassistisch« oder »fremdenfeindlich« inkriminiert wurden; je tolldreister die CSU aus Angst, ihre bayrische Mehrheit zu verlieren, die Parteifreundin & Kanzlerin öffentlich demütigte & sogar Putin dafür instrumentierte; je gefährdeter der Bestand der EU wurde durch Merkels überraschenden Husarenritt über alle europäische Vereinbarungen hinweg, der sie in eine außenpolitische Isolation trieb: desto beängstigender wuchs die Zustimmung für die AfD. Binnen kurzem mutierte eine politische Blindschleiche zu einer gefährlichen Anakonda. Zitternd sitzen ihr wie schreckensstarre Kaninchen alle etablierten Parteien gegenüber, die befürchten müssen, dass diese Neue Deutsche Rechte das bisherige parlamentarische Spiel außer Rand & Band bringen wird. Wann auch immer die derzeitige Große Koalition jetzt doch noch adäquate politische Reaktionen auf die aktuellen Herausforderungen zeigen sollte & regulative Handlungsoptionen ergreift (z.B. familiäre Zuzugsbegrenzungen oder Natoflotteneinsatz in der Ägäis), entsteht der verheerende Eindruck, die AfD in Begleitung des marodieren CSU-Vorsitzenden (aus der Stadt der Bewegung!) habe Merkel & Konsorten nun vor sich her zum Handeln getrieben.

Dieses schiefe Bild ihres öffentlichen Ansehens hat die Regierung sich selbst zuzuschreiben, weil sie zu lange sich taub gestellt hatte & statt mit Vernunft & Augenmaß im Detail jeweils konkret innen- & außenpolitisch zu handeln, sich mit dem überheblichen Selbstzuspruch »Wir schaffen das!« nachhaltig zum kopflosen Nichtstun & abwartenden »Aussitzen« entschlossen hatte. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, soll Gorbatschow gesagt haben. Oder vielleicht doch der Wähler?

Artikel online seit 12.02.16

 

 


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