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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Internationale der Frauenpower

Auf dem 65. Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Von Wolfram Schütte



Mit der 65. Ausgabe des nun von ihm bereits ein Vierteljahrhundert verantworteten, immer wieder innovativ aufgemischten »Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg« hat der nimmermüde Michael Kötz radikal Bilanz gezogen & die Veranstaltung in der selbst ernannten Metropolenregion an Rhein & Neckar auf die ursprüngliche Dauer von 10 Tagen im November abgespeckt.

Zu übermütig & enthusiastisch hatte er noch im vergangenen Jahr sein Festival auf 16 (!) Tage verlängert & in den klimatisch angenehmeren Oktober verlegt (dem ursprünglichen Termin.) Das sind 2016 nun tempi passati; ebenso gekippt hat Kötz sowohl seine alljährliche Ausrufung eines »Master of cinema« wie auch seinen letztjährigen Versuch, das TV-»Format« der aktuellen Fernsehserien zu durchmustern.

Man kann daran ablesen, dass weder die hochherzige Hommage einer Retrospektive für einen herausragenden internationalen Autorenfilmer - letztes Jahr war es der Franzose Olivier Assayas –, noch der neuigkeitsbegierige Blick auf die angeblich bei jungen Leuten beliebten TV-Serien sowohl beim Publikum in der jungen türkischen Community, die in Mannheim auffällt, als auch beim studentischen Publikum in Heidelberg »angekommen« ist.

Zum einen, weil die cinéastische Fokussierung auf den Regisseur heute den konsumistischen Kinogängern fremd ist, die nur nach Stars oder Filmtiteln auswählen; zum anderen, weil die TV-Serien-Liebhaber mit dem eineinhalbstündigen Kinobesuch weitgehend Schluss gemacht haben. Ein deutscher Filmmacher & Dozent an der Berliner Film- & Fernsehakademie erzählte mir vor einem Jahr, wie desinteressiert seine Studenten generell an der Filmgeschichte seien & ein Kollege berichtete mir nun in Mannheim, dass er mit jungen Filmredaktionen des Rundfunks zu tun habe, die noch nie etwas von Eisenstein gehört hätten. Solche arrogante Dummheit & filmhistorische Ignoranz tut einem wirklich weh – weil es ein Tabula rasa bei jenen offenbart, die als Kenner & Liebhaber von Film & Kino gelten wollen.

Passend zu diesem anti-cinéastischen Befund lief der amüsant-nostalgische Film »Reykjavik« im diesjährigen Programm, in dem ein Filmkritiker über Film & Liebes-Leben leichthändig & halbbitter reflektiert.  Darin wird von der Leidenschaft für das große Autorenkino der Vergangenheit (von Antonioni bis Welles) am Beispiel eines mangels Kundschaft in Konkurs gehenden DVD-Ladens erzählt, der eine kleine isländische Kleinfamilie zerreißt: eine der vielen Tragikomödien dieses höchst attraktiven Mannheim-Heidelberger Jahrgangs.

Die Einzigartigkeit des metropolitanischen Augenblicks

Welche ästhetische & thematische Vielfalt sich beim Blick auf die rund vierzig Spiel- & Dokumentarfilme des Festivals eröffnet, ist immer wieder verblüffend & deprimierend zugleich. Warum deprimierend?

Weil man so gut wie sicher sein kann, dass womöglich nur ein oder zwei davon jemals außerhalb ihrer zeitweiligen realen Erscheinung in der baden-württembergischen Metropolenregion später im übrigen Deutschland noch zu sehen sein dürften. Also werden von dem wirklich vorhandenen, aber de facto ignorierten Reichtum des durch das Festival prononciert ausgewählten »Weltkinos« nur jene eine Ahnung haben & mit ihm eine Erfahrung machen können, die durch Glück, Zufall oder kundig-neugieriges Interesse eine der 5 Spielstätten des doppelstädtischen Festivals aufgesucht hatten.

Stendhal konnte seine Romane noch »to the happy few« in der Nachwelt adressieren (& wir sie beglückt lesen), während diese Filme leider überwiegend sang- & klanglos auf immer verschwinden werden. Das nähert sie gewissermaßen »existentiell« der Flüchtigkeit einer Theater-Inszenierung an. Das ist für eine ganze Reihe der diesjährigen Filme fatal, die alle mehr oder minder von der Politik & dem sozialen & mentalen Alltag ihrer Herkunftsländer tangiert sind.

Solche zeitgenössische Intensität trifft auf das staunenswerteste der zahlreichen Debüts zu: »Another Time« von der 1974 geborenen Iranerin Nahid Hassanzadeh. Nach sieben Kurzfilmen ist dieser erste lange Film ein nahezu vollkommenenes Debut der 42jährigen Autorin. Mit ihm hat sie sich schlagartig an die Spitze der immer noch brillantesten Kinematografie der Welt katapultiert: neben solche Größen wie Jafahr Panahi  und vor allem Ansgar Farhadi.

Das Spezifische von »Another Time« ist der schonungslos realistische Blick der Regisseurin auf eine ebenso komplexe wie widersprüchliche Realität. Nahid Hassanzadeh deckt  gesellschaftlich-mentale Ungleichzeitigkeiten der Landbevölkerung sowohl in den drei Generationen der Frauen als auch bei dem oppositionellen Vater, einem Industrieproletarier, präzise auf. Der herkömmliche, sprich: traditionelle Paternalismus zerfleischt alle.

Hier, in einem armseligen Dorf der winterlichen iranischen Provinz, bewegen sich die Bäuerinnen außer Haus nur unterm Tschador, dessen flatternde Schwärze für unsere Augen allein schon niederdrückend ist. Als Ghadir, ein wegen Rebellion in einer Fabrik ins Gefängnis geworfener Arbeiter, nach Verbüßung seiner mehrmonatigen Haftstrafe, ins ungeheizte Haus zurückkehrt, erfährt er von der Schwangerschaft seiner studierenden Tochter Somayeh. Weder seine Frau, noch seine Mutter haben den Skandal der jungen ledigen Mutter offensichtlich verhindert, die sich auch noch weigert, den Vater ihres Kindes zu nennen.. Alle Verwandte & das ganze Dorf ächtet die Familie der »Sünderin«, die nach der Geburt von ihren Eltern & ihrer Großmutter (die sie am liebsten totsähe) wie eine Verbrecherin behandelt wird. Denn sie hat nicht nur sich, sondern alle Familienangehörige »entehrt«.  Sowohl ihre Mutter, der sie ihr Baby gerade noch entreißen kann, als auch ihr Vater, der sie in ein Verließ sperrt, will das menschliche Corpus delicti aus der Welt schaffen. Der Vater bringt es aber nicht übers Herz, das Baby von einer Brücke in den reißenden Fluß zu werfen, schafft es jedoch aus der dörflichen Sichtbarkeit, indem er es an eine (erkennbar) reiche, kinderlose Familie gibt, die außerhalb des Dorfs in einem modernistischen Haus wohnt.

Nachdem er gedroht hat, die Tochter von einem Felsvorsprung in den Tod zu stoßen, gesteht sie dem erpresserischen Vater, dass sie sich in einen Kanadier verliebt hatte, der bei einem Heimatbesuch zum Wehrdienst gepresst worden war & nach dessen Absolvierung wieder den Iran verlassen hat: eine überraschende, zusätzlich subversive dramaturgische Volte dieses ebenso politisch mutigen wie ästhetisch ungemein dicht erzählten Films aus dem heutigen Iran.

Wider den kollektiver Atavismus

Ähnlich lakonisch erzählt, wenn auch melodramatischer akzentuiert, kreist »Der dunkle Wind« von dem Kurden Hussein Hassan, der im Nordirak mit Schauspielern & Laien gedreht wurde, um ehrverletzendes ungeborenes Leben - in einer jesidischen Gesellschaft.

Das Kind, das die junge Pero erwartet, stammt nicht von ihrem Verlobten Reko, sondern von einem Anonymus, der die vom IS kurz vor der Hochzeit mit Reko geraubte junge Frau auf einem Sklavenmarkt gekauft, vergewaltigt & nachhaltig traumatisiert hatte. Ein grauenhaftes Schicksal, das in der Realität vielen tausend jesidische & christlichen Frauen im »Islamischen Staats« ereilt hat.

Der sexuellen Demütigung lebend entkommen (wenn auch gezeichnet & traumatisiert), sahen sich diese missbrauchten Frauen erst recht  unter ihren »durch sie entehrten« jesitischen Familien konfrontiert. So geschieht es Pero in »Der dunkle Wind«. Auch sie macht ein Martyrium durch – ähnlich wie ihre schwangere Leidensgefährtin Somayen in »Another Time«.

Während der iranische Film durch die fast wortlose Drastik & Dramatik der Handlungsweisen seiner Personen beeindruckt, fasziniert der »vor Ort« gewissermaßen »authentisch«-dokumentarisch unter den geflüchteten Jesiten entstandene »dunkle Wind« durch die unausgesprochenen, jedoch erkennbar angedeuteten Gefühlskonflikte zwischen den Liebenden, unter den Familienmitgliedern oder generell den Männern & den Frauen. Eine Montage aus Gesten & Blicken, ein dramatisches Ballett der Stummheiten & unausgesprochenen Emotionen, die einen in den Strudel der kontroversen Empfindungen aller Personen hineinziehen, macht »Dunkler Wind« zu einer bewegenden kinematographischen Erfahrung..

Ohne Zweifel besitzen solche sexuell konnotierten Konflikte in jeder Gesellschaft einen prekären Charakter. Im nordirakischen Spielilm - & man darf wohl davon ausgehen, dass er von der wahren Realität ausgeht – wird gezeigt, dass das höchste religiöse jesidische Gremium, die unschuldig zu Sexsklavinnen herabgewürdigten Frauen nach ihrer Befreiung kollektiv von jeder Schuld an ihrer Schändung freispricht. Das ist ein mutiger politischer Bruch mit der eigenen ethischen Tradition, in der die vom Feind vergewaltigten Frauen in früheren Zeiten als Outlaws & Sündenböcke behandelt worden waren.

(Erinnert oder weiß heute noch jemand bei uns, dass im Stalinismus der Nachkriegszeit die befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen als »ehrlose Verräter« behandelt wurden, weil sie sich der Gefangennahm durch die Deutschen nicht durch Selbstmord entzogen hatten & deshalb als KZ-Überlebende sofort in den sowjetischen Gulag geschickt wurden?)

Die Dramaturgie des offenen Schlusses

Dieser bewundernswerte jesidische Akt kollektiver Reinwaschung der weiblichen Opfer des IS steht im Hintergrund des bewegenden, wechselvollen Geschehens. Dabei versuchen alle Beteiligten, mit ihren unausgesprochenen widerstreitenden Gefühlen, Gedanken & atavistischen Verhaltensweisen zu individueller Klarheit & Einsicht zu gelangen & das fortgesetzte Martyrium der unschuldig gedemütigten Pero zu beenden. Wir verfolgen gewissermaßen, wie schwer es ist, sich dem kollektiven Ressentiment zu widersetzen, dessen hasserfüllte Wütigkeit den schuldlos vergewaltigten Menschen noch einmal demütigt. Auch »Der dunkle Wald« endet mit einem offenen Schluß – wie manche andere Beiträge.

Die Dramaturgie des offenen Schlusses am Ende einer zuvor entwickelten & erzählerisch ausgebreiteten Konfliktzone sorgt für eine nachhaltigere Integration der Zuschauer in die Fiktion als die Beruhigung im Happy end oder dem Tabula rasa eines katastrophischen Show downs – in dem z. B. der eigensinnige Schäfer auf der kastilischen Hochebene, der erpresst wird, seinen Beruf, seine Herde & sein Land zugunsten eines Immobilienprojekts aufzugeben, alle seine Peiniger über den Haufen schießt (in Jonathan Cesual Burleys gleichnamigem Film).

Noch ein Film machte die Internationale der diesjährigen Frauenpower zum dominanten Eindruck des Festivals. Das war der kanadische Beitrag der »Leuchtturmwärterin«. Es ist einer der wenigen Historischen Filme des Programms. Drehbuch, Regie & Hauptdarstellerin sind identisch: die Kanadierin Erica Fae. Mit dem Multitalent R.W. Fassbinder – der manchmal noch zusätzlich den Schnitt übernommen hat – teilt die erstaunliche Kanadierin auch, dass sie Theaterstücke schreibt & eine Schauspielgruppe gegründet hat, bevor sie dieses bravouröse Debut an der nebligen Küste Maines drehte, das im puritanischen Neuengland spielt & die mutige Tatkraft einer unabhängigen jungen Frau feiert. Sie hat nach dem Siechtum & verschwiegenen Tod ihres Mannes die Arbeit des Leuchtturmwärters übernommen, nimmt sich einen vermeintlichen Schiffbrüchigen für einen One-Night-Stand & bewirbt sich als Witwe dann selbstbewusst um die frei gewordene & von ihr bereits brillant erfüllte Stelle des Leuchtturmwärters.

Ukrainischer Neorealismus & Traumlandschaften Aserbeidschans

Von zwei anderen Filmen soll noch die Rede sein, wegen ihrer ästhetischen Eigenart & ihres Sujets. Eine starke Frau steht auch im Mittelpunkt des ukrainisch-italienischen Films »Das Nest der Turteltaube«. Ihr Drehbuchautor & Regisseur Taras Tkachenkor widmet sich einem Sujet, das rund 4 Millionen Ukrainer betrifft, die im westlichen Ausland das Geld verdienen für die zuhause gebliebenen Familienangehörigen. Die meisten dieser Arbeitsemigranten  dürften Frauen sein - wie z.B. die unscheinbare Daryna. Sie arbeitet als allzeit verfügbares Dienstmädchen  in dem großzügigen Appartement in Genua, wo der geschiedene Rechtsanwalt Alessandro zusammen mit seiner streng-arroganten Mutter lebt. Den Verdienst, den Daryna in der italienischen Fremde verdient (wozu neben der Vollzeitpflege der »Signora«  auch ein Liebesverhältnis mit deren Sohn Alessandro gehört), schickt sie in das ukrainische Heimatdörfchen, wo ihr Mann ein Haus baut, gedacht als künftiger Lebensunterhalt durch die Vermietung an westliche Touristen. Allerdings hat er keine Ahnung von deren Standardausstattung, wie die »westerfahrene« Daryna bei ihrem ersten Heimatbesuch sogleich bemerkt, wenn sie die dorfübliche aushäusige Toilette & das Fehlen einer Dusche konstatiert..

Freilich kommt sie als von Alessandro Geschwängerte nachhause, kann ihrem Mann aber den zu erwartenden Nachzügler als Frucht seiner ehelichen Vergewaltigung unterschieben. Nachdem die in der großstädtischen Universität studierende Tochter von einem Reichenschnösel schwanger wurde, dessen Vater umstandslos ihre Abtreibung finanziert, kommt sie doch noch unter die Haube mit einem zuvor schnöde abgewiesenen dörflichen Verehrer, wobei sie das zur Westvermietung ungeeignete Ferienhaus ihres Vaters als Mitgift in die Ehe einbringt.

Der romantische Titel »Das Nest der Turteltaube« täuscht über den detailreichen Realismus hinweg, den der Autor aufbietet & ausbreitet, um diese in Rückblenden erzählte symptomatische Lebens-, Liebes- & Ehegeschichte in den Zeiten der europäischen Globalisierung des Dienstleistungsmarktes in unserer Gegenwart schlüssig zu situieren.

Nicht nur geographisch, sondern erst recht geistig & ästhetisch ist das Spielfilmdebüt »Der rote Garten« des 1963 geborenen Mirbala Salimi von dem uns höchst geläufigen Neorealismus des Ukrainers entfernt. Man braucht ein wenig Zeit & geduldige Neugier, um sich in diesem poetischen Märchen, seinen Zeit-& Ortsveränderungen & seinem kleinen nebulös-gespenstischen Grenzverkehr zwischen Leben & Tod zurechtzufinden.

Eben solche poetischen Erfahrungen mit der fremden kulturellen Mentalität & den Eigenarten einer unbekannten Ästhetik & Poesie gehören zu den schönsten Augenblicken auf dem Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg, das am Wochenende zu Ende ging. Seine diesjährige Ausgabe offerierte eines der brillantesten Programme der letzten Jahre.

Artikel online seit 21.11.16
 

 


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