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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Flirrende Gebilde

Lektüreeindrücke über Henri Thomas

Von Lothar Struck
 

"Die Nacht von London" ist ein soeben auf Deutsch erschienener Roman von Henri Thomas aus den 1950er Jahren. Ich bekenne: Dieser Roman setzt mir zu, er fordert mich. Warum soll man nicht zugeben, von einem Roman nach dem ersten Lesen erschöpft und ratlos gewesen zu sein? Wieso legt man so etwas fast reflexartig negativ für den Roman aus? Kann es nicht sogar sein, dass diese Fremdheit, die einem vermutlich in Bezug auf diesen Roman nie ganz verlassen wird, als ein Argument für eine Lektüre gewertet wird?     

Thomas war ein französischer Erzähler, Übersetzer und Literaturwissenschaftler. Er lebte von 1912 bis 1993. Die Daten zu Thomas' Leben, die man im Internet findet, sind eher karg. Neben englischen und russischen Werken hatte Thomas vor allem deutsche Literatur übersetzt. Neben Klassikern wie Goethe, Heine und Stifter u. a. auch Ernst Jüngers "Auf den Marmorklippen"; ein Buch dass er schätzte. Thomas selber veröffentlichte mehr als 20 Romane und Erzählungen, lebte einige Jahre in den USA als Dozent an einer Universität und verdiente später sein Geld eine Zeitlang als Übersetzer bei der BBC in London. Er war zwei Mal verheiratet und hatte eine Tochter. Er war eine eher zurückgezogen lebende Persönlichkeit, die mit dem extrovertierten französischen Literaturbetrieb nicht zurechtkam.

"Die Nacht von London" ist das dritte Buch von Henri Thomas nach der Novelle "Die Nacht in der Scheune" (1999) und dem Roman "Der Meineid" (2012), welches der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Leopold Federmair ins Deutsche übersetzt hat. Federmair beweist in seinem ausführlichen Nachwort im neuen Buch nicht nur seine genauen Kenntnisse von Thomas' Leben und Werk sondern auch seine Affinität diesem Autor gegenüber.

Ich empfinde es verdienstvoll, dass mir "Die Nacht von London" nach der Lektüre von Federmairs kundigem Essay nicht deutlicher und mir keine vorgefertigten Deutungen präsentiert wurden. So blieb das flirrende Kunstgebilde erhalten. Zwar streut Federmair biografische Aspekte ein, die einige Stellen in eine bestimmte Richtung lenken könnten und erzählt über einzelne Lebenszyklen Thomas', der bereits in der Kindheit seinen unsteten, rebellischen Charakter in einem realen (nicht etwa dandyhaften) Aussenseitertum zeigte und früh in Konflikte geriet. Er betrieb in seinen Tagebüchern "Exerzitien der Selbsterforschung", die er für seine Romane und Erzählungen verwendete. Aber als einfache Erklärungsmuster taugen diese Beschreibungen glücklicherweise nicht.

Schon die Handlung zu erzählen ist schwierig. Es berichtet ein Ich-Erzähler (der am Ende Paul Souvrault genannt werden wird) über seine Unternehmungen im nächtlichen London Mitte der 1950er Jahre. Souvrault ist Franzose und lebt als Übersetzer in London. Er hat einige Tage Urlaub, die er zu ausgiebigen Spaziergängen nutzt, die schnell Ritualcharakter annehmen. Mit zunehmender Dauer der Ausflüge kommt es zu "persönlichen Veränderungen" bei Souvrault; er spaltet sich augenblicksbedingt auf, ist sich dessen jedoch bewusst und scheint es sogar zu genießen. Er erzählt von den sich ihm auftuenden Welten zwischen denen er hin- und herwechseln kann. Da ist die Welt, in der alles geschehen kann (und geschieht) und jene Welt von "Mr. Smith", den man synonym für den Sphäre des Massenmenschen sehen kann. Auch einen imaginären Raum zwischen den Welten entdeckt und besetzt Souvrault. Das alles klingt wie ein surrealistischer, psychedelischer Rausch (ohne Drogen).

Der Kern des Buches ist die Erzählung eines Ausflugs in einer Nacht, der bis in die frühen Morgenstunden andauert. Mal lässt er sich bewusst gehen, mal flaniert er in nahezu unerträglicher Müdigkeit umher. Dann wird er plötzlich wach; entgeht nur knapp einem Überfahrenwerden durch ein Taxi, das ihm, wie er später rekapituliert, aufgelauert habe. Ein Mann gibt ihm 5 Pfund (damals eine große Summe) und er kommt in die Nähe einer mysteriösen Abendgesellschaft, die er dann doch nicht aufsucht. Absichtlich verpasst er den letzten Bus nach Hause und macht sich durch die Kälte der Nacht auf dem Heimweg. Als er ankommt, findet er seinen Schlüssel nicht mehr. Wieder läuft er herum, findet einen provisorischen Ruheplatz. Stunden später findet er dann auf einmal den Schlüssel. Nach einem kurzen Schlaf erscheinen noch einmal die Ereignisse der letzten Nacht und dann widmet er sich einem einzelnen Blatt, das sich auf einer Zaunspitze befindet und das nun seine volle Aufmerksamkeit bekommt. 

Das Buch endet mit einem kurzen Bericht eines ebenfalls in London lebenden, ehemaligen Studienkollegen von Souvrault, der mit ihm lose in Kontakt geblieben war und die Begegnungen mit ihm rekapituliert. Er wurde vom Krankenhaus über einen Verkehrsunfall Souvraults informiert, der rasch zum Tode führte. Nachforschungen nach Angehörigen bleiben erfolglos. Am Ende ist auch er auf Mutmaßungen angewiesen, sucht Erklärungen für die "Manie des ziellosen Streunens", die zunehmend zur Obsession wurde und spekuliert über einen "Orientierungsfehler" Souvraults, eine Art Knacks, lange vor dem todbringenden Unfall.

In den schillerndsten Momenten wirft diese Erzählung alle Kausalitäten über Bord, was auch eine halbwegs kongeniale Nacherzählung unmöglich macht (meine obige ist, glaube ich, nicht chronologisch korrekt, aber das spielt keine Rolle). Raum und Zeit scheinen sich aufzulösen. So entstehen Parallelwelten, die natürlich nichts mit dem putzigen Genre des "Fantasy"-Romans zu tun haben. Hier wird, so scheint es, nicht weniger versucht, "Über-Ich" und "Es" unter bewusster (!) Umgehung des "Ich" zusammen zu bringen. Vermutlich ein unmögliches, zumindest jedoch ein gewöhnungsbedürftiges Unterfangen. Thomas nötigt den Leser eine Entscheidung auf: Gibt er sich dem verstörenden Rausch hin und folgt ihm in einer Mischung aus Neugier und Faszination oder wendet er sich ab.   

Die einfachste Erklärung wäre es, dem Protagonisten Wahnvorstellungen zu attestieren. Federmair berichtet, dass Thomas' erste Frau in psychiatrischer Behandlung war und mit Elektroschocks behandelt wurde. Aus Thomas' Aufzeichnungen werde erkenntlich, dass auch er fürchtete, "dem Wahn zu erliegen". Und so kommt es wohl, dass ebenso einige seiner Romanfiguren, so Federmair, "am Rand des Abgrunds" wandeln, allerdings "ohne hinabzustürzen". Gegen Ende seines Essays bietet Federmair eine andere, bessere Deutung an. Demnach wäre Thomas' Ideal das selbsttätig entstehende Werk. Der Autor diene dabei als "bloßer Schreiber, Aufzeichner, Schreiberling. […] Und nicht allein die Sprache, auch die Erzählung mitsamt ihren Begebenheiten und Bildern entsteht unabhängig vom schreibenden ich und [ist] doch so eng mit ihm und seiner Lebensgeschichte verbunden." Das Werk werde ohne ein Ich konstruiert, es ereigne sich und wachse aus einem Keim, den der "Autor gepflanzt hat, ohne genau zu wissen, was aus ihm werden würde." Und so entsteht das Bild der Erzählung bzw. des Werkes als ein pflanzlicher Organismus. Eine Verortung als Rhizom im Sinne von Deleuze/Guattari nimmt Federmair nicht vor.

Etwas gefälliger als "Die Nacht von London" ist der 1964, also acht Jahre später erschienene Roman "Der Meineid", der anlässlich des 100. Geburtstags von Thomas 2012 im Klever-Verlag herausgebracht wurde. Der Roman erzählt von Stéphane Chalier, der aus Belgien in die USA ging und seine Aussichten auf eine akademische Karriere gegen eine Tätigkeit auf einer Erdbeerfarm eintauschte. Chalier verlässt nicht nur seinen Beruf, sondern auch seine Frau und zwei Kinder. Auch hier gibt es eine Art Knacks, der zum Bruch mit der europäischen Welt geführt hat. Er wird an einer beiläufig von Chaliers Vater eingestreuten Bemerkung festgemacht. "Stéphane hat seinen Weg noch nicht gefunden", lautet der Satz, der das Leben umkrempelt. Er korrigiert den Vater noch und verweist – zur  Belustigung der Gesellschaft - auf seine geplante Doktorarbeit mit dem Titel "Hölderlin in Amerika". Die Hybris besteht darin, dass er, Stéphane Chalier, sich zum Hölderlin stilisiert, der nun in Amerika sein Glück sucht.

Er lernt Judith Samson kennen; eine junge, unkonventionelle Frau, die er zu seiner Diotima macht. (Die Hölderlin/Diotima-Allegorien werden erfreulicherweise schnell aufgegeben.) Die beiden brechen auf, fahren kreuz und quer ohne Ziel, übernachten im Freien und für einen kurzen Augenblick entwickelt sich eine Art Road-Novel. Die beiden heiraten schließlich und hier kommt es zu dem "Meineid", als er auf den Dokumenten des Standesamts bestätigt, unverheiratet zu sein. Judith wird schwanger und bekommt einen Sohn. Beide tingeln durch die Staaten und halten sich mit kleinen Jobs über Wasser. Durch eine Stiftung bekommt Stéphane eine zeitlich befristete Dozentenstelle als "Lehrbeauftragter für deutsche Romantik" an einer Universität in der Nähe von Boston; ein Glücksfall, wie man meinen möchte. Hier begegnet er dem Erzähler dieses Buches, einem Kollegen, der zum Vertrauten (nicht Freund) wird. Stéphane gilt wegen seines Verhaltens und vor allem der unkonventionellen, ärmlichen Kleidung als Exzentriker. Das ruhige Leben hält nicht lange an. Stéphanes Ehefrau aus Europa besucht ihn und bezichtigt ihn der Bigamie. Es geht vor allem um die Anteile an der Erbschaft des verstorbenen Vaters. Stéphane verzichtet fast vollständig darauf, aber die Mühlen der Justiz beginnen zu mahlen. Der Erzähler wird, als Stéphane sich einer komplizierten Augenoperation unterziehen muss, immer mehr zu einer Art juristischer Verwalter. Er setzt sich für die Aussetzung der Strafverfolgung ein und erwägt, für die Behörde einen Bericht über Stéphanes Leben in den Staaten zu verfassen. Aber bevor es dazu kommt, flieht Stéphane. Judith war mit ihrem kleinen Sohn bereits auf einer kleinen, abgeschiedenen Insel vor Maine untergekommen. Stéphane will nun ebenfalls auf diese Insel und alle Spuren von sich tilgen. Der Erzähler begleitet ihn. Der Fortgang nimmt nun immer skurrilere Züge an und erinnert von Ferne an amerikanische Abenteuerliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts mitsamt einem kleinen Thriller-Element.   

"Der Meineid" ist viel weniger surrealistisch-phantasmagorisch als  "Die Nacht von London". Aber auch dieser Roman birgt überraschende Wendungen und ist alles andere als vorhersehbar, was nicht zuletzt an der Hauptfigur Stéphane liegt, die recht sprunghaft agiert. Man könnte vielleicht sogar von einem Entwicklungsroman sprechen. Als Kontrapunkt fungiert der vermeintlich "vernünftige" Erzähler, durch den der chronologische Fortlauf der Geschichte gewährleistet wird. Man glaubt allerdings zu bemerken, wie Thomas den Erzähler sozusagen vergattert hat, von Psychologisierungen Stéphanes (und den anderen Figuren) Abstand zu nehmen. Das trägt dazu bei, die diversen Schleifen in Stéphanes Leben ohne Interpretationsballast zu zeigen. Vielleicht ist es das, was, nach Federmair, Thomas' mit seinem Idealbild der "poetischen Freude" meinte.

Henri Thomas' Bücher wirken in Zeiten des synthetischen Schreibschulrealismus fast schon wie Relikte aus dem 19. Jahrhundert. Ihre Lektüre ist fordernd, zuweilen anstrengend, und, wie oben beschrieben, kann als ultimative Nebenwirkung eine veritable, idealerweise allerdings nur kurzzeitige Überforderung zur Folge haben. Man sollte dankbar sein, dass heutzutage noch das Wagnis der Übersetzung und Publikation solcher Prosa eingegangen wird.

Artikel online seit 16.06.16

 

Henri Thomas
Die Nacht von London
Roman
Aus dem Französischen von Leopold Federmair
Klever Verlag
168 Seiten
19,90
978-3-903110-04-5

Henri Thomas
Der Meineid
Roman

Aus dem Frz. von Leopold Federmair
Nachwort von Wolfgang Hermann
Klever Verlag
192 Seiten
19,90


 

 


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