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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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»Nichts Zärtliches lastet auf mir ...«

Zur Aktualität des
französischen Philosophen und Schriftstellers Paul Valéry.
Die vollständige
Pléiade-Edition seiner »cahiers«ist jetzt als E-Book bei S.Fischer erschienen.

von Bernd Leukert

 

Sein Leben spannte sich vom Beginn des zweiten bis zum Ende des letzten der deutschen Reiche. Selbst wenn man die fünfzehnjährige Zwischenzeit der Weimarer Republik dagegenhält, mag das einer der Gründe dafür sein, daß die Reichsdeutschen Paul Valéry wenig Beachtung schenkten. Hinzu kam, daß dieser Denker ein »philosophe« im französischen Sinn war, das heißt ein Autor, der sowohl belletristische, also poetische, aber auch philosophische und naturwissenschaftliche Schriften verfasste, sowie journalistisch tätig war. In Deutschland dagegen verpflichtete man sogar den Schuster, bei seinem Leisten zu bleiben – und tut dies nach wie vor. (In mythischen Zeiten hatte der Schuster wenigstens noch zu singen oder gar Verse zu knitteln, was ‚reimen’ bedeutete.)

Für Valéry aber, der Dichter war, Essayist, Aphoristiker, Zeichner, Maler und ein besessener Erforscher des eigenen Denkens, war eine Berufsbezeichnung noch nicht erfunden.

Hugo von Hofmannsthal sah ihn – wie heute selbst die Franzosen - als französischen Geist, ihn, der sich seiner Herkunft nach als Ausländer betrachten mußte, weil seine Vorfahren aus Korsika, Genua, Istrien und Mailand kamen: » - und da wirke ich auf die Ausländer erzfranzösisch!« Diesen Eindruck bestätigen freilich seine Schriften, die zumeist einen im wissenschaftlichen Sinne experimentellen Ansatz verfolgen, wie er in der Tradition des cartesianischen Rationalismus eben vor allem in Frankreich beheimatet ist. Aber Valéry steht ebenso für den existenzüberschreitenden Entwurf, für die überschießende Vorstellung, die dem Willen folgt. Schon in seinem Essay Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci (1894) stattet er den Künstler und Universalgelehrten Leonardo mit den eigenen Erfahrungen aus, gestaltet ihn als Modell seines eigenen Denkens. Ein Jahr später erfindet er den Monsieur Teste, der mit später angereicherten Prosastudien als artifizielles Konstrukt einer durch und durch analytischen Persönlichkeit charakterisiert ist, die nur in sozialer Unabhängigkeit existieren kann: »Wie behaglich ist die Einsamkeit! Nichts Zärtliches lastet auf mir ...« Aber auch darin finden sich einmontierte Widersprüche, die den Text dem Leser zur Aufgabe machen: »Worunter ich am meisten gelitten habe? – Vielleicht unter der Gewohnheit, mein ganzes Denken zu entwickeln – in mir bis ans Ende zu gehen.«

In der Dichtung Paul Valérys finden sich zunächst andere Ansprüche. Hier fällt zuerst die klassisch auskomponierte Sprache auf, die Musikalität und der Erfindungsreichtum, mit dem die Bedeutungsfelder der Sprachbilder erspürt und genutzt werden, kurz, die poetische Schönheit. Aber auch hier zeigt sich, näher besehen, zumeist auch je ein formales Konzept, an das er sich gerne hält, so wie man Vergnügen bei der Lösung einer selbstgestellten Aufgabe empfindet. In den beiden längeren Dichtungen, die ihn berühmt machten, »La jeune Parque« (Die junge Parze) und »Le Cimetière Marin« (Der Friedhof am Meer) gibt es Reflexionen, Meditationen, mythologische Bezüge, aber keine Handlung.

Um 1920, heißt es, galt Valéry als der größte französische Lyriker seiner Zeit und genoß hohes Ansehen auch im übrigen intellektuellen Europa.

Er war wohl der letzte Autor in Frankreich, der mit Lyrik seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Er galt als Dichterfürst, der um gut bezahlte Publikationen gebeten und häufig zu Vorträgen und Lesungen eingeladen wurde. Er wurde mit den höchsten Auszeichnungen und Ehrungen bedacht, und 1937 wurde für ihn ein Lehrstuhl für Poietik am Collège de France eingerichtet.

Philosophen, Schriftsteller und Intellektuelle beziehen sich auch heute noch auf Schriften von Paul Valéry, und zwar vor allem auf die Cahiers. Valéry hatte etwa 50 Jahre lang mit soldatische Disziplin täglich in den frühen Morgenstunden in seinen Heften seine Gedanken zum Denken, die auch die Körperlichkeit, den Eros, Mathematik, Geschichte, Politik, Ästhetik und Poesie umfassen, niedergeschrieben. Dieses enorme, postum veröffentlichte Konvolut forschender, aphoristischer Aufzeichnungen auf 27 000 Seiten ist die Quelle vieler seiner Aufsätze und Vorträge. Diese Denkhefte werden nicht nur in Frankreich als europäisches Erbe angesehen. Ihre Inhalte bewegen die Geistesarbeiter bis heute: Es ist das Streben nach Präzision, nach Reinheit des Denkens und die erschreckende Rigidität, mit der sie verfolgt wird, die daran fasziniert, und zugleich der berechtigte Einspruch, den Valéry gerne mitliefert, etwa im Psalm S: »... Und dann die Reinheit,/ Die das Ende ist.«

Er war ein Selbstdenker, der sich auf seiner »Denkinsel« die Freiheit nahm, auch den unlösbaren Problemen der condition humaine nachzugehen, nicht, um Lebensweisheiten zu produzieren, sondern um den geistigen Anspruch gegen den Alltag – auch den eigenen – aufrecht zu erhalten.

Nachdem die Deutschen Frankreich besetzt hatten, sagte er am 13. September 1940 im Rundfunk: »Wenn Goethe noch lebte, so wäre er auf unserer Seite oder aber in Haft.« Er weigerte sich, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten und hielt auch noch im Januar 1941 in der Sorbonne eine Gedächtnisrede zu Ehren des jüdischen Philosophen Henri Bergson. Die Vichy-Regierung entließ ihn daraufhin als Direktor des Centre Universitaire Méditerranéen.

Wer in den Cahiers liest, wird an Lichtenbergs Sudelbücher erinnert, aber auch an die Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins. Nach der Lektüre wird er das unsägliche Geplapper, dem man heute das Beiwort ‚Philosophie’ anhängt, entsorgen und sich auf die Herausforderung einlassen, die ihm die unabhängigen Gedanken Valérys anbieten.

Artikel online seit 26.05.16
 

Paul Valéry
Herausgeber: Hartmut Köhler + Jürgen Schmidt-Radefeldt
Cahiers/Hefte
Die vollständige Pléiade-Edition
E-Book
Aus dem Französischen von Hartmut Köhler
Preis € (D) 99,99
ISBN: 978-3-10-403486-7

Für die erste Begegnung mit seinem Denken bestens geeignet:

Paul Valéry
Herausgeber:
Thomas Stölzel
Ich grase meine Gehirnwiese ab
Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers
Aus dem Französischen von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt und Bernhard Boeschenstein und Reinhard Huschke
368 Seiten
978-3-596-90602-4
€ 12,99 (D)

Leseprobe

 


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