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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Verloren in Gottes eigenem Land

Willy Vlautin gibt in seinem neuen Roman, »Die Freien«
jenen Menschen Gesicht & Stimme, die im amerikanischen
Traum ganz unten auf der Strecke geblieben sind.

Von Jörn Birkholz

Dieses Bild zeichnet Willy Vlautin in seinem vierten Roman »Die Freien«, erschienen im Berlin Verlag, überaus eindrucksvoll. Seine Helden sind die durchs Raster gefallenen, die schuften bis an ihre Erschöpfungsgrenzen, Menschen, die am Rande des Turbokapitalismus stehen, für die sich der amerikanische Traum nie annährend verwirklicht hat und auch nicht mehr verwirklichen wird. Sie müssen funktionieren, Tag ein Tag aus, auch nachts ohne Pause, ohne zu Verschnaufen, damit sie das bisschen was ihnen noch gehört noch eine Weile behalten können, bevor sie letztendlich auch das verlieren …  

Da gibt es den jungen Nationalgardisten Leroy Kervin, der mit einem Hirntrauma aus seinem Irakeinsatz zurückkehrt. Eine Bombe zerstörte das Fahrzeug, in dem er saß. Nach mehreren Monaten Reha bleibt er dennoch ein Pflegefall. »Er brauchte Monate bis er wieder laufen konnte, Monate, bis er wieder eine Gabel halten konnte (…) Für den neuen Leroy Kervin gab es keine Wunderheilung.« Der Junge versucht sich das Leben zu nehmen, was misslingt, und ihn abermals zwingt, unter unerträglichen Schmerzen und gepeinigt von düsteren Alpträumen, das Krankenbett zu hüten. »Krankenhaus würde sich an Krankenhaus reihen, und diesmal hatte er es sich selbst zuzuschreiben. Er würde in diesem Zimmer liegen, dann im nächsten und wieder im nächsten, und dann, wenn er Glück hatte, wäre er wieder am Anfang: in der Wohngruppe in der Vorstadt, für immer und ewig.«  

Und da haben wir Freddie McCall, von seiner Familie getrennt lebend, der sich gleich mit zwei Jobs durchschlagen muss - nachts ist er Betreuer in Leroys Wohngruppe und tagsüber arbeitet er sechs Tage die Woche als Verkäufer in einem Laden für Malerbedarf. Er versucht verzweifelt, das mit zwei Hypotheken belastete Haus seiner Eltern zu halten und die Arzt- und Krankenhausrechnungen seiner Tochter Ginnie zu begleichen, die seit ihrer Geburt an Hüftdysplasie leidet. Aus finanzieller Not lässt er sich dabei auf ein riskantes Geschäft ein. Für einen alten Freund bewahrt er - für eintausend Dollar im Monat - Marihuanapflanzen in seinem Keller auf. »Wenn ich ins Gefängnis komme, komme ich eben ins Gefängnis. Ich habe meine Kinder nicht mehr und wenn ich nicht bald was unternehme, verliere ich das Haus. Also was soll’s.«

Oder da haben wir die ledige Krankenschwester Pauline, die sich nach den Schichten im Spital noch um ihren psychisch kranken und verwahrlosten Vater kümmert, von dem sie sich aus falsch verstandenem Pflichtgefühl nicht lösen kann. »Es war toll«, sagte Pauline, »Er hat heute Morgen sogar Frühstück gemacht.« »Vergiss nicht, dass er den Rest des Monats wieder ein Arschloch sein wird, und nächsten Monat auch und nächstes Jahr. Es ist immer dasselbe und du fällst immer wieder drauf rein.« fasst es ihre beste Freundin Cheryl zusammen. Pauline tut sich nach all den Jahren noch immer schwer, berufliches und privates zu trennen, sie kann ihre Arbeit nicht im Krankenhaus lassen. »Sie ließ sich von ihnen auffressen und verlor sich in den fremden Schicksalen.« So geht ihr auch die Geschichte von Jo sehr nahe, einem jungen heroinabhängigen Mädchen, das mit schlimmen Eiterbeulen auf ihrer Station landet, und das sie an sie selbst erinnert, als sie jung war. Nachdem Jo kurz darauf von ihren Junkie-Freunden aus dem Krankenhaus entführt wurde, macht sich Pauline mit Cheryl auf die Suche nach der Kleinen. 

Vlautin skizziert den Alltag seiner Figuren schonungslos und authentisch. »Plötzlich wurden seine Augen feucht und der Schweiß brach ihm aus. Er bedeckte den Mund mit den Händen und erbrach Blut. Es spritze zwischen seinen Fingern hervor, hellrot und stinkend, lief an seinem Krankenhemd herunter und auf den Fußboden. Pauline drückte auf den Notfallknopf und seine Frau fing an zu schreien. Mr. Delgado fiel ins Bett zurück. (…) Eine zweite Schwester kam hereingelaufen und das Notfallteam wurde gerufen. Die dicke Frau wurde hysterisch. Sie lief nach hinten zur Wand und ging weinend auf und ab. Das Team kam ins Zimmer (…) Er war bewusstlos, als sie ihn aus dem Zimmer rollten. Die Frau lief panisch hinter ihnen her und weinte. Ihre Schuhsohlen waren voller Blut und ließen auf dem gebohnerten Flur Spuren zurück. Pauline ging zu ihrem Spind. Sie legte die blutbefleckte Schwesterntracht ab und zog eine frische an. Im Bad wusch sie sich Gesicht und Hände doppelt, sah nach, ob ihre Schuhe sauber waren, und blickte auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zu ihrem freien Tag.«

Interessant an der Struktur des Romans ist, dass die Hauptfiguren, (Freddie, Leroy, Pauline) sich zwar begegnen, aber im Grunde an einander vorbeileben, weil sie von ihren eigenen Problemen völlig absorbiert sind, sodass erwartbare dramatische Verwicklungen zwischen ihnen erfreulicherweise ausbleiben. 
 

Vlautin zeigt in »Die Freien« das echte ungeschönte Leben, fern von Disneyland und Hollywood-Glamour, und dass seine Helden natürlich alles andere sind als frei; sie sind gefangen in ihren Jobs, in ihren Verpflichtungen, gefangen in ihrer Perspektiv- und Hilflosigkeit. Sie sind ohne Krankenversicherung, ohne Strom, ohne Heizung, sie frieren, sie sind erschöpft, müde, verzweifelt, und dennoch machen sie weiter, immer weiter, obwohl sie eigentlich keinen wirklichen Grund haben. Die klare und schnörkellose Sprache des Werks macht es für mich so großartig und erschütternd zugleich, ihnen dabei zu folgen. Lesenswert ist es allemal.

Artikel online seit 26.01.16
 

Willy Vlautin
Die Freien
Roman
Übersetzt von Robin Detje
320 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
Berlin Verlag
978-3-8270-1176-3
€ 22,00


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