Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Impressum & Datenschutz   


 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (48)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Voreilige Forderung - In der brieflichen Diskussion zweier deutscher Journalistinnen mit Migrationshintergrund »über ihre manchmal schwierige Heimat Deutschland« schreibt die jüngere, 1991 in München geborene & im Politikressort der SZ arbeitende, an einer Stelle:

»Erst kürzlich stolperte ich über eine Pressemitteilung der bayerischen Integrationsbeauftragten, darin hieß es: >Ukrainischen Geflüchteten muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf.<   Diese Herablassung, diese Arroganz und Ignoranz haben mich sprachlos zurückgelassen« – aber offensichtlich, umso empörungsbereiter (füge ich hinzu) : »Wenn sogar eine Integrationsbeauftragte so über Geflüchtete spricht«, fährt die eigentlich sprachlose Journalistin fort, »will ich nicht wissen, was andere Bürger über Menschen denken und reden, die aus weiter entfernten Regionen hierherkommen«.

Unabhängig von der Frage, welchem Zusammenhang dieses Zitat entnommen wurde, ist es doch nichts anderes als eine faktische Feststellung. Bei Flüchtlingen aus der Ukraine kann man in Mitteleuropa davon ausgehen, dass sie aus  Lebensverhältnissen stammen, die so gut wie identisch sind mit den deutschen – wozu z.B. die elektrisch betriebene Waschmaschine gehört, wie die Herdplatte, auf der das Essen zubereitet wird.

Was an dieser Aussage herablassend & arrogant sein sollte, möchte ich gerne wissen. Und von »Ignoranz« zeugt es gerade nicht (sofern damit Unwissenheit gemeint ist),, wenn wenigsten eine Integrationsbeauftragte weiß, dass Geflüchtete »aus weit entfernten Regionen« kommen können, in denen  das eine gar nicht bekannt oder in Gebrauch ist & das andere – nämlich das Essen auf dem Boden - so selbstverständlich zubereitet,  wie dort ohne Tisch & Stuhl oder auch ohne Messer/Gabel/Löffel am Boden verzehrt wird. Womit also »Integration« für weit entfernt Fremde eventuell schwieriger wäre. Gut zu wissen.

                                      *

Verlustanzeige - Besuch beim Hausarzt, weil ein Bein, das nach einer Embolie vor mehr als 20 Jahren dicker als das andere war, noch dicker geworden war. Nach der Begrüßung in seinem Zimmer hört er an, was der Grund des Besuchs ist & macht sich sofort daran, die Anschrift eines Orthopäden (möglicherweise zur Verordnung eines Spezial-Schuhs) & eines Angiologen (wegen der Ursachenforschung im Venenbereich). Nach deren Befunden erneuter Hausarztbesuch in seiner Praxis.

Erneut setzt er sich vor seinen Computer (& liest die Arztbriefe). Frage des Patienten: »Wollen Sie sich nicht einmal das Bein ansehen?« Antwort des Arztes: »Nein, alles, was ich wissen will, habe ich hier« (im Computer).

Der Hausarzt hat also nicht einmal das Objekt angesehen, wegen dessen sichtbarer Veränderung er vom Patienten konsultiert worden war. Die Abwehr, es sich vor Augen zu stellen & zu beurteilen, in welchem physischen Zustand es sich möglicherweise befindet, empfindet der um seine Gesundheit besorgte Patient, als demütigende Exklusion. Dabei ist das Objekt weder durch Blutung oder gar durch Geruch auffällig Es ist die pure Körperlichkeit des Patienten, die tabuisiert wird.

Eigentlich wäre ein Arztbesuch in der Praxis unnötig: zum einen, weil der Allgemeinmediziner von diesem Leiden nur so viel wie der Patient weiß, zum anderen, weil er mit einer Überweisung nur den Weg zum speziellen Kenner angeben kann. Auf der Strecke bleibt, was das innerste Humanum der Beziehung Arzt-Patient einmal war: Hin-& Zuwendung, persönliche Aufmerksamkeit, um die Angst des von einem körperlichen Übel betroffenen Patienten durch die mitmenschliche, möglicherweise sogar taktile Beachtung der medizinischen Autorität zu mildern oder abzubauen. Der Gang zum Hausarzt ist das Begehren eines Schutzsuchenden, die säkularisierte Form eines früheren Gangs zum Priester oder Schamanen.

                                       *

Vergeblicher Wunsch – »Wie will Goethe etwas gegen Hunde haben, da 1) der große ruhig dem kleinen vergibt, und 2) der kleine kühn den größten anfällt. Ich wollte, wir wären Hunde.« (Jean Paul)
                                       *

Definitionshilfe? In Joseph Conrads »Lord Jim« (Übersetzung: Michael Walter) hat mich diese Passage, die sich auf ein Handlungsmoment im Malaiischen Archipel nachdenklich gemacht: »…die verborgenen Möglichkeiten von Rassen und Ländern, auf denen das Geheimnis nicht überlieferter Zeitalter liegt.«

Was soll damit gemeint sein? Dass es Rassen & Länder gibt, die deshalb geheimnisvoll sind, weil vor ihrer Gegenwart (heute) ein Zeitalter liegt, aus dem nichts überliefert ist über sie? D.h. diese Rassen & Länder haben zwar wie alle Anderen Vorgeschichten, bzw. weit zurückreichende Vergangenheiten, aber von ihrer spezifischen Existenz(weise) in diesen Zeitaltern ist nichts bekannt?

Joseph Conrad, von dem ich nicht weiß, ob er je z.B. von Angkor Watt, Tenochtitlan, Machu Pichu gehört hat  - also architektonischen Zeugnissen längst vergangener Gesellschaften (& auch deren Alphabeten) - , meint hier die malaiische Inselwelt Südostasiens oder das »Herz der Finsternis« im Kongobecken – wo es, meines Wissens, weder architektonische noch schriftliche Zeugnisse früherer Zeitalter gibt.

Obwohl wir von diesen Rassen & Ländern genealogisch nichts wissen – wissen wir wirklich etwas von den Erbauern der erwähnten außereuropäischen Orte? - & sie deshalb für uns geheimnisvoller als alle anderen sind, nimmt der englisch schreibende Pole an, dass zu ihrem Geheimnis gehört, dass in ihm auch Möglichkeiten (eines Anderssseins) verborgen sind.

Ohne Zweifel ist weder Conrads Blick, noch der seiner Erzähler auf die nicht-europäische Welt, in deren Völker- & Rassengemisch viele seiner Romane spielen, selbst trotz seiner humanistischen Kritik am europäischen Imperialismus vom Paternalismus etc. des europäischen Imperialismus geprägt - wie z.B. der seines Zeitgenossen Kipling, der »the white man´s burden« als ethische Last des europäischen Imperialismus bezeichnete.

Aber Conrads zitierte Bemerkung über die zivilisatorisch-historisch unbekanntesten »Rassen und Länder« ist insofern nicht rassistisch fixiert, weil er zugleich beiden »verborgene Möglichkeiten« zuspricht. Oder wünsche ich mir nur diese wohlmeinende (?) Interpretation seiner Welt-Anschauung?

Artikel online seit 21.06.22
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

Petits riens (IX)
Horrorfamilien &-feste - Fürsorgliche Belagerung - Wert, Schätzung Text lesen

Petits riens (x)
Die Konkurrenz schläft nicht - Kinospekulation - Reisebekanntschaften - Café de France, trocken Text lesen

Petits riens (elf)
Text lesen Erhellung - Appell - Calvinisten-Lehre - Fundamentales hier & dort

Petits riens (zwölf)
Text lesen Privatissime öffentlich / Was tun? Ahnungslose Nachfolge.

Petits riens (dreizehn)
Text lesen Die kleine Differenz - Literarische Bodenlosigkeit - Sprich, Erinnerung, sprich - Mit Mozart zu Boeing

Petits riens (vierzehn)
Text lesen Weniger ist mehr - Raumflucht - Flensburgisches Berchtesgaden - Wo steht das Klavier? - Tot zu Lebzeiten

Petits riens (fünfzehn)
Text lesen Aus zweiter Hand - Alla Calabrese - Noli me tangere - Fanpost

Petits riens (sechzehn)
Text lesen Landläufig - Die verlassenen Bücher - Ortsfetischismus

Petits riens (siebzehn)
Text lesen Eingeweide-Mahnung - Hase & Igel mit Pedalen - Nachhilfe-Kommentatoren

Petits riens (achtzehn)
Text lesen Merkel semper triumphans - Erkennbare Missgeburt - Kino-Vision - Findlingstückchen

Petits riens (neunzehn)
Text lesen Brecht/Trump - Self fulfilling prophecy - Schadenfreude

Petits riens (zwanzig)
Text lesen Zeit haben - Nachtmahlen - Späte Erkenntnis - Das Gefäß bestimmt den Inhalt

Petits riens (21)
Text lesen Korrektur - Aus der Geschichte lernen - Vorsicht & Nachsicht

Petits riens (22)
Text lesen Deutsche Karrieren (mehrfach) - Teure Bürde der Verantwortung - Trumpeln

Petits riens (23)
Text lesen In die Tasche gesteckt - Stumm- & Tonfilm - Feuerwerksverpuffung

Petits riens (24)
Text lesen Wo ich nichts weiß, macht mich nichts heiß - Verlust-Anzeige -Der kleine Unterschied - Kniefall -Allein diese beiden - Die Verwandlung

Petits riens (25)
Text lesen Unterlassene Hausaufgaben - Drakonische Notwehr - Morbus Trump

Petits riens (26)
Text lesen Zukunft einer Illusion - »Aber gerne« - Waffen & Bauen - Kollateralgewinn

Petits riens (27)
Text lesen Noli me tangere - Karriere eines Wortes - Kanonische Spekulationen - Zugebissen - Studentinnen - Kleine Nachtmusik mit Primzahl-Kompositionen

Petits riens (28)
Text lesen Vertrauen Sie sich mir an - Schwarze Hefte - Vom Himmel hoch, da komm ich her

Petits riens (29)
Text lesen Eines Rätsels Lösung - Gender Irritation - PV - Gift-Gaben

Petits riens (30)
Text lesen Wahl-Korrektur - Sponti Adé Brioche mit Aktien

Petits riens (31)
Text lesen Knallerprojekte - Glück gehabt - ... macht mich nicht heiß - Angeführt & angeschmiert - Gender-Führung - Trauerarbeit

Petits riens (32)
Text lesen Münsteraner Rätsel - Pfäffische SPD - Aufgemerkt also - Kannitverstan - Versprecher - Noch ne Tasse im Schrank?

Petits riens (33)
Text lesen
Genre-Szene - Deutschstunden mit Bildern - Klettermaxe - Rumpelstilzerische

Petits riens (34)
Text lesen Spätzündung - Schlußverkauf - Abgefüllte Zeit Sprachflüchtiger Literat Ordnung & Amt

Petits riens (35)
Text lesen Romänchen - Fernbedienung - Trübe Aussicht - Posthumes Autodafé

Petits riens (36)
Text lesen Selbstverständlichkeit
Bezahltes Barbarentum
Unverhoffte Koinzidenz
Problematisches Privileg

Petits riens (37)
Text lesen
Rollover Beethoven
(Hellsicht) - Trump was here
Petri-heil-los - Schottischer Fortschritt

Petits riens (38)
Text lesen Trauerfall
Vom Gärtner zum Bock

Petits riens (39)
Text lesen Zombi
Fröhlicher Selbstmord

Petits riens (40)
Text lesen Antizipation - Sehen & Hören - Elektro-Magnetismus - Verlustanzeige - Letzte Mohikaner
Kapitolinisches Desaster

Petits riens (41)
Text lesen Traumparadoxe - Teddies Schatten - Beggar's Opera - Corona-Karpfen

Petits riens (42)
Text lesen Attention mesdames!
Dänischer Gulliver in Nordkorea

Petits riens (43)
Text lesen Geballer ohne Tote
Lachnummern Revue - Wandel

Petits riens (44)
Text lesen
Superlativitis - Sturm abgeblasen - Neueste Pathfinder - Rätsel Lösung - Kollateral Bonus

Petits riens (45)
Text lesen
Lagerdenken, Gespenster-Aura - Betriebsschaden

Petits riens (46)
Text lesen Kurage, Massenerfahrungsbad, Schall & Rauch, Chronik eines angekündigten Todes, Spätfolgen

Petits riens (48)
Text lesen
Undiplomatische Kollateralschäden - Das Undenkbare oder der Ernstfall -  Koinzidenzialer Gipfel
 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Impressum - Mediadaten