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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Petits riens (vierzehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Weniger ist mehr- In seiner Philippika gegen die heutige theatralische Verhunzung Shakespeares (FAZ v. 23.4.16) schreibt Botho Strauß über das »Elend der Postmoderne«, die »Pathos durch Comedy-Scherze, die komplexe Metapher durch platten Jargon ersetzt«. Dann klagt Strauß: »Stets wird etwas bravgemacht der Gegenwart zugeführt, das eigentlich Gegenwart vergessen lassen und entführen sollte in die Sagenwelt uns entschwundener Formen und Empfindungskräfte.(…) Um je einer Überwältigung durch Shakespeare zu begegnen, sollte man besser nicht ins Theater gehen. (…) Für das Erlebnis der Überwältigung wird ein théatre imaginaire, wird nur noch die inszenierende Lektüre gut sein. Katharsis daheim. Man wird vielleicht das Lesedrama wiederentdecken, wie es zur Goethezeit verbreitet war«.

Unterstützung fand dieser Straußsche Ruf nach theatralischer Askese beim kürzlichen Betrachten der Sommernachtstraum-Verfilmung von Michael Hoffmann (1999) auf arte. Dort war das imaginäre Griechen-Land Shakespeares in ein ländlich, duodezfürstliches Italien Ende des 19. Jahrhunderts verlegt worden & die beiden Liebes-Paare irrten mit Fahrrädern (wie auch der Puck) durch den Wald.
Nicht diese lässliche Eigenwilligkeit der Inszenierung war aber irritierend, sondern der Prunk von Shakespeares Metaphern reicher Sprache, die fehl am Platz der demonstrativ spektakulär-realistischen Handlung schien. Sie erinnerte plötzlich daran, dass der unvergleichliche Dramatiker doch für ein Theater geschrieben hat, das von den Besuchern verlangte, als Zuschauer vor allem aber auch Zuhörer zu sein, um mit den sparsamen Bühnen-Requisiten, der präsenten Leiblichkeit der Schauspieler im »Globe«-Rund & deren sprachlichen Evokationskraft sich das Stück Shakespeares selbst zu imaginieren. Ob das, was in dem Film als exaltierte, preziöse, aufgedonnerte Redeweise geradezu anstößig, wo nicht gelegentlich lachhaft  wirkte, nicht doch eher einmal die grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit von Poesie des Elisabethaners gewesen war? Metaphorik, assoziative Anspielungen als Phantasie-Reizungen, konzentrierte Würzstoffe zur Evokation des Poetisch-Imaginativen in der Zuschauer/hörer-Phantasie?

                                               *

Raumflucht- Kaum wird auf der Leinwand heute noch durch ein Wort wie »Ende« der Abschluss einer Filmvorstellung annonciert – häufiger ist das Ende durch eine lange optische Pause & den Beginn des Nachspanns markiert worden -, da erheben im noch dunklen Kino sich die ersten Besucher, um fluchtartig den Ort ihres gerade beendeten filmischen Vergnügens zu verlassen. Es gibt nur noch wenige Kinobesucher, die sitzen bleiben, bis das Licht angeht.
Wenn ich an meine Kindheit& Jugend denke, in denen das Publikum gewissermaßen noch »gebannt« oder wie ein gerade geweckter Träumer sich verhielt, der langsam während des Nachspanns den Übergang in die Realität sitzend antrat, hat sich sehr viel geändert. (Wie ja auch die Erinnerung an die vollgequalmten englischen Kinosäle der sechziger Jahre märchenhaft unwirklich erscheint.)
Noch in den Siebzigern, glaube ich mich zu erinnern, fochten wir als junge Filmkritiker manchen Strauß mit Frankfurter Kinos aus, die während des Abspanns die Vorhänge vor der Leinwand zuzogen und sogar oft die Nachspänne »kürzten«, indem sie die Vorführung beendeten. Wir empfanden solche Eigenmächtigkeiten als unerlaubte Eingriffe, die nicht nur die Intaktheit sondern auch die Integrität des Films beschädigten.

Denn der Nachspann – der anders & auch umfangreicher als der variabel gestaltete Vorspann war – entsprach jenen Verbeugungen am Ende von Theater- & Opernaufführungen, bei denen nicht nur die (berühmten) Hauptakteure beklatscht wurden, sondern auch viele der anderen, die zum Gelingen des gerade aufgeführten Stücks ihren Teil beigetragen hatten. (Woody Allen hat den Nachspann beträchtlich erweitert – bis zu einer Geduldsprobe, der sich aber auch seine Kinozuschauer durch Flucht entziehen).
Den Nachspann vollständig anzusehen, war zumindest in unserer hochgestimmten Utopie des Kinos gedacht als ein Zeichen des Dankes wie des Respekts der Kinogänger, der allen erwähnten Beteiligten des Gesamtkunstwerks Film galt. Immer noch empfinde ich das vorschnelle, eilige Fluchtverhalten heutiger Kinogänger als respektlose Unhöflichkeit.

Mit dem heimischen Fernsehapparat, gar mit dem Computer oder Laptop ist die einstige »Magie« des sich verdunkelnden Kinosaals als außergewöhnlichem Erlebnis, das man durch eine Ortsveränderung & in der Gemeinsamkeit mit anderen aufsuchen musste, weitgehend dahingeschwunden. Der Umgang mit »Bildern & Tönen« (Godard) ist so alltäglich & ubiquitär geworden, dass möglicherweise das Kino gerade wegen seiner »sakralen« Singularität noch einmal als auratischer Ort eine öffentliche Zukunft haben wird. Aber dieser selbstverständliche Umgang mit dem Audiovisuellen hat das einst »heiße«  Phänomen des kollektiven Wachtraums im Kino  in jeder Hinsicht »gleich gültiger«, gewissermaßen »cool« gemacht. Man benutzt es & wenn es benutzt wurde, verlässt man es (wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch weggeworfen wird.)
Der allgemeine Konsumismus tut ein Übriges: die Leute sind habituell so nervös & »zerstreut«, dass die temporäre Konzentration im Kino auf die Leinwand unbewusst als zwangshafte Einschränkung empfunden wird, vor allem sobald die narrative Spannung auf der Leinwand nachlässt. Deshalb muss man möglichst umgehend eine Ortsveränderung vornehmen.
Schließlich: mit dem Kauf der Eintrittskarte hat man die Verfügungsgewalt erworben, von dem gekauften Gegenstand nach eigenem Gusto umgehend Gebrauch zu machen. Wer was an ihm verantwortet bzw. hergestellt hat, interessiert nicht, schon gar nicht aus humanistischen Respektsgründen. Ist es überinterpretiert, wenn man mutmaßen würde, dass sich im Verhalten zu einer Respektlosigkeit dem Imaginären gegenüber ein nachhaltiges Alltagsverhalten widerspiegelt?   

                                           *

Flensburgisches Berchtesgaden – Um festzuhalten, mit welcher Ignoranz man heute in der »Frankfurter Allgemeine Woche« schreiben & publizieren darf, sei ein Satz festgehalten, mit dem ein gewisser Justus Bender seine geografische Weltkenntnis zum besten gibt: «Gauland und Metzger treffen sich in Restaurants, trinken Rotwein, sprechen über die Schönheit der Atlantikküste und das schottische Cornwall.« (Kursivierung von mir.)
Die südenglische Heimat King Arthur's dürfte etwa soweit von der Burg Macbeth' entfernt sein wie bei uns Flensburg von den deutschen Alpen. Kein Korrektor hat die Blöße Justus Benders verdeckt & die Blamage seiner munter hinausposaunten geografischen Unwissenheit verhindert.
Oder ist es gar keine Blamage? Wenn schon FAZ-Journalisten sich im Vereinigten Königreich nicht auskennen – warum sollte es da ihre junge finanzpotente Leserschaft besser wissen? Wurde doch das neue Wochen-Produkt extra für sie gegründet, weil die jungen Herrschaften längst nicht mehr jene »klugen Köpfe« zu sein scheinen, zu deren gesellschaftlichen Image es gehörte, sich hinter der täglichen FAZ-Lektüre für alle sichtbar zu verstecken, bzw. auffällig zu positionieren.
Allerdings könnte es sein, dass die scharenweise FAZ-flüchtigen Jungbürger mittlerweile von »klug« zu »clever« gewechselt sind & für eine anspruchsvolle FAZ-Lektüre selbst dann nicht zurückgewonnen würden, wenn Cornwall in Schottland läge - weil sie das gar nicht mitbekämen?

                                             *
Wo steht das Klavier? – In jenen Hochglanz-Broschüren der Printpresse – den »Magazinen« von FAZ, ZEIT oder SZ -, in denen bevorzugt die Welt-Mode-Marken inserieren, deren Namen auch jenen bekannt sind, die nie das nötige Kleingeld haben werden, um deren Objekte zu kaufen, tritt jetzt auch Steinway auf, der Rolls Royce unter den Piano/Flügel-Herstellern. Wie RR es nicht nötig hat, sich auf die »Vulgarität« einer Anzeige herab zu begeben, so glaubte ich bislang, auch »Steinway & Sons« sei darüber genauso erhaben.
Nun wirbt die Anzeige von Steinway, die auch als Werbefilm im Internet anzusehen ist, ja auch gar nicht primär für ihre Pianos oder Flügel, sondern  für »Spirio«. Unter dem Titel »Mondscheinsonate –Morgenzeitung« sieht man in der ganzseitigen Anzeige des SZ-Magazins eine junge Frau, in einen rundlichen modernen Ohrensesel gekuschelt, eine Zeitung lesen, während im Anschnitt links der aufgeklappte Flügel, auf dem ein Spirio-Tablet steht, in ein helles Zimmer-Ambiente ragt.
»Ob Klassik, Rock oder Jazz, ab morgens, mittags oder abends – Spirio ist das erste hochauflösende Selbstspielsystem, das Live-Darbietungen der weltbesten Pianisten in all ihren Nuancen originalgetreu wiedergeben kann. Es ist ein Meisterwerk aus Handwerk und Perfektion, das (…) eine Bereicherung für Ihr Zuhause ist. Sie lassen es spielen, Sie hören zu und genießen – und wenn Sie mögen, spielen Sie selbst « – animiert ein Text, der ein Meisterwerk aus  ansprechendemHandwerk & rhetorischer Perfektion ist.
»Sie lassen es spielen«: will sagen: es sind Sie, der bestimmt, wer (auf)spielen darf – wie es z.B. der Salzburger Erzbischof war, der dem jungen Mozart gesagt hat, wann er ihm vorspielen durfte. Und eine besonders gelungene Formulierung ist jene musikalisch aktive Alternative zu »Spirio«: und »wenn Sie mögen, spielen Sie selbst!«.
Natürlich weiß sowohl Steinway als auch jener, der sich einen Flügel in seine  ausreichend vorhandene Wohnlandschaft gestellt hat, dass es nicht genügt, spielen zu mögen, sondern es selbst zu können. Vermutlich haben aber immer mehr von jenen, die das Geld, den Platz & die Absicht hätten, mit »Steinway & Sons« häuslich zu prunken, noch die Zeit, die Geduld & die Fähigkeit, auf dem Flügel selbst zu spielen, wenn sie es auch mögen würden, dass die Mondscheinsonate zur Lektüre der Morgenzeitung erklingt.

Da bietet Spirio eine salomonische Hilfe, die einen an das elektrische Klavier erinnert, wie man es aus verrufenen Kaschemmen in amerikanischen Western kennt. Man mag gar nicht mehr Klavier spielen können, was heute wohl meistens der traurige Fall ist, und dennoch  einen eigenen Steinway-Flügel zuhause haben wollen wie eine Bibliothek, deren Bücher auch nicht gelesen sein müssen. Spirio könnte dann gewissermaßen als Butler & Konzertmanager fungieren: Er holt einen »Weltstar« ins Haus, der einem auf dem eigenen Steinway  exklusiv vorspielt – wie von Geisterhand.
Wie vulgär ist es doch dagegen, die pianistischen Koryphäen des Augenblicks oder der Vergangenheit nur durch noch so gute (& teure) Lautsprecherboxen von einer DVD stereophonisch zum Erklingen zu bringen! 

                                              *

Tot zu Lebzeiten- Als jetzt kurz hintereinander Roger Willemsen, Imre Kertész & Lars Gustafsson starben, rechnete ein mir bekannter Antiquar mit guten Geschäften. Von dem ungarischen Nobelpreisträger hatte er sogar signierte Exemplare!
Aus dem erhofften dreifachen Leichenschmaus, den ihm die bibliophilen Käufer ermöglichen sollten, wurde jedoch nichts. Von den beiden hochkarätigen literarischen Erzählern verkaufte er nach ihrem Tod, der sie mit großen Nachrufen noch einmal ins öffentliche Bewusstsein gebracht hatte, kein einziges Buch! Nur von dem deutschen Fernsehmoderator & Sachbuchautor Roger Willemsen konnte der Antiquar einige Umsätze tätigen.
Was sagt uns das?
Dass bei konkurrierenden Toden ihrer Verfasser Sachbücher die literarischen Fiktionen in der postumen Wahrnehmung übertrumpfen - & bliebe dabei selbst ein Literaturnobelpreisträger auf der Strecke? Könnte sein; weil beim Sachbuch nicht nur der Autor, sondern zusätzlich auch die Sache, die er verhandelt,  attraktiv ist, also einen größeren Interessentenkreis anspricht?

Dass die TV-Popularität auch in (noch?) literarisch interessierten Kreisen das langjährig entwickelte & bewahrte Image des schwedischen Erzählers & des mit dem Nobelpreis geehrten unvergleichlichen ungarischen Romanciers übertrumpft?
Dass die Nachrufe – so umfangreich & einlässlich wie auch immer – de facto doch nur Danksagungen von einer & für eine Generation sind, die mit dem Oeuvre der Gestorbenen vertraut war, aufgewachsen ist & nun im Angesicht der ignoranten Gegenwart ihre dahingeschiedenen literarischen Zeitgenossen lauthals verabschiedet, im Sinne des illusionslosen Jesus-Wortes: »Lasst die Toten ihre Toten begraben«?
Will sagen: womöglich nur noch als Name war der einstmals von einem beträchtlichen deutschen Publikum hoch geschätzte schwedische Melancholiker Gustafsson im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gegenwärtig, obgleich bis in sein Todesjahr sein Oeuvre kontinuierlich von seiner deutschen Übersetzerin Verena Reichel vorgelegt worden war. 

Ist der Tod eines Autors (& mag er sogar Nobelpreisträger sein) ein guter, bzw. hinreichender Grund für Bücherfreunde, von den lobpreisenden journalistischen Grabrednern motiviert, nun mit der Lektüre der Bücher des Dahingegangenen zu beginnen?
Oder hat sich der Antiquar grundsätzlich falsche Hoffnungen auf die Kundschaft antiquarischer Bücher gemacht, weil die meisten auch als Taschenbücher vorliegen? (Aber das träfe nun erst recht auch auf die Bücher vom Roger Willemsen zu.)

Artikel online seit 12.05.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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