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Zum Geburtstag von Jean Améry Von Wolfgang Schnier |
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Jean Améry hat Geburtstag: Am 31.10.1912 wurde er in Wien geboren. Von Belgien, wohin er nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland geflüchtet war, kam er als »feindlicher Ausländer« in das Konzentrationslager in Gurs in Südfrankreich, konnte aber fliehen und schloss sich dem Widerstand an. Nach seiner Verhaftung wurde er im Gestapo-Gefängnis Fort Breendonk in Belgien gefoltert. Er überlebte Auschwitz-Monowitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. In
seinen für den Süddeutschen Rundfunk entstandenen Betrachtungen Jenseits von
Schuld und Sühne reflektiert Jean Améry die Rolle des Intellektuellen im
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Die Essaysammlung gilt heute als
einer der zentralen Texte der Holocaustliteratur.
In
seinem Buch ‘Die Wörter’ hat Jean-Paul Sartre an einer Stelle geschrieben, er
habe dreißig Jahre gebraucht, um sich des traditionellen philosophischen
Idealismus zu entledigen. Bei uns, das kann ich versichern, ging es schneller.
Ein paar Lagerwochen haben meist genügt, um die Entzauberung des philosophischen
Inventars zu bewirken, um die andere, vielleicht unendlich viel begabtere und
scharfsinnigere Geister ein Leben lang ringen müssen. Für Jean Améry ergibt sich der Zwang, Jude zu sein, aus der schlichten Tatsache, vom Antisemitismus betroffen zu sein. Dabei versuchte er in Jenseits von Schuld und Sühne erst überhaupt nicht, den Antisemitismus zu erklären: »Die Antisemiten haben zu bewältigen, nicht ich. Ich würde ihnen in die unsauberen Hände spielen, wollte ich untersuchen, welchen Anteil an den Judenverfolgung religiöse, ökonomische und andere Faktoren haben.« Jean Améry hält am Antisemitismus als gesellschaftliche Realität und daher reale Bedrohung fest: »Der Antisemitismus, der mich als einen Juden erzeugt hat, mag ein Wahn sein, das steht hier nicht zur Debatte. Jedenfalls aber ist er, Wahn oder nicht, ein geschichtliches und soziales Faktum: ich war nun einmal wirklich in Auschwitz und nicht in Himmlers Imagination.« Aus diesen Überlegungen leitete Améry auch seine Solidarität zu Israel ab und kritisierte die Studentenbewegung scharf, die, in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren unter dem Eindruck der Shoah prozionistisch gewesen war, ab dem Sechstagekrieg 1967 sich immer weiter antizionistisch und in großen Teilen auch antisemitisch radikalisierte. Eine
Stelle aus Jenseits von Schuld und Sühne ist berühmt geworden, weil da
Jean Améry sehr eindrücklich seinen Versuch schilderte, angesichts des Terrors
und des unvorstellbaren millionenfachen Mordes um ihn in Auschwitz herum, der
das Unsagbare im Alltag zur Normalität pervertiert hatte, ein Stück Kultur
entgegenzusetzen:
Ich erinnere mich eines
Winterabends, als wir uns nach der Arbeit im schlechten Gleichschritt unter den
entnervenden ‚Links, zwei, drei, vier‘ der Kapos vom IG-Farben-Gelände ins Lager
zurückschleppten und mir an einem halbfertigen Bau eine aus Gott weiß welchem
Grunde davor wehende Fahne auffiel. ‚Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im
Winde klirren die Fahnen‘, murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann
wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem
Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem
Hölderlin-Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen
werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand
es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllte ‚links‘
und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Wolfgang Schnier. Alle Rechte bei © Wolfgang Schnier 2014. Artikel online seit 31.10.14 |
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