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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Die EM-Kolumne
Von Joe Bauer

 

Seine Kolumnen erscheinen regelmäßig bei den
Stuttgarter Nachrichten

02.07.2012
»Ein Fiasko, wenn wir auf unseren Stil verzichten würden.«
(Andres Iniesta)



Es lässt sich endlos darüber streiten, ob Fußball der demokratischen Aufklärung dient oder der Ablenkung von politischen Verhältnissen. Die Diskussion darüber aber ist so ergiebig wie die Frage, ob Musik eine Revolution zum Sieg führt. Wer sich die EM von Waldemar Hartmanns Lachsäcken im Leipziger Bahnhof und Katrin Müller­Hohensteins Strandliegen-Tratsch mit Olli Kahn im Usedomer Feuchtgebiet näherbringen ließ, hat seinen Fußballhorizont womöglich nicht entscheidend erweitert.

Zum Glück stand auch andere Begleit­musik zur Verfügung. Rechtzeitig zur EM hatte der ukrainische Dichter Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, bei Suhrkamp das Buch „Totalniy Futbol“ herausgegeben. Darin äußert er die Hoffnung auf einen Sieg des Fußballs über die Politik – und den Wunsch, dass für all die in seinem Land, die an den „totalen Fußball“ glauben, „diese Meisterschaft eine wunderbare Gelegenheit zur Vereinigung und Verständigung werden wird. Was hätte sie sonst für einen Sinn?“

Diese Frage lässt sich aus der Ferne nicht beantworten. Der Fußball allerdings erreicht bereits so viel wie manche politische Demonstration, wenn er Fragen aufwirft. Im erwähnten Buch, in einem Text über den 2002 verstorbenen Trainer Walerij Lobanowski, finden sich diese Zeilen von Juri ­Andruchowytsch: „Fußball ist eine Fata Morgana. Du strebst dem Ziel zu, das du dir gesetzt hast, aber kaum ist es erreicht, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass es dir nur so schien, als hättest du es erreicht. Denn alles ist schon wieder zerronnen.“

Damit sind wir in der dominierenden Diskussion über die EM 2012. Pausenlos kritisieren Kommentatoren den fantastischer Fußball von Xavi, Iniesta & Co mit der hilflosen Floskel: „Spanien nervt.“ Das Gefühl, „dass ein lange großartig anmutendes Modellbeispiel des modernen Kombinationsfußballs seine besten Tage hinter sich hat“, sei „jetzt schon un­abweisbar“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Wegweisende Kunst wird oft mit überheblicher Ablehnung bestraft, sobald sie ihren revolutionären Kick hinter sich hat. Das Totschlagargument gegen Spaniens Fußball heißt „Langeweile“. Vermisst werden Wucht, Körperlichkeit, Torschüsse. Vielen ist Spaniens Spiel wohl auch ein Ärgernis, weil es, anders als die Kreisklasse-Komik in „Waldis Club“, kein „Das können wir auch“-Gefühl beim Partyvolk zulässt.

Der spanische Trainer Juan Manuel Lillo, Lehrmeister von Barças Ex-Trainer Josep Guardiola, sagt: Das Problem sei, „dass die meisten Menschen den Fußball betrachten, als ob man ihn in Kapitel aufteilen müsse. Wir müssen uns im Fußball von Begriffen wie Angriff und Verteidigung lösen. Angriff und Verteidigung existieren nicht. Das sind Hilfsbegriffe, die wie aus kollektiven Sportarten entlehnt haben, die mit der Hand ­gespielt werden. Aber im Fußball kannst du den Ball eben nicht festhalten.“

Also haben Spaniens Trainer neue Formen der Ballannahme, der Balleroberung und der Spielübersicht entwickelt. Diese Technik ermöglicht kurze Pässe und einen immensen Druck auf den Gegner. Der Fan mag Torschüsse vermissen. Dem konzentrierten Fußballliebhaber eröffnen sich die Reize brillanter Spielordnung.

Der Spieler Iniesta, ein vollkommener Fußballer, sagt: „Eine Niederlage ist niemals ein Untergang. Ein Fiasko wäre es, wenn wir auf unseren Stil verzichten würden, wenn wir nicht mit unseren Waffen kämpfen, das Feld nicht leer vor Anstrengung verlassen würden. . . doch das wird nicht geschehen.“ Diese Worte erklären den Unterschied zwischen Spaniens in Jahrzehnten gewachsenem Fußball und herkömmlichen Taktiken. Die Trainer anderer Nationalteams haben eine „Philosophie“: Sie realisieren (wie Löw gegen Italien) eine auf den Gegner ausgerichtete Strategie. Die Spanier dagegen haben eine Haltung. Mit ihrer einzigartigen Balltechnik machen sie kompromisslos ihr Ding. Das ist Kunst.

Dass es im Fußball mit seinen Zerstörungstaktiken keine Erfolgsgarantie gibt, auch nicht für die Spanier, ist zum Glück eine Binsenweisheit. Auch gute Künstler haben schlechte Tage. Im Übrigen steht es jedem Team auch in Zukunft frei, die Furia Roja mit einer spannenden, spektakulären Leistung, mit totalem Fußball zu besiegen.

Das gilt auch für das deutsche Team. Folgte man der Propaganda von ARD und ZDF, war die Finalniederlage der spanischen Langweiler gegen Löws Jugend-forscht-Team programmiert. Welche Gnade, dass die Italiener dazwischenkamen.

Die Azzurri stehen nicht für Kunst. An die Hollywood-Grandezza von Typen wie Pirlo und Balotelli denkt man dennoch mit Freude zurück. Womöglich aber ist schon morgen der Tag, an dem alles zerrinnt.


28.06.2012
Balotelli oder Punk pur

Dorthin, wo alles anfing. Zum Gastwirt Andreas Göz. 1997 hat er das Ackermanns an der Ecke Schwab-/Bebelstraße eröffnet, eine der ersten echten Fußballkneipen in der Stadt. Treffpunkt für VfB-Fans, für Leute aus der Nachbarschaft. Heute führt er die Kneipe Maulwurf in Vaihingen.

1998, bei der WM in Frankreich, saßen wir zum ersten Mal zusammen vor der Leinwand: ein altes Leintuch. Der Sony-Beamer war fast so groß und schwer wie ein Kühlschrank, das Bild schlechter als in den Anfängen des Kintop. Man musste das Lokal verdunkeln, sonst hätte man das Spiel auf der Leinwand nicht einmal erahnen können. Es war diese denkwürdige WM von Frankreich. Das deutsche Team, von Berti Vogts trainiert, flog im Viertelfinale gegen Kroatien mit 0:3 aus dem Turnier. Ein Skandalspiel, der Dortmunder Wörns sah Rot, Trainer Vogts faselte hinterher etwas von einer Weltverschwörung. Der Torhüter Köpke und die Stürmer Klinsmann und Bierhoff waren dabei. Acht Jahre später sollten sie als Trainer und Manager des DFB-Teams eine Rolle spielen.

Da waren aufgerüstete Fußballkneipen bereits in Mode. Andreas Göz, 49, war ein Pionier; er hatte einen Bildschirm auch auf der Kneipentoilette installiert. 2006, beim deutschen »Sommermärchen«, als es schon den idiotischen Begriff Public Viewing gab, kamen ausländische TV-Teams, um das Stuttgarter Fußballklo zu dokumentieren.

2006, das WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien. Ein gewisser Pirlo, mit der Ausstrahlung eines Rockstars, besiegelt mit seinem Genie-Pass auf Grosso kurz vor Ende der Verlängerung das Aus des DFB-Teams. Man spricht von der »Tragödie von Dortmund«. Auch damals saßen wir vor der Leinwand, einer amtlichen.

Jetzt, am Abend des 28. Juni 2012, haben wir wieder vor der Leinwand Platz genommen. Vaihingen, Stuttgarter Tribünenlage. EM-Halbfinale. Alle reden von der Revanche. Deutschland gegen Italien bei einem Turnier, weiß der Teufel, immer ist es das »Jahrhundertspiel«. Einige Dinge haben sich nicht verändert. Während der Nationalhymnen krachen die Sounds von AC/DC aus den Boxen. Die Schallmauer. Der Party-Patriotismus mit seinen nationalistischen Tendenzen war nie das Ding echter Fußballkneipen. Im Maulwurf herrscht, trotz der deutschen Anfangsoffensive, eine Andächtigkeit. Respekt vor dem »Klassiker«, kein Hurra-Geschrei. »Bei uns dominiert das Interesse am Fußball, Hysterie ist woanders«, sagt der Wirt. Als herrschte, immer wieder stößt man auf dieses Kneipenphänomen, eine Vorahnung, in dieser merkwürdigen Stille vor der Leinwand. Es liegt etwas in der Luft, und dieses Etwas riecht heute nicht nach Sieg. Balotelli macht das 1:0, und mir scheint, als könnten wir den Jubel aus der Pizzeria Harmonie hören. Sie ist achthundert Meter entfernt.

Bei früheren Turnieren saßen wir in Mannschaftsstärke am Biertisch, kommentierten das Spiel, und nebenbei klapperte die Laptop-Tastatur. Heute ist mein Bedarf gedeckt, wenn uns der ARD-Kommentator erzählt, es sei nicht das »Spezialgebiet« eines Verteidigers, »eine Flanke zu schlagen«. Als wären wir noch bei Berti Vogts und unserem Betttuch an der Kneipenwand.

Als Balotelli das 2:0 erzielt, sagt der Wirt: »Das ist Fußball.« In meiner Nachbarschaft höre ich ein lautes »Scheiße«. Pause. Aus den Boxen dröhnt Punkrock, und ich weiß nicht, ob man damit den Italo-Fluch vertreiben kann. Balotelli ist Punk pur. Beginnt der Rock’n’Roll? Aufholjagd auf dem Platz. Fiebrige Hoffnung in der Kneipe. Es ist schwül. Der Wirt setzt seinen Hund Gustav als Glücksbringer unter unseren Tisch. Gustav ist offizielles VfB-Mitglied, angeblich als einziger Dackel im Verein.

Man sieht die Gesichter von Pirlo, von Buffon, und es wird klar, wer die Zocker sind, wer die Männer mit Erfahrung. Elfmeter. 2:1. Wieder ein Wahnsinnsfinale? Nein. Hut ab vor den Abgeklärten, Respekt vor den Italienern.
In der Kneipe läuft »You’ll Never Walk Alone«. Ciao.

27.06.2012
Der Treffer war keine Absicht


Der eigentliche Grund, sich über das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu ärgern, ist nicht die Gebührenpflicht. Schlimm ist, was man dem Kunden für sein Geld vorsetzt. Der Kunde von ARD und ZDF kann den medialen Fast-Food-Buden ja nicht einfach entfliehen wie dem Goldenen Lamm oder dem Schwarzen Adler, wenn ihm beim Verzehr der Ware schlecht wird. Das Schweizer Fernsehen böte sich als Alternative an, aber so versnobt will man als Nichtschwarzgeldbesitzer dann doch nicht sein.

Übers Fernsehen zu schimpfen ist ein alter Sport. Inzwischen aber geht es nicht mehr um den Esprit der »Guten Abend allerseits«-Nachtwächter vom Schlag der Faßbenders und Hubertys. Die heutige Fußballberichterstattung hat eine politische Dimension. Die Fußballbericht-Bestattung, wie sie die Kalauerfraktion nennt, hat sich der politischen angeglichen. Die Kommentierungen haben jede journalistische Pflicht nach der Devise aufgegeben: »Herr Löw, äh, eine kritische Frage, besser als Ihre Mannschaft kann man nicht spielen...«

Gelingt dies einer anderen Mannschaft doch, hört es sich an wie bei Xabi Alonsos Kopfballtreffer zum 1:0 von Spanien gegen Frankreich: »Das hätte Mario Gomez nicht schöner machen können« (ARD-Kommentator Tom Bartels). Bartels war im Viertelfinale ständig damit beschäftigt, die Spanier mit den Deutschen zu vergleichen. Als hätte dies einen Sinn, solange sie nicht gegeneinander spielen. Spürbar ist die Gier der Kommentatoren, sich an Erfolge ranzuschleimen, das »eigene« Team zu hofieren. Deshalb hört das Publikum in Fußball- und Politiksendungen kaum noch etwas anderes als populistische Parolen nach dem Motto: Wir sind Europameister in allen Disziplinen. In der Wirtschaft sowieso. Im Plattdeutsch der neuen TV-Sprache ist es mindestens »überragend« oder »sehr, sehr gut«, wenn irgendwo ein Ball »durchgesteckt« wird.

Wie gedankenlos Politik und Fußball verquickt werden, zeigen die »Tagesthemen« der ARD. Dem Moderator Ingo Zamperoni gelang in der Halbzeitpause des Spiels Spanien gegen Frankreich eine assoziative Meisterleistung, als er die Sendung mit dem Satz startete: "D e r Treffer soll keine Absicht gewesen sein.« Gemeint war der Abschuss eines türkischen Flugzeugs durch syrische Militärs. Wäre im Anschluss ein jubelnder Hosenanzug namens Angela Merkel von der Stadiontribüne eingeblendet worden, hätte sich keiner gewundert.

Für den Fußballliebhaber ist es schwer, bei dieser Art Berichterstattung am Ball zu bleiben. Das Problem in erster Linie sind nicht Katrin Müller-Hohensteins Kinderspäße mit Olli Kahn am Strand von Usedom. Wenn eine Moderatorin glaubt, sie müsse mit einem aufblasbaren Gummi-Baseballschläger herumspielen, hat das nichts mit dem Sexismus in »Waldis Studio« zu tun. Dennoch erträgt der TV-Kunde aus fußballerischen Kompetenzgründen sogar Waldemar Hartmanns Herrenwitze leichter.

Ohnehin kann man auf die ganze Begleitmusik verzichten, etwa wenn Reinhold Beckmann im Duett mit Mehmet Scholl ein neues Stadion der Ukraine den Orden »Schmuckkästchen« umhängt, als verdiene er sein Geld beim Buxtehuder Kleintierzüchterradio. Wie gesagt, solche Szenen im »Analyse«-Block der unablässig um Party- und Bierzeltstimmung bemühten Seichtheitsanstalten lassen sich ausblenden. Dank Fernbedienung muss sich sehenden Auges, egal ob Erstes oder Zweites, keiner pausenlos fragen lassen: Wollt ihr das totale Glück?

Eine Beleidigung für den wachen Fußballliebhaber sind viel mehr die Fehlleistungen, Unterlassungen und Manipulationen während der Spiele. An Zensur – nicht gezeigte politische Botschaften oder Flitzer im Stadion – haben wir uns anscheinend schon klaglos-deutsch gewöhnt, und getürkte Live-Bilder wie bei Jogi Löws Balljungen-Schubser zur Steigerung des Wohlgefühls sind wohl die Zukunft. Vollends peinlich aber wird es, wenn der ARD-Kommentator Steffen Simon lange nicht merkt, dass Italien das bessere Team im Spiel gegen England ist. Da ist einem die Londoner Zeitung »The Sun« nach dem Aus der Engländer ein Trost: »... niemand kann bestreiten, dass am Ende das richtige Team gewonnen hat. Lasst uns Tennis gucken.«


23.06.2012
Spiel mir das Lied vom Tor
 

Neunzig Minuten vor Spielbeginn ist der Laden überfüllt. Beamer, Leinwände, Fernsehschirme, kostümierte Menschen. Diesmal habe ich wieder die klassische Fußballkneipe gewählt, gewissermaßen den Rock’n’Roll-Club, den Kick.

Das Schlesinger, in der Nähe der Börse in der Schlossstraße, ist das Naturtheater des kollektiven Fußballrauschs. Es gibt ein Draußen und Drinnen, die Rauchertribüne unter freiem Himmel, und den Gastraum: die Geschlossene für den Wahnsinn.

Absichtlich habe ich das Griechenklischeelokal gemieden. Die Medien haben alle Euro-Zonen platt getrampelt, alle Griechspuren breit getreten. Wahrscheinlich taugt auch die griechische Tragödie inzwischen als TV-Kalauer. Özil oder Ödipus, egal.

Ohnehin gibt es einen großen Fernsehlabereintopf. Politik und Fußball werden nach dem Usedomer Ostsee-Modell verwässert. Die Kanzlerin zieht mit gleicher »breiter Brust« in den Finanzkrieg wie das deutsche Team ins Viertelfinale. Im Dienste seichter Unterhaltung, politischer Ablenkung, wird der ZDF-Sandstrand als Analysestation für Dünnpfiffprobleme zum Maß aller Dinge. Manipulierte Live-Bilder gehören seit dieser EM zum Alltag.

Doch noch gibt es das Spiel, diese ernsthafte Sache. Die Kneipe ist ein Ort der Sehnsucht, irgendwie, auf Teufel komm raus, an diesem Spiel teilzunehmen. Schwer zu sagen, ob an den Biertischen nur Fernsehen stattfindet. Man weiß es nicht genau: Spielen die Menschen »Wir sind im Stadion«, oder glauben sie, auf der Tribüne zu sitzen. Kneipenfußball ist vorweggenommenes Leben im Virtuellen. Großes Kino.

Es wäre nicht falsch zu behaupten: In der Fußballkneipe geht es lauter, direkter zu als im Stadion. Eingedoste Emotionalität.

Das deutsche Team macht, was alle erwartet haben, es versucht das griechische Bollwerk zu überrennen. Beim Tippen in der Kneipe höre ich (zum Glück) keinen Kommentator, ich sehe (leider) wenig vom Spiel, ich folge den Reaktionen des Publikums. Es scheint möglich, die Bewegungen auf dem Spielfeld zu erlauschen. Und es gibt Augenblicke, da scheint eine Stille einzukehren, als sei ein Unglück geschehen. Die Schreie folgen, Antwort auf eine verpasste Chance. Es muss, folgt man dem Sound der Kneipe, heute viele verpasste Chancen geben. Und das Publikum sendet seine Signale, immer im Bewusstsein, das Spiel aus der Ferne zu beeinflussen. »Auf geht’s Deutsche, schießt ein Tor«, singen sie. Und das ist die pure Wahrheit: Sie singen, sie singen laut, sie singen fast verzweifelt, und in dieser Phase trifft Lahm ins Lattenkreuz. Jeder weiß, dass er ohne die Gesänge im Schlesinger nicht getroffen hätte. So geht Kneipenfußball, das Theater wiedererwachter Kindheit. Sehr ernst. Und deutsch: In der Pause läuft kurz »Griechischer Wein«, und man hört das Kreischen junger Mädchen, während neue Bierbecher die Tische füllen.

Neben mir sitzt Kosta, 48, gebürtiger Grieche, Systemingenieur, »fanatischer Fußballanhänger«. Er schaut Fußball im Schlesinger »wegen der Toleranz«. Trikot, Fahne: kein Problem. Kosta sagt, die deutschen und die griechischen Medien hätten das Spiel »auf ärgerliche Weise politisiert«. Er wünscht sich, der Fußball könnte über die Politik siegen. Und er sagt, sein Herz könne an einen griechischen Sieg auch dann glauben, wenn ihm der Verstand sage, dass Griechenland verliert. Sekunden später macht Samaras das 1:1.

Das Publikum singt wieder, kaum einer wird mir glauben, es ist das Lied vom Tor. Khedira hat gute Ohren. Es steht 2:1. Das Fernsehen zeigt die jubelnde Kanzlerin, was für eine deutsche Motorik. Ein Mensch (ein Hosenanzug) außer sich. Gott schütze Klose, er löscht dieses Bild. 3:1. Das ist der Moment, wo die Party beginnt, wo die Anspannung einer Lust auf Mehr weicht.

Das Ding ist gelaufen, Kosta irgendwo im Getümmel abgeblieben. Er weiß, dass sein Herz gegen den Verstand verloren hat. Der bessere Fußball hat gewonnen, womöglich auch das schöne Spiel. Reus macht das 4:1, liefert ein wenig Extrastoff für die Party der Sieger. Elfmeter. 4:2. Na und. Es ist die Nacht zum Samstag, das Wetter ist gut, und das irre Spiel geht auf den Straßen weiter.


18.06.2012
Die Klasse bei ruhenden Bällen



Am Sonntagabend war sich der ARD-Kommentator Tom Bartels schon nach dem 1:0 der Deutschen gegen die Dänen sicher: »Es sieht gut aus für das Ziel EM-Titel.« Man lernt: Wie ein Marketingfritze präsentiert er seine Ware ergebnis- und zukunftsorientiert. Das Spiel selbst ist nicht so wichtig.

Kino und Fußball, hat uns das Leben gelehrt, wurden von Männern erfunden, um Männer zu trösten. Hätten die Pioniere geahnt, wie ihnen später mal Katrin Müller-Hohenstein Fußball im Fernsehen präsentiert, hätten sie sich mit der Entwicklung der Wasserbombe beschäftigt. Inzwischen haben die Kalauer-Beauftragten so viele Witze über den Fauxpas de deux der ZDF-Wanderdüne mit dem ehemaligen Bayern-Torwächter Oli Kahn vom Stapel gelassen, dass wir Usedom verlassen und uns dem Fußballsport widmen können. Als ich neulich bei der EM-Übertragung im ZDF die Regenbilder sah, dachte ich schon, Gott strafe das ZDF mit einer Sintflut auf der Ostsee-Insel. Er hatte aber versehentlich die Fußballer der Ukraine und aus Frankreich erwischt. Doch jeder Sturzbach am Spielort trägt mehr zur Erbauung bei als die Wortflut des ZDF-Reporters Wolf-Dieter Poschmann. Der verwechselt Fußballer mit Langläufern und erzählt uns, der ukrainische Trainer habe Schewtschenko beim Auswechseln nicht abgeklatscht, weil er »gedanklich mit dem Halten des Remis beschäftigt war«. Keiner weiß, wer Poschmann gerade abgeklatscht hatte. Schewtschenko hatte zuvor das 2:1 erzielt.

Solche Fehler sind menschlich im Live-Stress. Richtig Durchblick zeigte wiederum Bartels, als er den Iren in der Partie gegen Spanien bescheinigte: »Sie können bei ruhenden Bällen ihre Klasse einbringen.« So intim wollte man es gar nicht wissen.

Das Gelaber über Sinn und Zweck der spanischen Kurzpasskunst fand erst ein Ende, als Irlands famose Fans am Ende minutenlang »The Fields Of Athenry« sangen. Da merkte sogar Bartels, warum Schweigen Gold ist. Zuvor hatte er neben seinen taktischen auch seine anatomischen Kenntnisse eingebracht: »Erstaunlicherweise hat Iniesta hinten keine Augen. Wer hätte das gedacht?« Hätte der ARD-Pathologe selbst mal nachgedacht, wäre ihm aufgegangen, warum Iniesta auch ohne Augen mehr sieht als Bartels mit Hilfe Dutzender Kameras. Der spanische Virtuose mit seiner phänomenalen Fußballintelligenz fände dank seiner großartigen Motorik und unnachahmlichen Ballannahme die Laufwege seiner Kollegen jederzeit auch blind.

Schlimm an den Fernsehbeiträgen dieser EM ist nicht allein das Missverständnis, man könne dem Zuschauer Fußball in ähnlichen Billigshows näherbringen wie Schlagerschnulzen dem Butterfahrten-Publikum. Ärgerlich ist, wenn Kommentatoren nicht in der Lage sind, die Reize und Geheimnisse eines Spiels zu erklären. Meist versteifen sie sich darauf, Szenen wie Punktrichter zu werten: »Mängel auf beiden Seiten« (Oliver Schmidt, ZDF). Geht es aber ans Eingemachte wie bei der Betrachtung der spanischen Philosophie von Arbeit (blitzschnelle Balleroberung) und Spaß (grandioses Kurzpassspiel dank einzigartiger Ballbehandlung), kommen nur erzkonservative Bedenken (»nicht effektiv«) und dumme Wortspiele: »Tiki Taka gegen Tipp-Kick« (Matthias Opdenhövel, ARD).

So ist es nicht weit zu »Waldis Club«. In diesem Sackbahnhof für »Schland«-Schreier glaubt die ARD bis heute, Fußball lasse sich mit Humorkrücken wie dem Imitator Matze Knop oder geschwätzigen Salon­Rockern wie Campino »witzig« aufbereiten. Fußball taugt als Sujet so wenig für Comedy-Quatsch wie bierseliges Stammtisch-Gerülpse für TV-Kameras. Ein lausiges Verständnis von Fernsehunterhaltung.


17.06.2012
Dänemann

Nach der Weltmeisterschaft 2006 hatte ich mir geschworen, das F-Wort so schnell nicht mehr in den Mund zu nehmen. Fußball war vorbei, es war genug. Dann aber gab es, noch bevor Iniesta und Spaniens neue Weltfußballkunst die Erd-Kugel in den Schatten stellten, Handlungs­bedarf In weiten Kreisen der Bevölkerung herrschten nach der WM 06 große Lücken beim Versuch, den Begriff »Dänemann« historisch korrekt zu interpretieren. Es gibt also einiges zu klären, bevor die Deutschen am Sonntag gegen die Dänen spielen.

Das Problem hatte ich kurz nach dem WM-Finale zwischen Italien und Frankreich erkannt. Kaum war Zidane, der Göttliche, vom Platz geflogen, bat ich eine Kollegin im fernen Rom per SMS um sofortige Aufklärung: Was hatte der italienische Spieler Materazzi zu seinem französischen Gegner gesagt, damit dieser beinahe den Kopf verloren hätte?

Die Antwort kam prompt: Wie sie ihre Pappenheimer kenne, meldete Signora, habe Materazzi den großen Zidane mit einer in Italien traditionsreichen Allerweltsbemerkung gegrüßt: »Deine Mama ist eine Berber-Hure.« Unter diesen Umständen, schrieb ich zurück, hätte Zidane seinen entschieden höher ansetzen müssen. Umgehend piepste wieder mein Handy, die Kollegin wollte wissen: »Was zum Teufel ist ein Dänemann?«

Der Reihe nach. Ganz sicher ist der Dänemann kein Begriff aus der »Fußballersprache«, wie in verschiedenen Einträgen im spärlich bestückten Internet behauptet wird. Im November 2005 berichtete eine Reporterin der »Westdeutschen Zeitung« über einen Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht. Es ging um einen Spieler, der in der Kreisliga-D-Partie FC Gerresheim gegen TV Grafenberg einen Gegner außer Gefecht gesetzt hatte. Und zwar so nachhaltig, dass der Grafenberger Spieler noch ein Jahr später eine Schraube im Schädelknochen mit sich herumtrug. Der Staatsanwalt, meldete die Reporterin, habe von einem »Dänemann« gesprochen. Der Dänemann, und diese Falschaussage geht ganz klar auf das Konto des Staatsanwalts, stehe »in der Fußballersprache« für eine »Kopfnuss«.

Als gelernter Nichtjurist und ehemaliger Hobby-Boxer im Eintagsfliegengewicht weiß ich: Das ist kompletter Bullshit. Eine Kopfnuss wird in der Regel mit den Knöcheln einer zur Faust geballten Hand am Kopf des Gegners platziert; früher hatten diese unwürdige Technik vor allem verknöcherte Schullehrer mit Nazi-Vergangenheit parat. Ich weiß, wovon ich rede. Hätte man mir diese Kopfnüsse erspart, müsste ich heute keine Kolumnen tippen.

Was ein Dänemann wirklich ist, kann Ihnen jeder erfahrene Junge aus der Stuttgarter Altstadt erklären, bei guter Führung des Interviewers auch mal ohne schmerzhaften Anschauungsunterricht. Der Dänemann gilt als Klassiker im Duell verfeindeter Männer im Rotlichtmilieu, er wurde schon vor der Erfindung der Thompson Gun und des Pitbulls eingesetzt. Das war zu einer Zeit, als man in der Stadt noch nicht Spenden für reklamesüchtige OB-Kandidaten sammelte, sondern aus Gründen der Ehre Kollekten für in Not geratene Banditen organisierte.

Bei einem Dänemann trifft die Stirn des Angreifers den Kopf des Gegners, in der Regel die Stirn – oft so hart, dass der Attackierte schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden muss. Nur bei guter Laune gibt sich der Angreifer mit einem handelsüblichen Nasenbeinbruch zufrieden.

Portugals Fußballgott Figo beispielsweise setzte bei der WM 2006 gegen den Holländer van Bommel einen leichten Dänemann an – dermaßen defensiv, dass man ihn als ehrfurchtsvolle Verneigung vor einem Fußballbehinderten deuten konnte. Van Bommel aber hob umgehend ab wie ein bekiffter Trampolinspringer. Figo sah deshalb zu Unrecht die Gelbe Karte.

Völlig neu an Zidanes Dänemann im Spiel der Franzosen gegen die Italiener war auf jeden Fall die technische Ausführung: Er stieß, nach einigen Metern Anlauf im Stil eines spanischen Kampfstiers, mit seinem fein geformten Charakterschädel nicht etwa gegen Materazzis weiche Birne. Er traf dessen Macho-Busen.

Einen ähnlich harmlosen Dänemann hatte ich nie zuvor gesehen. Erst recht nicht in der Stuttgarter Altstadt. Dem ordnungsgemäßen Dänemann des Luden folgte normalerweise auf dem Fuße Salamander. Dabei handelt es sich um einen Tritt mit dem Stiefelabsatz gegen das am Boden liegende Dänemann-Opfer. Am besten in den Bereich der vorderen Jacketkronen. Davon war im Fall Zidane nichts zu sehen, die Rote Karte gegen ihn deshalb unbegründet.

Damit ist nur noch eine Frage offen. Leider, werte Sportsfreunde, ist bis heute nicht geklärt, warum der Dänemann Dänemann heißt. Die Fachwelt behauptet, ein Däne habe ihn erfunden.

Gott schütze Dänemark. Gott rette die Altstadt.


14.06.2012
Wenn Buchstaben nicht wie Gomez tanzen


Naturschauspiel auf der Prag, der Biergarten in der Backsteinkulisse des Theaterhauses. Wir sitzen unter dem Kirschbaum, und wenn es nicht regnet, haben wir gewonnen: die Chargen und Claqueure am Biertisch. Aber Sieger sehen anders aus.

Neben mir Buffy, der Kassenmann der Bühne, dunkelroter VfB-Fan, heute gibt er den Einzylinder, hat ein schwarz-rot-goldenes Filzrohr namens Hut auf dem Kopf. Logisch, dass der Regen einsetzt, aber das ist nicht das wahre Übel. Wer Frau Müller-Hohenstein und Herrn Kahn, die sprechenden Wanderdünen von Usedom, gesehen hat, hat gelernt, was Synchronstörungen sind: Lippen bewegen sich, doch man hört keine Stimme (was oft besser ist).

Die Nummer mit der defekten Synchronisation gefällt auch meinem Laptop: Ich haue auf irgendwelche Tasten, vielleicht auf die fünf Buchstaben des Herrn Gomez, und sie tauchen zeitversetzt uns so spät auf dem Bildschirm auf, als hätte sie der Mann vom Mond zur Erde gekickt. Maschine kaputt.

So geht die schöne Idee vom Fußballtheater auf der Prag in die Hosen. Das ist kein verdammtes Künstlerpech, das ist der Fluch der Technik. Ich schließe den Deckel des Laptops, als wäre er ein Sarg, besorge mir ein Taxi und fahre nach Hause. Erstaunlich, wie normal das Leben in der Stadt weitergeht, fünf Minuten vor dem Anpfiff, aus­gerechnet vor diesem ewig anderen Spiel der Deutschen gegen die Holländer, wo man über Generationen hinweg das Gefühl hatte, in jeder Partie ginge es um ein Drama von Schuld und Sühne, von Verzeihen und Vergessen. Fußball ist auch eine Brücke.

Das Spiel läuft schon, das kann ich im Autoradio hören, und es sind Menschen mit einer Gelassenheit auf den Straßen, als hätten sie von Gomez nie gehört. Den Laptop, diesen Versager, unterm Arm, stürme ich meine Bude, werfe eine andere Kiste und den Fernseher an, und dann sehe ich diesen denkwürdige Gomez-Tanz im Strafraum: Da dreht einer sein Ding, einer, dem sie vorgeworfen haben, sein Körper besitze die Motorik eines Pflegefalls. Dieser Mann macht das 1:0, er macht das 2:0, und in Erinnerung an mein geplatztes Fußballtheater rufe ich in der Halbzeit »Caveman« an. Oben auf der Prag sitzen sie vor der Leinwand, der Bühnenchef Werner Schretzmeier und die Fußball-Crew, darunter der Schauspieler Martin Luding. Eintausendsiebenhundert Mal hat er auf der Bühne den »Caveman« gegeben, oft genug selbst die Fußballschuhe in der Sporthalle des Theaterhauses getragen, und jetzt schwärmt er von diesem denkwürdigen Akt von Moral und Gerechtigkeit auf dem Fußballplatz: »Sie haben versucht, Gomez fertig zu machen. Sie haben ihm verspottet, ihm fehle das Spielerische. Und jetzt beweist er, dass er ein großer Spieler ist.«

Es ist ein seltsames Gefühl, mit einem kleinen Computer vor dem Fernseher zu sitzen, die hilflosen Schreie des Kommentators zu hören, sie klingen, als hätten sie mit dem Spiel nichts zu tun. Synchronisationsstörungen sind nicht immer eine Frage der Technik. Wer dem Kommentator folgt, versteht selten, was er meint. Die deutschen Kommentatoren von heute beschreiben immer seltener den Fußball von heute. Der Ball ist ihnen davongeflogen, in ein neues, anderes, schnelles Spiel.

Im Stadion ist es heiß, ich habe die Fenster meiner Bude geöffnet, ein Mann und eine Frau mit Hund gehen die Straße entlang. Es regnet nicht mehr, und dem Hund ist es egal.

Meine Theater-Vorstellung hat nicht hingehauen, der Vorhang ging nicht auf, Buchstaben kann man nicht zwingen, nach meiner Pfeife und wie Gomez zu tanzen. Was für eine Pleite am Abend, peinlich wie verstolperte Bälle ohne Gegenspieler.

Das Spiel geht weiter, es geht immer weiter, und die Holländer machen ein Tor. Der Kommentator erzählt etwas von einem »heillosen Durcheinander«, und das sagt man, wenn man nicht erkennt, warum etwas geschieht. Wäre ich unter dem Kirschbaum geblieben, und hätten die Buchstaben gemacht, was ich will, wäre das Spiel anders gelaufen. Aber nur für mich. Ende.


12.06.2012
Gott lenkt, der Fuß denkt


In der guten alten Fußballzeit, als es noch Angriff und Abwehr gab, war es Nationalsport, Kommentatoren wie Heribert Faßbender (ARD) oder Dieter Kürten (ZDF) bei Turnieren mit Häme zu überschütten. Heute sind solche Tacklings fast überflüssig. Seit sich das verbliebene TV-Publikum im ­Seniorenstiftalter an das Talkshow-Gelaber von Jauch und Lanz, Illner und Maischberger gewöhnt hat, erwartet man nicht aus­gerechnet von EM-Kommentatoren Glanzlichter des Entertainments.

Außer von Béla Réthy. Dem ZDF-Mann gelang es, Barças Spielergenie Iniesta in der Partie gegen Italien mit dem Pathologenmesser zu sezieren: »Er denkt mit dem Fuß.«

Bei solchen Sätzen muss es einen nicht erst auf den Allerwertesten setzen, um zu ahnen, wer Réthys Denken lenkt. Iniestas Kollege Xavi hat mal in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« erklärt, was den Unterschied von Barcelonas Spielauffassung zur Philosophie anderer Clubs aus­macht: In seinem Team, sagte er, begriffen alle Spieler »das Warum«. Die Frage nach dem Warum spanischer Fußballkunst beantwortet Réthy erneut mit gewohnt analytischer Schärfe: Er sah »Kurzpässe wie in der Besenkammer«. Vermutlich ist von dieser Enge etwas hängen geblieben, seit Boris Becker an diesem Ort den Kürzeren zog.

Aus welcher Epoche der besser Sehende vom Zweiten stammt, war vollends klar, als Réthy im famosen Spiel der Italiener »die Renaissance des Catenaccio« entdeckte. Er muss sich gefühlt haben wie damals, als der Italo-Riegel berühmter war als Snickers.

Wie gesagt, diese im Stress formulierten Sprüche sind heute nichts Besonderes. Als TV-Gast ist man dankbar für jede Art Euro-Aufklärung, auch für diese: »Italien«, sagte Réthy, »ist nicht bereit, sich vorführen zu lassen.« Diesen wahren Kern italienischer Strategie begriff ich endgültig, als der ZDF-Kollege Oliver Schmidt im Spiel der Iren gegen die Kroaten beinahe das Mikro verschluckte: »Das ist ein anderes Spiel, als wir erwartet haben.« So sieht’s aus.

Man möchte bei Gott kein Spielkommentator sein. Der geplagte Fußballmann wähnte sich lieber mit der ZDF-Nixe Katrin Müller-Hohenstein am Strand von Usedom, bei der neuen Unterwasser-Variante des »ZDF-Fernsehgartens«. Eigentlich gehört es sich nicht, über die Strandkörbchen-Größe von TV-Frauen zu lästern. Aber Klamottenschelte hat eine Berechtigung, wenn die Dame ihr Geld vor Staatskameras verdient. Frau Müller­Hohenstein stand im unsäglichen EM-Magazin des ZDF so windgebeutelt herum, als müsste sie in weißen Jeans und pinkfarbenem ­Jackett den lebenden Leuchtturm einer Salzwasser-Soap für Hinterwäldler geben.

Diese Rolle irritierte offenbar auch die Technik: Die Moderatorin entschuldigte sich, weil der Ton im Fernsehen »anders kommt, als sich die Lippen bewegen«. Dieses Phänomen erlebt man in ihrem Fall allerdings nicht nur bei flacher See.

Neben seiner Beachparty-Partnerin hatte es der ehemalige Torhüter Oliver Kahn nicht leicht, sich als gelernter Turm in der Schlacht auch im Fachdialog zu behaupten. Nachdem sie »ordentlich« und »wie es sich gehört« guten Tag gesagt, nämlich ein fröhliches »Halli, Hallo, Hallihallo« in der nächstbesten Windhose versenkt hatte, löste Frau Müller-Hohenstein Alarmstufe eins aus: Im Spiel der Deutschen gegen die Portugiesen, eingespielte Bilder bewiesen das Verbrechen, hatten Fans Papierrollen zur Eckfahne geworfen. Zwar bemühte sich Kahn umgehend, die Sprechmuschel von Usedom zu besänftigen. Doch als er versuchte, die Papierflieger-Gefahr mit dem Hinweis zu relativieren, Sepp Maier habe sogar mal ein Messer im Strafraum überlebt, war es um sie geschehen: »Das«, konterte sie, »ist nicht lustig.« Aber hallo. Ein Messer steckt schneller im Fuß, als er denkt.



Foto: Andrés Iniesta
by Creative common license
Christopher Johnson


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

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