Die EM-Kolumne
Von Joe Bauer
Seine Kolumnen erscheinen regelmäßig bei den
Stuttgarter Nachrichten |
02.07.2012
»Ein Fiasko,
wenn wir auf unseren Stil verzichten würden.«
(Andres Iniesta)
Es lässt sich endlos darüber streiten, ob
Fußball der demokratischen Aufklärung dient oder der Ablenkung von politischen
Verhältnissen. Die Diskussion darüber aber ist so ergiebig wie die Frage, ob
Musik eine Revolution zum Sieg führt. Wer sich die EM von Waldemar Hartmanns
Lachsäcken im Leipziger Bahnhof und Katrin MüllerHohensteins
Strandliegen-Tratsch mit Olli Kahn im Usedomer Feuchtgebiet näherbringen ließ,
hat seinen Fußballhorizont womöglich nicht entscheidend erweitert.
Zum Glück stand auch andere Begleitmusik zur Verfügung. Rechtzeitig zur EM
hatte der ukrainische Dichter Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, bei Suhrkamp das
Buch „Totalniy Futbol“ herausgegeben. Darin äußert er die Hoffnung auf einen
Sieg des Fußballs über die Politik – und den Wunsch, dass für all die in seinem
Land, die an den „totalen Fußball“ glauben, „diese Meisterschaft eine wunderbare
Gelegenheit zur Vereinigung und Verständigung werden wird. Was hätte sie sonst
für einen Sinn?“
Diese
Frage lässt sich aus der Ferne nicht beantworten. Der Fußball allerdings
erreicht bereits so viel wie manche politische Demonstration, wenn er Fragen
aufwirft. Im erwähnten Buch, in einem Text über den 2002 verstorbenen Trainer
Walerij Lobanowski, finden sich diese Zeilen von Juri Andruchowytsch: „Fußball
ist eine Fata Morgana. Du strebst dem Ziel zu, das du dir gesetzt hast, aber
kaum ist es erreicht, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass es dir nur so
schien, als hättest du es erreicht. Denn alles ist schon wieder zerronnen.“
Damit sind wir in der dominierenden Diskussion über die EM 2012. Pausenlos
kritisieren Kommentatoren den fantastischer Fußball von Xavi, Iniesta & Co mit
der hilflosen Floskel: „Spanien nervt.“ Das Gefühl, „dass ein lange großartig
anmutendes Modellbeispiel des modernen Kombinationsfußballs seine besten Tage
hinter sich hat“, sei „jetzt schon unabweisbar“, schrieb die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“.
Wegweisende Kunst wird oft mit überheblicher Ablehnung bestraft, sobald sie
ihren revolutionären Kick hinter sich hat. Das Totschlagargument gegen Spaniens
Fußball heißt „Langeweile“. Vermisst werden Wucht, Körperlichkeit, Torschüsse.
Vielen ist Spaniens Spiel wohl auch ein Ärgernis, weil es, anders als die
Kreisklasse-Komik in „Waldis Club“, kein „Das können wir auch“-Gefühl beim
Partyvolk zulässt.
Der spanische Trainer Juan Manuel Lillo, Lehrmeister von Barças Ex-Trainer Josep
Guardiola, sagt: Das Problem sei, „dass die meisten Menschen den Fußball
betrachten, als ob man ihn in Kapitel aufteilen müsse. Wir müssen uns im Fußball
von Begriffen wie Angriff und Verteidigung lösen. Angriff und Verteidigung
existieren nicht. Das sind Hilfsbegriffe, die wie aus kollektiven Sportarten
entlehnt haben, die mit der Hand gespielt werden. Aber im Fußball kannst du den
Ball eben nicht festhalten.“
Also haben Spaniens Trainer neue Formen der Ballannahme, der Balleroberung und
der Spielübersicht entwickelt. Diese Technik ermöglicht kurze Pässe und einen
immensen Druck auf den Gegner. Der Fan mag Torschüsse vermissen. Dem
konzentrierten Fußballliebhaber eröffnen sich die Reize brillanter Spielordnung.
Der Spieler Iniesta, ein vollkommener Fußballer, sagt: „Eine Niederlage ist
niemals ein Untergang. Ein Fiasko wäre es, wenn wir auf unseren Stil verzichten
würden, wenn wir nicht mit unseren Waffen kämpfen, das Feld nicht leer vor
Anstrengung verlassen würden. . . doch das wird nicht geschehen.“ Diese Worte
erklären den Unterschied zwischen Spaniens in Jahrzehnten gewachsenem Fußball
und herkömmlichen Taktiken. Die Trainer anderer Nationalteams haben eine
„Philosophie“: Sie realisieren (wie Löw gegen Italien) eine auf den Gegner
ausgerichtete Strategie. Die Spanier dagegen haben eine Haltung. Mit ihrer
einzigartigen Balltechnik machen sie kompromisslos ihr Ding. Das ist Kunst.
Dass es im Fußball mit seinen Zerstörungstaktiken keine Erfolgsgarantie gibt,
auch nicht für die Spanier, ist zum Glück eine Binsenweisheit. Auch gute
Künstler haben schlechte Tage. Im Übrigen steht es jedem Team auch in Zukunft
frei, die Furia Roja mit einer spannenden, spektakulären Leistung, mit totalem
Fußball zu besiegen.
Das gilt auch für das deutsche Team. Folgte man der Propaganda von ARD und ZDF,
war die Finalniederlage der spanischen Langweiler gegen Löws Jugend-forscht-Team
programmiert. Welche Gnade, dass die Italiener dazwischenkamen.
Die Azzurri stehen nicht für Kunst. An die Hollywood-Grandezza von Typen wie
Pirlo und Balotelli denkt man dennoch mit Freude zurück. Womöglich aber ist
schon morgen der Tag, an dem alles zerrinnt.
28.06.2012
Balotelli oder Punk pur
Dorthin, wo
alles anfing. Zum Gastwirt Andreas Göz. 1997 hat er das Ackermanns an der Ecke
Schwab-/Bebelstraße eröffnet, eine der ersten echten Fußballkneipen in der
Stadt. Treffpunkt für VfB-Fans, für Leute aus der Nachbarschaft. Heute führt er
die Kneipe Maulwurf in Vaihingen.
1998, bei der WM in Frankreich, saßen wir zum ersten Mal zusammen vor der
Leinwand: ein altes Leintuch. Der Sony-Beamer war fast so groß und schwer wie
ein Kühlschrank, das Bild schlechter als in den Anfängen des Kintop. Man musste
das Lokal verdunkeln, sonst hätte man das Spiel auf der Leinwand nicht einmal
erahnen können. Es war diese denkwürdige WM von Frankreich. Das deutsche Team,
von Berti Vogts trainiert, flog im Viertelfinale gegen Kroatien mit 0:3 aus dem
Turnier. Ein Skandalspiel, der Dortmunder Wörns sah Rot, Trainer Vogts faselte
hinterher etwas von einer Weltverschwörung. Der Torhüter Köpke und die Stürmer
Klinsmann und Bierhoff waren dabei. Acht Jahre später sollten sie als Trainer
und Manager des DFB-Teams eine Rolle spielen.
Da waren aufgerüstete Fußballkneipen bereits in Mode. Andreas Göz, 49, war ein
Pionier; er hatte einen Bildschirm auch auf der Kneipentoilette installiert.
2006, beim deutschen »Sommermärchen«, als es schon den idiotischen Begriff
Public Viewing gab, kamen ausländische TV-Teams, um das Stuttgarter Fußballklo
zu dokumentieren.
2006, das WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien. Ein gewisser Pirlo,
mit der Ausstrahlung eines Rockstars, besiegelt mit seinem Genie-Pass auf Grosso
kurz vor Ende der Verlängerung das Aus des DFB-Teams. Man spricht von der
»Tragödie von Dortmund«. Auch damals saßen wir vor der Leinwand, einer
amtlichen.
Jetzt, am Abend des 28. Juni 2012, haben wir wieder vor der Leinwand Platz
genommen. Vaihingen, Stuttgarter Tribünenlage. EM-Halbfinale. Alle reden von der
Revanche. Deutschland gegen Italien bei einem Turnier, weiß der Teufel, immer
ist es das »Jahrhundertspiel«. Einige Dinge haben sich nicht verändert. Während
der Nationalhymnen krachen die Sounds von AC/DC aus den Boxen. Die Schallmauer.
Der Party-Patriotismus mit seinen nationalistischen Tendenzen war nie das Ding
echter Fußballkneipen. Im Maulwurf herrscht, trotz der deutschen
Anfangsoffensive, eine Andächtigkeit. Respekt vor dem »Klassiker«, kein
Hurra-Geschrei. »Bei uns dominiert das Interesse am Fußball, Hysterie ist
woanders«, sagt der Wirt. Als herrschte, immer wieder stößt man auf dieses
Kneipenphänomen, eine Vorahnung, in dieser merkwürdigen Stille vor der Leinwand.
Es liegt etwas in der Luft, und dieses Etwas riecht heute nicht nach Sieg.
Balotelli macht das 1:0, und mir scheint, als könnten wir den Jubel aus der
Pizzeria Harmonie hören. Sie ist achthundert Meter entfernt.
Bei früheren Turnieren saßen wir in Mannschaftsstärke am Biertisch,
kommentierten das Spiel, und nebenbei klapperte die Laptop-Tastatur. Heute ist
mein Bedarf gedeckt, wenn uns der ARD-Kommentator erzählt, es sei nicht das
»Spezialgebiet« eines Verteidigers, »eine Flanke zu schlagen«. Als wären wir
noch bei Berti Vogts und unserem Betttuch an der Kneipenwand.
Als Balotelli das 2:0 erzielt, sagt der Wirt: »Das ist Fußball.« In meiner
Nachbarschaft höre ich ein lautes »Scheiße«. Pause. Aus den Boxen dröhnt
Punkrock, und ich weiß nicht, ob man damit den Italo-Fluch vertreiben kann.
Balotelli ist Punk pur. Beginnt der Rock’n’Roll? Aufholjagd auf dem Platz.
Fiebrige Hoffnung in der Kneipe. Es ist schwül. Der Wirt setzt seinen Hund
Gustav als Glücksbringer unter unseren Tisch. Gustav ist offizielles
VfB-Mitglied, angeblich als einziger Dackel im Verein.
Man sieht die Gesichter von Pirlo, von Buffon, und es wird klar, wer die Zocker
sind, wer die Männer mit Erfahrung. Elfmeter. 2:1. Wieder ein Wahnsinnsfinale?
Nein. Hut ab vor den Abgeklärten, Respekt vor den Italienern.
In der Kneipe
läuft »You’ll Never Walk Alone«.
Ciao.
27.06.2012
Der Treffer war keine
Absicht
Der eigentliche Grund, sich über das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu ärgern,
ist nicht die Gebührenpflicht. Schlimm ist, was man dem Kunden für sein Geld
vorsetzt. Der Kunde von ARD und ZDF kann den medialen Fast-Food-Buden ja nicht
einfach entfliehen wie dem Goldenen Lamm oder dem Schwarzen Adler, wenn ihm beim
Verzehr der Ware schlecht wird. Das Schweizer Fernsehen böte sich als
Alternative an, aber so versnobt will man als Nichtschwarzgeldbesitzer dann doch
nicht sein.
Übers Fernsehen zu schimpfen ist ein alter Sport. Inzwischen aber geht es nicht
mehr um den Esprit der »Guten Abend allerseits«-Nachtwächter vom Schlag der
Faßbenders und Hubertys. Die heutige Fußballberichterstattung hat eine
politische Dimension. Die Fußballbericht-Bestattung, wie sie die Kalauerfraktion
nennt, hat sich der politischen angeglichen. Die Kommentierungen haben jede
journalistische Pflicht nach der Devise aufgegeben: »Herr Löw, äh, eine
kritische Frage, besser als Ihre Mannschaft kann man nicht spielen...«
Gelingt dies einer anderen Mannschaft doch, hört es sich an wie bei Xabi Alonsos
Kopfballtreffer zum 1:0 von Spanien gegen Frankreich: »Das hätte Mario Gomez
nicht schöner machen können« (ARD-Kommentator Tom Bartels). Bartels war im
Viertelfinale ständig damit beschäftigt, die Spanier mit den Deutschen zu
vergleichen. Als hätte dies einen Sinn, solange sie nicht gegeneinander spielen.
Spürbar ist die Gier der Kommentatoren, sich an Erfolge ranzuschleimen, das »eigene« Team zu hofieren. Deshalb hört das Publikum in Fußball- und
Politiksendungen kaum noch etwas anderes als populistische Parolen nach dem
Motto: Wir sind Europameister in allen Disziplinen. In der Wirtschaft sowieso. Im
Plattdeutsch der neuen TV-Sprache ist es mindestens »überragend« oder »sehr,
sehr gut«, wenn irgendwo ein Ball »durchgesteckt« wird.
Wie gedankenlos Politik und Fußball verquickt werden, zeigen die »Tagesthemen«
der ARD. Dem Moderator Ingo Zamperoni gelang in der Halbzeitpause des Spiels
Spanien gegen Frankreich eine assoziative Meisterleistung, als er die Sendung
mit dem Satz startete: "D e r Treffer soll keine Absicht gewesen sein.« Gemeint
war der Abschuss eines türkischen Flugzeugs durch syrische Militärs. Wäre im
Anschluss ein jubelnder Hosenanzug namens Angela Merkel von der Stadiontribüne
eingeblendet worden, hätte sich keiner gewundert.
Für den Fußballliebhaber ist es schwer, bei dieser Art Berichterstattung am Ball
zu bleiben. Das Problem in erster Linie sind nicht Katrin Müller-Hohensteins
Kinderspäße mit Olli Kahn am Strand von Usedom. Wenn eine Moderatorin glaubt,
sie müsse mit einem aufblasbaren Gummi-Baseballschläger herumspielen, hat das
nichts mit dem Sexismus in »Waldis Studio« zu tun. Dennoch erträgt der TV-Kunde
aus fußballerischen Kompetenzgründen sogar Waldemar Hartmanns Herrenwitze
leichter.
Ohnehin kann man auf die ganze Begleitmusik verzichten, etwa wenn Reinhold
Beckmann im Duett mit Mehmet Scholl ein neues Stadion der Ukraine den Orden
»Schmuckkästchen« umhängt, als verdiene er sein Geld beim Buxtehuder
Kleintierzüchterradio. Wie gesagt, solche Szenen im »Analyse«-Block der
unablässig um Party- und Bierzeltstimmung bemühten Seichtheitsanstalten lassen
sich ausblenden. Dank Fernbedienung muss sich sehenden Auges, egal ob Erstes
oder Zweites, keiner pausenlos fragen lassen: Wollt ihr das totale Glück?
Eine Beleidigung für den wachen Fußballliebhaber sind viel mehr die
Fehlleistungen, Unterlassungen und Manipulationen während der Spiele. An Zensur
– nicht gezeigte politische Botschaften oder Flitzer im Stadion – haben wir uns
anscheinend schon klaglos-deutsch gewöhnt, und getürkte Live-Bilder wie bei Jogi
Löws Balljungen-Schubser zur Steigerung des Wohlgefühls sind wohl die Zukunft.
Vollends peinlich aber wird es, wenn der ARD-Kommentator Steffen Simon lange
nicht merkt, dass Italien das bessere Team im Spiel gegen England ist. Da ist
einem die Londoner Zeitung »The Sun« nach dem Aus der Engländer ein Trost: »...
niemand kann bestreiten, dass am Ende das richtige Team gewonnen hat. Lasst uns
Tennis gucken.«
23.06.2012
Spiel mir das Lied vom
Tor
Neunzig Minuten vor Spielbeginn ist der Laden überfüllt. Beamer, Leinwände,
Fernsehschirme, kostümierte Menschen. Diesmal habe ich wieder die klassische
Fußballkneipe gewählt, gewissermaßen den Rock’n’Roll-Club, den Kick.
Das Schlesinger, in der Nähe der Börse in der Schlossstraße, ist das
Naturtheater des kollektiven Fußballrauschs. Es gibt ein Draußen und Drinnen,
die Rauchertribüne unter freiem Himmel, und den Gastraum: die Geschlossene für
den Wahnsinn.
Absichtlich habe ich das Griechenklischeelokal gemieden. Die Medien haben alle
Euro-Zonen platt getrampelt, alle Griechspuren breit getreten. Wahrscheinlich
taugt auch die griechische Tragödie inzwischen als TV-Kalauer. Özil oder Ödipus,
egal.
Ohnehin gibt es einen großen Fernsehlabereintopf. Politik und Fußball werden
nach dem Usedomer Ostsee-Modell verwässert. Die Kanzlerin zieht mit gleicher
»breiter Brust« in den Finanzkrieg wie das deutsche Team ins Viertelfinale. Im
Dienste seichter Unterhaltung, politischer Ablenkung, wird der ZDF-Sandstrand
als Analysestation für Dünnpfiffprobleme zum Maß aller Dinge. Manipulierte
Live-Bilder gehören seit dieser EM zum Alltag.
Doch noch gibt es das Spiel, diese ernsthafte Sache. Die Kneipe ist ein Ort der
Sehnsucht, irgendwie, auf Teufel komm raus, an diesem Spiel teilzunehmen. Schwer
zu sagen, ob an den Biertischen nur Fernsehen stattfindet. Man weiß es nicht
genau: Spielen die Menschen »Wir sind im Stadion«, oder glauben sie, auf der
Tribüne zu sitzen. Kneipenfußball ist vorweggenommenes Leben im Virtuellen.
Großes Kino.
Es wäre nicht falsch zu behaupten: In der Fußballkneipe geht es lauter, direkter
zu als im Stadion. Eingedoste Emotionalität.
Das deutsche Team macht, was alle erwartet haben, es versucht das griechische
Bollwerk zu überrennen. Beim Tippen in der Kneipe höre ich (zum Glück) keinen
Kommentator, ich sehe (leider) wenig vom Spiel, ich folge den Reaktionen des
Publikums. Es scheint möglich, die Bewegungen auf dem Spielfeld zu erlauschen.
Und es gibt Augenblicke, da scheint eine Stille einzukehren, als sei ein Unglück
geschehen. Die Schreie folgen, Antwort auf eine verpasste Chance. Es muss, folgt
man dem Sound der Kneipe, heute viele verpasste Chancen geben. Und das Publikum
sendet seine Signale, immer im Bewusstsein, das Spiel aus der Ferne zu
beeinflussen. »Auf geht’s Deutsche, schießt ein Tor«, singen sie. Und das ist
die pure Wahrheit: Sie singen, sie singen laut, sie singen fast verzweifelt, und
in dieser Phase trifft Lahm ins Lattenkreuz. Jeder weiß, dass er ohne die
Gesänge im Schlesinger nicht getroffen hätte. So geht Kneipenfußball, das
Theater wiedererwachter Kindheit. Sehr ernst. Und deutsch: In der Pause läuft
kurz »Griechischer Wein«, und man hört das Kreischen junger Mädchen, während
neue Bierbecher die Tische füllen.
Neben mir sitzt Kosta, 48, gebürtiger Grieche, Systemingenieur, »fanatischer
Fußballanhänger«. Er schaut Fußball im Schlesinger »wegen der Toleranz«. Trikot,
Fahne: kein Problem. Kosta sagt, die deutschen und die griechischen Medien
hätten das Spiel »auf ärgerliche Weise politisiert«. Er wünscht sich, der
Fußball könnte über die Politik siegen. Und er sagt, sein Herz könne an einen
griechischen Sieg auch dann glauben, wenn ihm der Verstand sage, dass
Griechenland verliert. Sekunden später macht Samaras das 1:1.
Das Publikum singt wieder, kaum einer wird mir glauben, es ist das Lied vom Tor.
Khedira hat gute Ohren. Es steht 2:1. Das Fernsehen zeigt die jubelnde
Kanzlerin, was für eine deutsche Motorik. Ein Mensch (ein Hosenanzug) außer
sich. Gott schütze Klose, er löscht dieses Bild. 3:1. Das ist der Moment, wo die
Party beginnt, wo die Anspannung einer Lust auf Mehr weicht.
Das Ding ist gelaufen, Kosta irgendwo im Getümmel abgeblieben. Er weiß, dass
sein Herz gegen den Verstand verloren hat. Der bessere Fußball hat gewonnen,
womöglich auch das schöne Spiel. Reus macht das 4:1, liefert ein wenig
Extrastoff für die Party der Sieger. Elfmeter. 4:2. Na und. Es ist die Nacht zum
Samstag, das Wetter ist gut, und das irre Spiel geht auf den Straßen weiter.
18.06.2012
Die Klasse bei
ruhenden Bällen
Am Sonntagabend war sich der ARD-Kommentator Tom Bartels schon nach dem 1:0 der
Deutschen gegen die Dänen sicher: »Es sieht gut aus für das Ziel EM-Titel.« Man
lernt: Wie ein Marketingfritze präsentiert er seine Ware ergebnis- und
zukunftsorientiert. Das Spiel selbst ist nicht so wichtig.
Kino und Fußball, hat uns das Leben gelehrt, wurden von Männern erfunden, um
Männer zu trösten. Hätten die Pioniere geahnt, wie ihnen später mal Katrin
Müller-Hohenstein Fußball im Fernsehen präsentiert, hätten sie sich mit der
Entwicklung der Wasserbombe beschäftigt. Inzwischen haben die
Kalauer-Beauftragten so viele Witze über den Fauxpas de deux der ZDF-Wanderdüne
mit dem ehemaligen Bayern-Torwächter Oli Kahn vom Stapel gelassen, dass wir
Usedom verlassen und uns dem Fußballsport widmen können. Als ich neulich bei der
EM-Übertragung im ZDF die Regenbilder sah, dachte ich schon, Gott strafe das ZDF
mit einer Sintflut auf der Ostsee-Insel. Er hatte aber versehentlich die
Fußballer der Ukraine und aus Frankreich erwischt. Doch jeder Sturzbach am
Spielort trägt mehr zur Erbauung bei als die Wortflut des ZDF-Reporters
Wolf-Dieter Poschmann. Der verwechselt Fußballer mit Langläufern und erzählt
uns, der ukrainische Trainer habe Schewtschenko beim Auswechseln nicht
abgeklatscht, weil er »gedanklich mit dem Halten des Remis beschäftigt war«.
Keiner weiß, wer Poschmann gerade abgeklatscht hatte. Schewtschenko hatte zuvor
das 2:1 erzielt.
Solche Fehler sind menschlich im Live-Stress. Richtig Durchblick zeigte wiederum
Bartels, als er den Iren in der Partie gegen Spanien bescheinigte: »Sie können
bei ruhenden Bällen ihre Klasse einbringen.« So intim wollte man es gar nicht
wissen.
Das Gelaber über Sinn und Zweck der spanischen Kurzpasskunst fand erst ein Ende,
als Irlands famose Fans am Ende minutenlang »The Fields Of Athenry« sangen. Da
merkte sogar Bartels, warum Schweigen Gold ist. Zuvor hatte er neben seinen
taktischen auch seine anatomischen Kenntnisse eingebracht: »Erstaunlicherweise
hat Iniesta hinten keine Augen. Wer hätte das gedacht?« Hätte der ARD-Pathologe
selbst mal nachgedacht, wäre ihm aufgegangen, warum Iniesta auch ohne Augen mehr
sieht als Bartels mit Hilfe Dutzender Kameras. Der spanische Virtuose mit seiner
phänomenalen Fußballintelligenz fände dank seiner großartigen Motorik und
unnachahmlichen Ballannahme die Laufwege seiner Kollegen jederzeit auch blind.
Schlimm an den Fernsehbeiträgen dieser EM ist nicht allein das Missverständnis,
man könne dem Zuschauer Fußball in ähnlichen Billigshows näherbringen wie
Schlagerschnulzen dem Butterfahrten-Publikum. Ärgerlich ist, wenn Kommentatoren
nicht in der Lage sind, die Reize und Geheimnisse eines Spiels zu erklären.
Meist versteifen sie sich darauf, Szenen wie Punktrichter zu werten: »Mängel auf
beiden Seiten« (Oliver Schmidt, ZDF). Geht es aber ans Eingemachte wie bei der
Betrachtung der spanischen Philosophie von Arbeit (blitzschnelle Balleroberung)
und Spaß (grandioses Kurzpassspiel dank einzigartiger Ballbehandlung), kommen
nur erzkonservative Bedenken (»nicht effektiv«) und dumme Wortspiele: »Tiki Taka
gegen Tipp-Kick« (Matthias Opdenhövel, ARD).
So ist es nicht weit zu »Waldis Club«. In diesem Sackbahnhof für »Schland«-Schreier
glaubt die ARD bis heute, Fußball lasse sich mit Humorkrücken wie dem Imitator
Matze Knop oder geschwätzigen SalonRockern wie Campino »witzig« aufbereiten.
Fußball taugt als Sujet so wenig für Comedy-Quatsch wie bierseliges
Stammtisch-Gerülpse für TV-Kameras. Ein lausiges Verständnis von
Fernsehunterhaltung.
17.06.2012
Dänemann
Nach der Weltmeisterschaft 2006 hatte ich mir geschworen, das F-Wort so schnell
nicht mehr in den Mund zu nehmen. Fußball war vorbei, es war genug. Dann aber
gab es, noch bevor Iniesta und Spaniens neue Weltfußballkunst die Erd-Kugel in
den Schatten stellten, Handlungsbedarf In weiten Kreisen der Bevölkerung
herrschten nach der WM 06 große Lücken beim Versuch, den Begriff »Dänemann«
historisch korrekt zu interpretieren. Es gibt also einiges zu klären, bevor die
Deutschen am Sonntag gegen die Dänen spielen.
Das Problem hatte ich kurz nach dem WM-Finale zwischen Italien und Frankreich
erkannt. Kaum war Zidane, der Göttliche, vom Platz geflogen, bat ich eine
Kollegin im fernen Rom per SMS um sofortige Aufklärung: Was hatte der
italienische Spieler Materazzi zu seinem französischen Gegner gesagt, damit
dieser beinahe den Kopf verloren hätte?
Die Antwort kam prompt: Wie sie ihre Pappenheimer kenne, meldete Signora, habe
Materazzi den großen Zidane mit einer in Italien traditionsreichen
Allerweltsbemerkung gegrüßt: »Deine Mama ist eine Berber-Hure.« Unter diesen
Umständen, schrieb ich zurück, hätte Zidane seinen entschieden höher ansetzen
müssen. Umgehend piepste wieder mein Handy, die Kollegin wollte wissen: »Was zum
Teufel ist ein Dänemann?«
Der Reihe nach. Ganz sicher ist der Dänemann kein Begriff aus der
»Fußballersprache«, wie in verschiedenen Einträgen im spärlich bestückten
Internet behauptet wird. Im November 2005 berichtete eine Reporterin der »Westdeutschen Zeitung« über einen Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht. Es
ging um einen Spieler, der in der Kreisliga-D-Partie FC Gerresheim gegen TV
Grafenberg einen Gegner außer Gefecht gesetzt hatte. Und zwar so nachhaltig,
dass der Grafenberger Spieler noch ein Jahr später eine Schraube im
Schädelknochen mit sich herumtrug. Der Staatsanwalt, meldete die Reporterin,
habe von einem »Dänemann« gesprochen. Der Dänemann, und diese Falschaussage geht
ganz klar auf das Konto des Staatsanwalts, stehe »in der Fußballersprache« für
eine »Kopfnuss«.
Als gelernter Nichtjurist und ehemaliger Hobby-Boxer im Eintagsfliegengewicht
weiß ich: Das ist kompletter Bullshit. Eine Kopfnuss wird in der Regel mit den
Knöcheln einer zur Faust geballten Hand am Kopf des Gegners platziert; früher
hatten diese unwürdige Technik vor allem verknöcherte Schullehrer mit
Nazi-Vergangenheit parat. Ich weiß, wovon ich rede. Hätte man mir diese
Kopfnüsse erspart, müsste ich heute keine Kolumnen tippen.
Was ein Dänemann wirklich ist, kann Ihnen jeder erfahrene Junge aus der
Stuttgarter Altstadt erklären, bei guter Führung des Interviewers auch mal ohne
schmerzhaften Anschauungsunterricht. Der Dänemann gilt als Klassiker im Duell
verfeindeter Männer im Rotlichtmilieu, er wurde schon vor der Erfindung der
Thompson Gun und des Pitbulls eingesetzt. Das war zu einer Zeit, als man in der
Stadt noch nicht Spenden für reklamesüchtige OB-Kandidaten sammelte, sondern aus
Gründen der Ehre Kollekten für in Not geratene Banditen organisierte.
Bei einem Dänemann trifft die Stirn des Angreifers den Kopf des Gegners, in der
Regel die Stirn – oft so hart, dass der Attackierte schwer verletzt ins
Krankenhaus gebracht werden muss. Nur bei guter Laune gibt sich der Angreifer
mit einem handelsüblichen Nasenbeinbruch zufrieden.
Portugals Fußballgott Figo beispielsweise setzte bei der WM 2006 gegen den
Holländer van Bommel einen leichten Dänemann an – dermaßen defensiv, dass man
ihn als ehrfurchtsvolle Verneigung vor einem Fußballbehinderten deuten konnte.
Van Bommel aber hob umgehend ab wie ein bekiffter Trampolinspringer. Figo sah
deshalb zu Unrecht die Gelbe Karte.
Völlig neu an Zidanes Dänemann im Spiel der Franzosen gegen die Italiener war
auf jeden Fall die technische Ausführung: Er stieß, nach einigen Metern Anlauf
im Stil eines spanischen Kampfstiers, mit seinem fein geformten Charakterschädel
nicht etwa gegen Materazzis weiche Birne. Er traf dessen Macho-Busen.
Einen ähnlich harmlosen Dänemann hatte ich nie zuvor gesehen. Erst recht nicht
in der Stuttgarter Altstadt. Dem ordnungsgemäßen Dänemann des Luden folgte
normalerweise auf dem Fuße Salamander. Dabei handelt es sich um einen Tritt mit
dem Stiefelabsatz gegen das am Boden liegende Dänemann-Opfer. Am besten in den
Bereich der vorderen Jacketkronen. Davon war im Fall Zidane nichts zu sehen, die
Rote Karte gegen ihn deshalb unbegründet.
Damit ist nur noch eine Frage offen. Leider, werte Sportsfreunde, ist bis heute
nicht geklärt, warum der Dänemann Dänemann heißt. Die Fachwelt behauptet, ein
Däne habe ihn erfunden.
Gott schütze Dänemark. Gott rette die Altstadt.
14.06.2012
Wenn Buchstaben nicht
wie Gomez tanzen
Naturschauspiel auf der Prag, der Biergarten in der Backsteinkulisse des
Theaterhauses. Wir sitzen unter dem Kirschbaum, und wenn es nicht regnet, haben
wir gewonnen: die Chargen und Claqueure am Biertisch. Aber Sieger sehen anders
aus.
Neben mir Buffy, der Kassenmann der Bühne, dunkelroter VfB-Fan, heute gibt er
den Einzylinder, hat ein schwarz-rot-goldenes Filzrohr namens Hut auf dem Kopf.
Logisch, dass der Regen einsetzt, aber das ist nicht das wahre Übel. Wer Frau
Müller-Hohenstein und Herrn Kahn, die sprechenden Wanderdünen von Usedom,
gesehen hat, hat gelernt, was Synchronstörungen sind: Lippen bewegen sich, doch
man hört keine Stimme (was oft besser ist).
Die Nummer mit der defekten Synchronisation gefällt auch meinem Laptop: Ich haue
auf irgendwelche Tasten, vielleicht auf die fünf Buchstaben des Herrn Gomez, und
sie tauchen zeitversetzt uns so spät auf dem Bildschirm auf, als hätte sie der
Mann vom Mond zur Erde gekickt. Maschine kaputt.
So geht die schöne Idee vom Fußballtheater auf der Prag in die Hosen. Das ist
kein verdammtes Künstlerpech, das ist der Fluch der Technik. Ich schließe den
Deckel des Laptops, als wäre er ein Sarg, besorge mir ein Taxi und fahre nach
Hause. Erstaunlich, wie normal das Leben in der Stadt weitergeht, fünf Minuten
vor dem Anpfiff, ausgerechnet vor diesem ewig anderen Spiel der Deutschen gegen
die Holländer, wo man über Generationen hinweg das Gefühl hatte, in jeder Partie
ginge es um ein Drama von Schuld und Sühne, von Verzeihen und Vergessen. Fußball
ist auch eine Brücke.
Das Spiel läuft schon, das kann ich im Autoradio hören, und es sind Menschen mit
einer Gelassenheit auf den Straßen, als hätten sie von Gomez nie gehört. Den
Laptop, diesen Versager, unterm Arm, stürme ich meine Bude, werfe eine andere
Kiste und den Fernseher an, und dann sehe ich diesen denkwürdige Gomez-Tanz im
Strafraum: Da dreht einer sein Ding, einer, dem sie vorgeworfen haben, sein
Körper besitze die Motorik eines Pflegefalls. Dieser Mann macht das 1:0, er
macht das 2:0, und in Erinnerung an mein geplatztes Fußballtheater rufe ich in
der Halbzeit »Caveman« an. Oben auf der Prag sitzen sie vor der Leinwand, der
Bühnenchef Werner Schretzmeier und die Fußball-Crew, darunter der Schauspieler
Martin Luding. Eintausendsiebenhundert Mal hat er auf der Bühne den »Caveman«
gegeben, oft genug selbst die Fußballschuhe in der Sporthalle des Theaterhauses
getragen, und jetzt schwärmt er von diesem denkwürdigen Akt von Moral und
Gerechtigkeit auf dem Fußballplatz: »Sie haben versucht, Gomez fertig zu machen.
Sie haben ihm verspottet, ihm fehle das Spielerische. Und jetzt beweist er, dass
er ein großer Spieler ist.«
Es ist ein seltsames Gefühl, mit einem kleinen Computer vor dem Fernseher zu
sitzen, die hilflosen Schreie des Kommentators zu hören, sie klingen, als hätten
sie mit dem Spiel nichts zu tun. Synchronisationsstörungen sind nicht immer eine
Frage der Technik. Wer dem Kommentator folgt, versteht selten, was er meint. Die
deutschen Kommentatoren von heute beschreiben immer seltener den Fußball von
heute. Der Ball ist ihnen davongeflogen, in ein neues, anderes, schnelles Spiel.
Im Stadion ist es heiß, ich habe die Fenster meiner Bude geöffnet, ein Mann und
eine Frau mit Hund gehen die Straße entlang. Es regnet nicht mehr, und dem Hund
ist es egal.
Meine Theater-Vorstellung hat nicht hingehauen, der Vorhang ging nicht auf,
Buchstaben kann man nicht zwingen, nach meiner Pfeife und wie Gomez zu tanzen.
Was für eine Pleite am Abend, peinlich wie verstolperte Bälle ohne Gegenspieler.
Das Spiel geht weiter, es geht immer weiter, und die Holländer machen ein Tor.
Der Kommentator erzählt etwas von einem »heillosen Durcheinander«, und das sagt
man, wenn man nicht erkennt, warum etwas geschieht. Wäre ich unter dem
Kirschbaum geblieben, und hätten die Buchstaben gemacht, was ich will, wäre das
Spiel anders gelaufen. Aber nur für mich. Ende.
12.06.2012
Gott lenkt, der Fuß denkt
In der
guten alten Fußballzeit, als es noch Angriff und Abwehr gab, war es
Nationalsport, Kommentatoren wie Heribert Faßbender (ARD) oder Dieter Kürten
(ZDF) bei Turnieren mit Häme zu überschütten. Heute sind solche Tacklings fast
überflüssig. Seit sich das verbliebene TV-Publikum im Seniorenstiftalter an das
Talkshow-Gelaber von Jauch und Lanz, Illner und Maischberger gewöhnt hat,
erwartet man nicht ausgerechnet von EM-Kommentatoren Glanzlichter des
Entertainments.
Außer von Béla Réthy. Dem ZDF-Mann gelang es, Barças Spielergenie Iniesta in der
Partie gegen Italien mit dem Pathologenmesser zu sezieren: »Er denkt mit dem
Fuß.«
Bei solchen Sätzen muss es einen nicht erst auf den Allerwertesten setzen, um zu
ahnen, wer Réthys Denken lenkt. Iniestas Kollege Xavi hat mal in einem Interview
mit der »Süddeutschen Zeitung« erklärt, was den Unterschied von Barcelonas
Spielauffassung zur Philosophie anderer Clubs ausmacht: In seinem Team, sagte
er, begriffen alle Spieler »das Warum«. Die Frage nach dem Warum spanischer
Fußballkunst beantwortet Réthy erneut mit gewohnt analytischer Schärfe: Er sah
»Kurzpässe wie in der Besenkammer«. Vermutlich ist von dieser Enge etwas hängen
geblieben, seit Boris Becker an diesem Ort den Kürzeren zog.
Aus welcher Epoche der besser Sehende vom Zweiten stammt, war vollends klar, als
Réthy im famosen Spiel der Italiener »die Renaissance des Catenaccio« entdeckte.
Er muss sich gefühlt haben wie damals, als der Italo-Riegel berühmter war als
Snickers.
Wie gesagt, diese im Stress formulierten Sprüche sind heute nichts Besonderes.
Als TV-Gast ist man dankbar für jede Art Euro-Aufklärung, auch für diese:
»Italien«, sagte Réthy, »ist nicht bereit, sich vorführen zu lassen.« Diesen
wahren Kern italienischer Strategie begriff ich endgültig, als der ZDF-Kollege
Oliver Schmidt im Spiel der Iren gegen die Kroaten beinahe das Mikro
verschluckte: »Das ist ein anderes Spiel, als wir erwartet haben.« So sieht’s
aus.
Man möchte bei Gott kein Spielkommentator sein. Der geplagte Fußballmann wähnte
sich lieber mit der ZDF-Nixe Katrin Müller-Hohenstein am Strand von Usedom, bei
der neuen Unterwasser-Variante des »ZDF-Fernsehgartens«. Eigentlich gehört es
sich nicht, über die Strandkörbchen-Größe von TV-Frauen zu lästern. Aber
Klamottenschelte hat eine Berechtigung, wenn die Dame ihr Geld vor Staatskameras
verdient. Frau MüllerHohenstein stand im unsäglichen EM-Magazin des ZDF so
windgebeutelt herum, als müsste sie in weißen Jeans und pinkfarbenem Jackett
den lebenden Leuchtturm einer Salzwasser-Soap für Hinterwäldler geben.
Diese Rolle irritierte offenbar auch die Technik: Die Moderatorin entschuldigte
sich, weil der Ton im Fernsehen »anders kommt, als sich die Lippen bewegen«.
Dieses Phänomen erlebt man in ihrem Fall allerdings nicht nur bei flacher See.
Neben seiner Beachparty-Partnerin hatte es der ehemalige Torhüter Oliver Kahn
nicht leicht, sich als gelernter Turm in der Schlacht auch im Fachdialog zu
behaupten. Nachdem sie »ordentlich« und »wie es sich gehört« guten Tag gesagt,
nämlich ein fröhliches »Halli, Hallo, Hallihallo« in der nächstbesten Windhose
versenkt hatte, löste Frau Müller-Hohenstein Alarmstufe eins aus: Im Spiel der
Deutschen gegen die Portugiesen, eingespielte Bilder bewiesen das Verbrechen,
hatten Fans Papierrollen zur Eckfahne geworfen. Zwar bemühte sich Kahn umgehend,
die Sprechmuschel von Usedom zu besänftigen. Doch als er versuchte, die
Papierflieger-Gefahr mit dem Hinweis zu relativieren, Sepp Maier habe sogar mal
ein Messer im Strafraum überlebt, war es um sie geschehen: »Das«, konterte sie,
»ist nicht lustig.« Aber hallo. Ein Messer steckt schneller im Fuß, als er
denkt. |
Foto: Andrés Iniesta
by Creative common license
Christopher Johnson |