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Eine
warmherzige Rückschau
Die bewegte Familiengeschichte der Marion Brasch »Ab jetzt ist Ruhe«
Von Stefan Geyer
Es wimmelt von Prominenten in diesem Roman der Namenlosen, alle hinreichend
entschlüsselt in den zahlreichen Rezensionen, die dieses Buch erfahren hat. Der
Roman heißt »Ab jetzt ist Ruhe« und ist das Debüt der Radiomoderatorin Marion
Brasch. Die Autorin ist die letzte Überlebende einer außergewöhnlichen Familie,
in der sich die Geschichte der zweiten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts
spiegelt, wie in nur wenigen anderen. Und so hat Marion Brasch ihrem Buch den
Untertitel »Roman meiner fabelhaften Familie« gegeben. Roman also und nicht
Biographie. Die Form des Romans hätte ihr mehr Freiheit beim Schreiben gelassen,
sagt Marion Brasch, eine Freiheit, die dem Buch gut tut. Und deshalb auch der
Verzicht auf Namen. Keine realen Personen sollten für ihre erfundenen
Geschichten in Haftung genommen werden.
Es wird gerätselt, wer denn nun die eigentliche Hauptfigur in diesem Roman sei,
der ältere Bruder, Thomas, oder der Vater. Vielleicht kann man sich ja darauf
einigen, dass die Autorin selbst die Hauptfigur dieses Romans ist. Schließlich
ist er aus der Ich-Perspektive geschrieben.
Marion Brasch ist in der DDR aufgewachsen, dem Land, in das ihre Eltern nach dem
Krieg aus dem Londoner Exil gingen. Der Vater, Jude, hat nach einem kleinen
Umweg über den Katholizismus zum Kommunismus gefunden und wollte helfen, den
Sozialismus in Deutschland aufzubauen. Die Mutter, Wiener Jüdin, folgte
widerwillig. Der Vater wurde Funktionär der Partei und später stellvertretender
Kulturminister. Partei und Staat gingen ihm über alles, selbst über die eigene
Familie.
Als der älteste Sohn, Thomas, 1968 gegen den Einmarsch der
Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei protestiert, wird er vom Vater
denunziert und landet im Gefängnis.
Es wird viel gestorben in der Familie Brasch. Marion ist zehn Jahre alt, als
ihre geliebte »Oma Potsdam«, die Mutter des Vaters, stirbt. Bei ihr durfte sie
immer solange aufbleiben wie sie wollte, Westfernsehen schauen und für die Oma
Zigaretten drehen. Zigaretten sind ständig präsent in der Familie Brasch, der
Vater ist praktisch nie ohne Zigarette anzutreffen. Überhaupt wird ständig
geraucht und gesoffen in diesem Buch, es ist normal.
Drei Jahre nach dem Tod der Großmutter unternimmt der Vater einen
Selbstmordversuch. Ein unlösbarer Konflikt mit der Partei treibt ihn zu diesem
verzweifelten Schritt. Marion entdeckt den Abschiedsbrief und kann so den Suizid
verhindern.
Ein Jahr später, Marion ist vierzehn, stirbt die Mutter an Krebs. Ein
schmerzhafter Verlust für die Tochter, die fortan alleine mit dem Vater lebt.
Nur vier Jahre nach der Mutter stirbt auch der mittlere Bruder, der Schauspieler
Klaus Brasch. Er hat sich buchstäblich zu Tode gesoffen. Kurz vor seinem Tod
reüssierte er noch als stets besoffener Saxophonist im DEFA-Klassiker »Solo
Sunny«.
Für den Vater ist die Tochter die letzte Hoffnung. Die Brüder haben sich schon
lange von der DDR und der Partei abgewandt, Marion hingegen wird Mitglied der
Partei, ihrem Vater zuliebe. Und als sie sich gegen ein Studium und stattdessen
für eine Ausbildung zum Schriftsetzer entscheidet, ist der Vater stolz auf
seine Tochter. Als Parteimitglied und Teil des Proletariats scheint sie seine
Hoffnungen zu erfüllen. Sie rebelliert nicht gegen den Staat, eher gegen den
Vater. Sie fordert das Recht auf ein eigenes Leben, ein Leben mit Freundinnen
und Freunden, mit Party, Musik und Spaß. Ihre Freundinnen und Freunde, ihre
Männer, werden mit Vornamen benannt. Aber man darf zweifeln, ob dies die
richtigen Namen sind – es ist auch egal. Der Soundtrack zu ihrem Leben stammt
unter anderem von Pink Floyd, Jimi Hendrix, Janis Joplin, den Stones, Bob Dylan,
AC/DC, Neil Young, David Bowie, Frank Zappa und John Lennon. Die Hose heißt
Levi`s. Obwohl Marion Brasch später selbst Mitglied einer Band ist - sie spielt
Gitarre und singt - und durch die DDR tingelt, spielt Popmusik aus der DDR keine
Rolle.
Marion Brasch liebt John Lennon. Eines Tages verfolgt sie sogar einen fremden
Mann, der Lennon ähnlich sieht, traut sich aber nicht, ihn anzusprechen. Sie hat
bereits eine eigene Wohnung, als folgendes passierte: »An einem Tag im Dezember
spielte der amerikanische Sender nur noch John Lennon. Der Moderator hatte
Tränen in der Stimme. Ich saß in meiner Wohnung und konnte es nicht fassen.« (S.
216). Es ist der 8. Dezember 1980, Marion Brasch ist neunzehn Jahre alt und ihre
Trauer um Lennon teilt sie mit Millionen anderer ihrer Generation in der ganzen
Welt.
Marion Brasch hat ein pragmatisches Verhältnis zu ihrem Land. Dass sie nach
Ungarn fahren muss, um Ihren Bruder Thomas, der mittlerweile, nur ein paar
Kilometer entfernt, in West-Berlin lebt, treffen zu können, wird so kommentiert:
»Ja, es war absurd, doch so war es nun einmal.« (S. 169)
Braschs Vater stirbt ebenfalls an Krebs, im Oktober 1989. Den Mauerfall erleben
zu müssen, bleibt ihm erspart, die sterbende DDR richtet für ihn das letzte Mal
ein Staatsbegräbnis aus.
Der älteste und der jüngste Bruder, Thomas und Peter, sterben beide 2001, erst
Peter und ein halbes Jahr später Thomas. Marion Brasch ist die letzte ihrer
Familie.
Eine Person, die in Braschs Leben eine entscheidende Rolle spielte, ist Lutz
Bertram, der blinde Moderator. Bertram war ein landesweit bekannter
Radiomoderator des Jugendsenders DT 64. Nach dem Mauerfall erreichte er auch im
Westen, besonders aber in Berlin-Brandenburg als Moderator bei Radio Brandenburg
einen gewissen Kultstatus. Als er 1995 als Stasi-IM enttarnt wurde, war der
Skandal, das Entsetzen und die Enttäuschung groß. Er hatte der Stasi Berichte
über die DDR-Musikszene geliefert und musste daraufhin den Sender verlassen.
Marion Brasch lernte ihn während einer Tournee mit ihrer Band kennen. Bertram
holte Brasch zum Radio und da ist sie heute noch.
Angesichts dieser tragischen Familiengeschichte wird Marion Brasch gelegentlich
der angeblich allzu lockere Erzähltstil und die fehlende Kritik an den
Verhältnissen in der DDR zum Vorwurf gemacht, und als Oberflächlichkeit
gedeutet. Als ob eine Geschichte glaubwürdiger würde, wenn sie in
bedeutungsschwerem Ton Kritik an den damals herrschenden Verhältnissen übte. Es
war nicht ihr Anliegen ein Buch über die DDR zu schreiben, sie wollte ein Buch
über ihre Familie schreiben – und über sich. Und das ist ihr ganz wunderbar
gelungen.
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Marion Brasch
Ab jetzt ist Ruhe
Roman
S. Fischer
400 Seite
(D) 19,99 € | € (A) 20,60 | SFR 28,90
ISBN: 978-3-10-004420-4
Leseprobe
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