Mit Maurice Blanchots
(1907-2003) »Die Freundschaft« ist nun erstmals die Georges Bataille gewidmete
Sammlung von 29 Essays im kompletten Original-Umfang, von einem Übersetzerteam
ins Deutsche übertragen, bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen. Blanchots
Werk, in der deutschsprachigen Publikationspolitik oft bis zur Unkenntlichkeit
zerstreut und ausgedünnt, nimmt hier die Gestalt eines wuchtigen, zugleich
historischen wie zeitlos erratischen Kompendiums des französischen Geisteslebens
an.
Die Texte wurden ursprünglich aus konkretem Anlass geschrieben: Kommentare,
Rezensionen, Porträts, Monographien, Kritiken, Skizzen und Studien, im Zeitraum
zwischen 1950 bis 1970. Laut Gerhard Poppenberg wurden sie in der von Blanchot
autorisierten 1970er Fassung für die Édition Gallimard bewusst nicht mehr mit
Abfassungs- und Publikations-Daten gekennzeichnet sowie stark überarbeitet, im
Sinne eines durchgehenden literarisch-diskursiven Duktus der heterogenen
Rätselhaftigkeit und der polyperspektivisch vertiefenden Thematisierung. Auf
diese Weise stellen sie die etwas apokryphe Luxusausgabe eines intellektuellen
Mosaiks dar, das die Kontinuität, Fragmentarisierung, Divergenz und den
Widerspruch eines verschlungenen, solistischen und kollektiven Denkens über zwei
Jahrzehnte in den Insiderkreisen der hohen, philosophisch-politisch aufgeladenen
französischen Literatur und Publizistik spannungsvoll vereint.
Mit dem 9. Juli 1962 fiel der Todestag des Freundes Bataille ziemlich genau ins
Zentrum der nun nicht mehr sichtbaren Chronologie der Texte. Weitere Autoren,
Künstler, Redakteure und Multiplikatoren wie Camus, Vittorini, Buber und
Giacometti, Paulhan verstärkten mit ihrem Ableben in den 1960ern ebenfalls die
imaginäre Zone einer postmortalen Transgression auf dem Höhepunkt einer
lebendigen und doch sich selbst unwirklich werdenden späten Moderne, wie sie
bereits im Verhältnis von Kafka und Max Brod zwischen selbstkritischer
Zerstörung und ungehorsamem Bewahren präfiguriert ist.
»Über die Freundschaft« ist insofern Symposion und Trauerrede, philosophischer
Nekrolog einer von Vergänglichkeit und Diskontinuität erschütterten fröhlichen
Zeitgenossenschaft gegenüber der Möglichkeit von Treue und Untreue, Rettung und
Verrat, im Moment des Gelingens und des bitteren Verlustes. Im Zeichen von
Phänomenologie, Surrealismus, Neorealismus, Existentialismus, Strukturaler
Anthropologie, Nouveau Roman, der Erfahrung des Absurden und der definitiven
Politisierung im Mai 1968, dem »Nous sommes tous des juifs allemands« (Wir sind
alle deutsche Juden), fühlte sich Blanchot, nicht zuletzt als Lesender und
Schreibender, mit der Präsenz bestimmter Personen, ihrem Einfluss und ihrem Werk
glücklich verbunden. Im Verlust empfindet sich diese Zeitgenossenschaft selbst
tödlich verwundet und nur noch wie auf Widerruf im weiteren Leben und Denken
existent.
Die Freundschaft über den Tod und den Abbruch der Kommunikation hinaus fordert
die Figur der Diskretion heraus, die Diskretion aus der erlebten und gelebten
Nähe und Ferne (nicht nur zum anderen, auch zu sich selbst). Sie wächst im
Abhandenkommen zur vollen Distanz heran, die das Denken, das Leben, das Werk und
den Diskurs noch in der Existenz nach der Existenz ermöglicht, statt sie in der
Trivialität der angeblich alles ausplaudernden und den erstorbenen Willen des
Auteurs Manuskript für Manuskript total unterwerfenden Literaturgeschichte (für
Blanchot »der schlimmsten aller Geschichten«) abzuwürgen. Der Tod wird zur
antipositivistischen Figur einer subtilen Metahermeneutik und kryptischen
Poetik: »Solange der, der uns nahesteht, existiert, und mit ihm das Denken, in
dem er sich behauptet, öffnet sich uns sein Denken, aber geschützt durch eben
diese Beziehung, und das, was es schützt, ist nicht nur die Beweglichkeit des
Lebens (das wäre wenig), sondern das was die Fremdheit des Endes an
Unvorhersehbarem in das Denken hineinträgt.« Die Gedanken und die Dinge
verwandeln sich «in reine Gegenwart«, »die Gegenwart des Anderen in seiner
Fremdheit, das heißt in seiner radikalen Nicht-Gegenwart«, in der Oberfläche und
Tiefe, Leblosigkeit und Unendlichkeit in einem drohend-freundlichen Gast-Spiel
des Absoluten aufeinander treffen, in einer archäologischen Schichtung oft
unauffälliger, aber weitreichender Erfahrungen des Lebens, unterhalb der
gewohnten Klischees, Methoden und Techniken der vorschnell klassifizierenden
Analyse.
Modell für diese Tiefensedimente von Erfahrung sind die Höhlenmalereien in
Lascaux und Altamira und die in ihnen aufbewahrte vorzivilisatorische
Verzweigung der zugleich leidenschaftlichen und rationalistischen
Jägerkillermenschenaffen auf dem Weg zum Homo Sapiens gegenüber dem allzu
friedlichen und vielleicht sogar unkünstlerischen und nichttransgressiven
Neanderthaler. Maurice Blauchots Freundschafts-Buch ist ein Plädoyer für den
nicht-verfügenden, mit allen Sinnen, Herz und Hirn nachspürenden Modus der
Fährtenlese im Umgang mit dem tieferen Gehalt von Leben, Kunst und Literatur,
die sich der Krankheit von musealer Historisierung und medialer Beschleunigung
in die Brunnen und Katakomben der längst nicht vergangenen Vergangenheit
zwischen Barbarei und Zivilisation entzieht. Was seit dem Akademiebetrieb ab den
1980er Jahren im poststrukturalem Denkgestus gelegentlich allzu manieriert oder
schematisch daherkommt, erscheint hier noch als vitale Intuition. Unerhört
klingt die Überlegung, dass die barbarische Grausamkeit der Museen, Meisterwerke
an einem Ausstellungsort spektakulär zusammenzuräubern, an dem ihre Wahrnehmung
unmöglich werde, die Bibliotheken noch nicht erreicht habe: Noch zwinge man uns
nicht, »all die Bücher zugleich zu lesen«.
Die Suchmaschinen haben diesen Traum eines vollkonzentrierten, tastenden Lesens
in Klausur mittlerweile fast ausgehöhlt, in der Plünderung der Bände und in der
Entropie des Geschwätzes. »Geschwätz zerstört das Schweigen und verhindert
gleichzeitig das Sprechen.« Blanchot möge uns helfen, wieder lesen zu lernen.
Für ihn ist der Übersetzer »der heimliche Meister der Sprachendifferenz, nicht
um sie aufzuheben, sondern um sie zu nutzen, um in seiner Sprache, durch das
Zufügen gewaltsamer oder subtiler Veränderungen, eine Präsenz dessen zu wecken,
was an ursprünglich Differentem im Original vorhanden ist.« Dann wäre aber der
»gebührende Abstand«, den ernstzunehmende Autoren von ihren Lesern auch in der
Originalsprache verlangten, bereits jener Raum des überschauenden Wahrnehmens,
Übersetzens und Verstehens, die über die heutige kurzschlüssige und
augenblicksverliebte Selbstbestätigungs- und Konsumliteratur weit hinaus gehen.
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Maurice Blanchot
Die
Freundschaft
428 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
Aus dem Französischen von Uli Menke, Ulrich Kunzmann u.a.
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg
Matthes & Seitz Berlin
ISBN: 978-3-88221-543-4
Preis: 39,90 € / 53,90 CHF
Hörprobe
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