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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
Die Zeitschrift kommt als
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in einer limitierten Auflage
von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Seitwert


Ein Blätterhaus Sekunden vor dem Sturm

Das neue sprachliche und typographische Meisterwerk des Mark Z. Danielewski

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Danielewski erzählt die Geschichte von Sam und Hailey, zwei ewig jungen Teenagern, die mit verschiedenen Autos durch die USA und die amerikanische Geschichte rasen. Im ersten Buch schildert Sam seine Version über die Beziehung zu Hailey. Der Text läuft parallel zu einem am Seitenrand eingefrorenen Newsticker zu den wichtigsten historischen Ereignissen von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende 1863 bis zur Ermordung JFKs einhundert Jahre später. Dies ist zugleich der Beginn von Haileys Geschichte. Sie greift Sams Variante, seine Themen und Gefühle auf, berichtet aber aus einem anderen Blickwinkel. Der mit Haileys Text korrespondierende Zeitstrahl am Seitenrand endet im fiktiven Jahre 2063.

Only Revolutions hat keinen Anfang und kein Ende. Das Buch kann von beiden Seiten her gelesen werden, da die Texte der beiden Protagonisten aneinander gegenübergestellt sind wie die Köpfe von Bube, Dame und König im Skatspiel. In der Mitte des Buches, auf Seite 180 und 181, ist der Bericht der beiden als Palindrom angelegt. Die Schriftgröße der Doppelseite ist nur hier identisch.
Die typographischen Finessen des Buches sind zahlreich. Liest man zum Beispiel Sams Bericht, so schrumpft die Schriftgröße mit Zunahme der Seitenzahl, ebenso verhält es sich mit Haileys Text. Wer der Chronologie des Newstickers folgt, muss nach der Ermordung Kennedys das Buch um 180˚ drehen und kann dann mit Haileys Bericht fortfahren.
Der Verlag empfiehlt allerdings, das Buch alle acht Seiten zu drehen. Denn nur dann führen die beiden Geschichten einen Dialog; nur dann wird die Komplementärbeziehung der beiden Texte, werden die beiden Varianten ein und desselben Ereignisses unmittelbar deutlich. Denn im Grunde ist es nur eine Geschichte in doppelter Erzählperspektive.

Das Buch besteht insofern aus zwei Mal 360 Seiten. Jedes der insgesamt 90 Kapitel umfasst acht Seiten, jeder dieser acht Abschnitte besteht aus 90 Wörtern. Liest man nur die Initialen der einzelnen Kapitel, so ergeben sie immer wieder den Satz: „SAM UND HAILEY UND SAM UND HAILEY bzw. HAILEY UND SAM UND HAILEY UND SAM usw.
Jede Doppelseite enthält vier Textabschnitte, die, so die Übersetzer, „im Sinne des »de revolutionibus« die 360˚ der vollen Umdrehung eines Kreises ergeben.“ Symbolisch unterstrichen wird das Kreisprinzip durch die farbige Markierung des Buchstaben „O“ im Buch. Alle 90-Wort-Abschnitte sind als poetischer Gesang angelegt, als Canto in der Tradition des in Hailey geborenen Ezra Pound, bei dem das Thema Revolution ebenfalls eine große Rolle spielt.

In diesen Cantos werden Sam und Hailey als zwei sechzehnjährige Ausreißer charakterisiert, die gemeinsam eine wilde Tour quer durchs Land unternehmen. Ihre Irrfahrt, immer wieder von Einschüben aus der Sprache der Botanik begleitet, ist geprägt von Sexorgien, Gewalt, Geschwindigkeit und Geldsorgen. Das Paar versucht, dem vorgezeichneten Lebensweg zu entrinnen und die Geschichte zu überwinden. Auf ihrem atemberaubenden Trip bleiben sie immer sechzehn im doppelten Sinn, einerseits altern sie nicht, andererseits greift die Aussage das acht plus acht Seiten-Prinzip des Buches auf.
Haileys Initiale ist zudem der achte Buchstabe des Alphabets, analog ist Sams Initiale der achte Buchstabe des Alphabets von hinten. In Wirklichkeit aber sind beide eins, zwei Geister, mit denen Danielewski linkerhand Historiographie und Literatur revolutioniert.

Gerhard Falkner, der das Buch mit seiner Frau Nora Matocza übersetzt hat, ist ein profunder Pound-Kenner und Poet. Es lag deshalb nahe, ihm anzuvertrauen, dieses unübersetzbare Buch ins Deutsche zu übertragen. Zweifellos ist die Melodie, die das englische Original besitzt, in der Übersetzung eine andere, vor allem funktionieren einige Reime im Deutschen nicht. Aber besser als Falkner und Matocza die Gesänge umgedichtet haben, kann man es kaum machen. Ihre Dichtung ist mitreißend und erstaunlich, da nicht nur der 90-Wort-Rhythmus beibehalten wurde, sondern die vielen Wortneuschöpfungen Danielewskis entsprechende Berücksichtigung in der deutschen Übersetzung gefunden haben. So bleibt beim Lesen der Eindruck erhalten, als hätte Pound im London des frühen 20. Jahrhunderts Jack Kerouac und 50 Cent zu einem Drink in eine verrauchte Bar geladen, um gemeinsam einen abgefahrenen Roman zu schreiben.

Doch ist Danielewskis großer Gesang überhaupt ein Roman? Es ist auf jeden Fall ein typographisches und sprachliches Meisterwerk: Zwei Mal 360 Sprechgesänge, die wie die Cantos von Pound die Revolution im doppelten Sinne zum Thema haben. Einmal die Revolution des Politischen, dann aber auch die Revolution des Wortes, der Sprache. Wie Atlantik und Pazifik, die, wie eine Stelle des Buches verkündet, verbunden werden, um nie wieder getrennt zu werden, so verschmelzen diese beiden Arten der Revolution im Buch miteinander.
Auch Klio dichtet: Literatur und Kunst schreiben die Geschichte um, erfinden sie neu, und das mit einer Geschwindigkeit, die Schwindel verursacht. Zumal es Danielewski um nicht weniger als die Vollkommenheit geht: 360 Seiten, 360˚, 360 Wörter pro Doppelseite, wobei der 22. November 1963, der unaufgeklärte politische Mord an JFK den Mittelpunkt des Kreisgesangs bildet. Um diese Mitte herum rauscht das Universum der Helden dahin: Die soziale Kälte einer zähnebleckenden Welt, der Krieg, Tränen, Opfer, Sehnsucht, Freiheit sowieso, und Liebe, Sex und Einsamkeit, aber auch Träume von Jugendlichen, die Zerstörung, Qualen, der Anfang und das Ende von allem und jedem Einzelnen:

Wir sind jedes Extrem
Wir sind Killer
Wir sind überall
Wir sind die Zeit

Nach seinem Erfolgsroman House of Leaves ist Only Revolutions einmal mehr die Neudefinition der literarischen Gattung „Roman“. Only Revolutions ist eine intellektuelle Herausforderung und eine Revolution der Wörter; ein Buch für alle und keinen, ein seltenes Kunstwerk und ein großartiger Gesang.
Sam und Hailey sind on the road; sie reisen durch die große blaue Welt und die amerikanische Geschichte, die wie ein Blätterhaus Sekunden vor dem Sturm uns einen letzten Einblick ins Innere gewährt. Wir dürfen uns glücklich schätzen, die beiden Unsterblichen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu dürfen.
 








Mark Z. Danielewski
Only Revolutions
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Gerhard Falkner und Nora Matocza
(Orig.: Only Revolutions. The Democracy of Two Setout & Chronologically Arranged)
Klett-Cotta
365 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, farbig gedruckt
24,95
ISBN: 978-3-608-50123-0

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Von Goedart Palm
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