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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Unglaube ist der erste Schritt zur Philosophie.«
»Le premier pas vers la philosophie, c'est l'incredulité.«

Denis Diderot am 31.
Juli 1784

Enzyklopädist und Weltliterat

Zum 300. Geburtstag von Denis Diderot am 5.Oktober 2013

Von Dieter Kaltwasser


 

In seiner Geburtsstadt Langres steht er als Bronzefigur auf dem nach ihm benannten Platz, der romanisch-gotischen Kathedrale den Rücken kehrend, in direkter Nähe liegt sein Geburtshaus und pünktlich zu seinem 300. Geburtstag am 5. Oktober wird dort ein Museum eröffnet, das sich dem Leben und Werk des großen französischen Aufklärers widmet. Der Bildhauer Frédéric Auguste Bartholdi, Schöpfer der amerikanischen Freiheitsstatue, hat dieses Denkmal in Langres geschaffen. Die Errichtung fand 1884 unter heftigen Protesten der katholischen Kirche statt, die sich nicht damit abfinden wollte, dass ein Atheist und Materialist eine solche Auszeichnung erfuhr.

Denis Diderot wird am 5. Oktober 1713 als Sohn eines wohlhabenden Klingenschmieds in Langres geboren. Nach dem Besuch des Jesuiten-Kollegs geht er nach Paris und studiert am Lycée Louis-le-Grand, später am Collége d’Harcourt. Das Magisterexamen legt er im Jahr 1732 ab. An der Sorbonne beendet er sein Studium 1735 mit dem Baccalauréat, das ihm bescheinigt, zwei Jahre mit Erfolg Philosophie und drei Jahre mit Erfolg Theologie studiert zu haben. Da Diderot zum Leidwesen seines Vaters die Laufbahn als Geistlicher ablehnt und der Vater daraufhin jegliche finanzielle Unterstützung verweigert, schlägt er sich ein Jahr als Anwaltsgehilfe durch, lebt von schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten, schreibt Predigten für Missionare und ist als Hauslehrer tätig. Diderot besucht häufig die Pariser Cafés, wo er sich mit Intellektuellen, den philosophes, wie Jean Baptiste le Rond d’Alembert, Jean-Jacques Rousseau, Étienne Bonnot de Condillac und Melchior Grimm anfreundet. Als er dem Vater ankündigt, die Wäscheverkäuferin Anne-Toinette Champion zu heiraten, lehnt dieser ab und lässt den Sohn mit väterlicher Gewalt ins Kloster von Troyes bringen. Dort gelingt Diderot die Flucht nach Paris, wo er die Heirat mit Anne-Toinette im Jahre 1743 heimlich vollzieht. Drei Jahre später ist der Entwurf der Encyclopédie fertig und Diderot erhält das Druckprivileg. Zusammen mit einem Autorenkollektiv beginnt er sein berühmtestes Projekt: die 28-bändige Encyclopédie, eine Zusammenstellung des gesamten Wissens seiner Zeit. 1755 beginnt die Freundschaft mit Sophie Volland. Ab 1765 unterstützt ihn die russische Zarin Katharina II. Sie kauft seine Bibliothek und bezahlt ihn als Bibliothekar 50 Jahre im Voraus. 1773 reist er für ein halbes Jahr nach St. Petersburg. Am 31. Juli 1784 stirbt er in Paris nach einem Diner an Herzversagen. Diderot und sein Mitstreiter und Mitarbeiter an der Encyclopédie Paul Thiry d’Holbach sind beide in der Église Saint-Roch in Paris begraben.

Diderot nur als Enzyklopädisten zu bezeichnen, wäre falsch. Er hat Romane, Erzählungen und Theaterstücke geschrieben, als Autor von Bühnenwerken besitzt er großen Anteil an der Entstehung des bürgerlichen Dramas. Seine Romane La Religieuse, Jacques le fataliste oder Le Neveu de Rameau, die meisten davon erst postum erschienen, zählen zur Weltliteratur. Goethe und Schiller haben Romanauszüge von Diderot übersetzt, Rameaus Neffe wird erstmals 1805 gedruckt in Goethes deutscher Übersetzung. Hegel erläutert in seiner Phänomenologie des Geistes das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft am Beispiel von Jacques le fataliste, Hans Magnus Enzensberger bezeichnet den Roman als eines der intelligentesten Bücher der Weltliteratur.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verändern sich die Paradigmen der einzelwissenschaftlichen Disziplinen. In der Geschichtsbetrachtung, der Rechtsphilosophie und in der literarischen Kritik löst man sich von außermenschlichen, religiösen Normen. Fortschrittsglaube, Toleranz und eine naturwissenschaftlich-empirische Methode kennzeichnen dieses neue Zeitalter, das in Frankreich vor allem mit dem Namen Voltaires in Verbindung gebracht wird. Typisch für diese neue Richtung ist auch das Projekt der Encyclopédie, die neben der reinen Wissensvermittlung einen aufklärerischen Anspruch besitzt. Immanuel Kant wird später darauf hinweisen, dass die Aufklärung kein Zustand ist, sondern ein Prozess mit offenem Ausgang. Für den Erfolg der praktischen Philosophie, ihre Umsetzung, gibt es keine Garantie auf Erden. In der Encyclopédie von Diderot und seines Mitherausgebers d’Alembert heißt es: Projekt (Moral). Ein Plan, den man zu verwirklichen beabsichtigt, doch es ist ein weiter Weg vom Projekt zur Ausführung & ein noch weiterer Weg von der Ausführung zum Erfolg. Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen. Über zwei Jahrzehnte lang wird dieses aufklärende Gemeinschaftswerk einer französischen Gelehrtengesellschaft, so Manfred Geier in seinem Buch „Aufklärung – Das europäische Projekt“, gegen die heftigsten Widerstände von Kirche und Staat ankämpfen. Die Geschichte der Aufklärung ist ohne die Geschichte der Gegenaufklärung nicht zu haben.

Am frühen Morgen des 24. Juli 1749 wird Denis Diderot in Paris verhaftet und zur Festung Vincennes gefahren, wo er in eine Einzelzelle gebracht wird. Dort wird er bis zum November des gleichen Jahres bleiben. Der polizeibekannte philosophe hatte im Juni sein Buch Lettre sur les aveugles veröffentlicht, was ihm das Lob Voltaires und die heftige Reaktion der Staatsgewalt einbrachte. In einem polizeilichen Dossier ist festgehalten: Diderot, Autor, 36 Jahre alt. Mittelgroß, einigermaßen anständige Physiognomie. Ein sehr geistreicher Bursche, doch äußerst gefährlich. Er ist verheiratet, hat jedoch Mme Puysieux seit einiger Zeit als Mätresse. In Vincennes besucht ihn Rousseau, den die Verhaftung seines Freundes erschüttert. Auf dem Weg zu ihm hat er eine Erleuchtung, die zum Schlüsseldatum in der Geistesgeschichte der Moderne werden sollte. Von diesem Oktobertag 1749  an wird Rousseau für die Aufklärung wichtig. Er verfasst seinen „Diskurs über Wissenschaft und Künste“ und stellt als erster philosophe eine Dialektik der Aufklärung fest: Die Wohltaten des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts werden aufgewogen durch die zahlreichen Laster, die vom Trug des Scheins stammen. Mit dieser Kulturkritik setzt sich Rousseau von den Enzyklopädisten ab, aber auch von Voltaire. Diderot bleibt ihm als Freund gewogen, bis sie sich einige Jahre später öffentlich und irreparabel entzweien.

Der erste Band der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers erscheint im Jahre 1751, ein Epochendatum für die europäische Aufklärung. Mit changierenden Verantwortlichkeiten und Beteiligungen haben die Enzyklopädisten fünfundzwanzig Jahre an diesem Großprojekt gearbeitet, vom Vertragsabschluss im Jahre 1747 bis zur Versendung des letzten Bandes 1772 an die Subskribenten. Der Mitherausgeber d’Alembert zog sich 1759 aus dem Projekt zurück. An seine Stelle trat ab 1760 Louis de Jaucourt. 72998 Artikel, von über 100 Autoren geschrieben, darunter Rousseau und Voltaire, und 28885 Bildtafeln umfasst das Werk. Diderot bezeichnet den Kampf um die Enzyklopädie als einen moralischen Streit zwischen Gut und Böse. Gegen das kleine Licht der Aufklärung (éclairer und lumière) setzen seine Gegner auf die obskure und ignorante Dunkelheit.

Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss, so Diderot in der Encyclopédie und weist auf deren Strukturprinzip hin. Sie verfolgt zwei Absichten: Als Encyclopédie beschreibt das Werk die Ordnung und Vernetzung der menschlichen Kenntnisse, als Dictionaire raisonnée ist sie ein Sachwörterbuch, das die Prinzipien und die wichtigsten Details aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe enthält. Diese Rückbindung an die menschliche Perspektive und an die Anfänge der europäischen Philosophie, an den Vorsokratiker Protagoras und dessen Formulierung, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, war folgenschwer. Diderots Entscheidung für den Menschen brachte ihm Kritik ein, nicht nur von der katholischen Kirche, die das Mammutwerk 1759 auf den Index setzte,  sondern auch von Rousseau, der anfänglich mit Diderot befreundet war, und jüngst noch aus der postmodernen Gegenwartsphilosophie.

Wolfgang Welsch sieht zum Beispiel in seinem Buch Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne in Diderots Entscheidung für den Menschen und somit nach Welschs Interpretation gegen die Natur das Symptom einer in der Moderne grassierenden Krankheit. Für den Jenaer Philosophen gehört zu diesem Krankheitsbild die Vorstellung, die Natur als kalt und dumpf, den Menschen aber als das sinngebende Prinzip von allem zu betrachten. Aus diesen Vorstellungen habe sich die Matrix des modernen Denkens herausgebildet, das anthropische Axiom. Welschs philosophische Bemühungen bestehen nun in der Kritik und Aushebelung der Annahmen, dass wir alles nur nach menschlichem Maß erfahren und erkennen können. Diese Interpretation des Diderotschen Denkens mutet einigermaßen willkürlich an, da der französische Philosoph durchaus Positionen eines monistischen Naturalismus vertritt, wenn auch nicht in der Konsequenz eines La Mettrie, wie er sie in seiner Schrift L’homme machine ausführt.

Auch Diderots Infragestellen des Begriffs der „Individualität“ in seinem Dialog „D’Alemberts Traum“ spricht gegen diese Auslegung seines Philosophierens. Es scheint, dass Diderot in diesem Dialog sogar den Foucaultschen Gedanken vom Tod des Subjekts, vom Verschwinden des Menschen,
 wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, um mehr als 200 Jahre vorwegnimmt. Auf die Frage d’Alemberts, wie wir Schlüsse ziehen, antwortet Diderot: „Nicht wir ziehen sie. Sie werden alle von der Natur gezogen.“ Haben wir also auch als Autoren nicht die alleinige Macht und Autorität über unsere Gedanken? Darauf geht Alexander Becker in einem profunden Nachwort einer Sammlung philosophischer Schriften Diderots ein, die im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Die Sammlung enthält in der überarbeiteten Übersetzung Theodor Lückes den Brief über die Blinden, zum Gebrauch für die Sehenden, D'Alemberts Traum und den Nachtrag zu „Bougainvilles Reise“.

Becker sieht in Diderot ein mögliches Vorbild für naturalistisch gestimmte Philosophen, die vor der Frage stehen, was einer nicht-empirischen Disziplin wie der Philosophie  eigentlich noch zu tun bleibe, wenn alles, was es gibt, natürlich ist. Diderot verfolge einen monistischen Naturalismus bis in Bereiche hinein, die das Selbstverständnis als Person betreffen, sei es in der Frage der eigenen Identität, sei es in Fragen der Moral. Auch Widersprüche scheue er sich nicht offenzulegen. Und er spekuliere dort, wo die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse fehlten. Dieser Tage erscheint das Buch des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel, der naturalistischen Positionen nicht fern steht, mit dem Titel „Geist und Kosmos“. Darin experimentiert Nagel mit der These, dass die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Der Streit in der Philosophie hält also an.
 

Literaturempfehlungen:

Diderots Enzyklopädie
Mit Kupferstichen aus den Tafelbänden.
Neu ediert von Annette Selg und Rainer Wieland.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenhauer, Sabine Müller.
Verlag AB – Die Andere Bibliothek, Berlin 2013
500 Seiten
Einführungspreis bis 31. Dezember 2013
79 EUR / 9783847700135

Die Kraft der Vernunft
Von Thomas Hummitzsch
Artikel lesen
Der Germanist Manfred Geier legt mit seiner Geschichte der europäischen Aufklärung ein hellsichtiges Werk vor, mit dem er erklärt, warum die Europäer Kantianer im besten Sinne sind.

Manfred Geier
Aufklärung. Das europäische Projekt
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
415 Seiten / 24,95 EUR / 9783498025182

Denis Diderot
Philosophische Schriften
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alexander Becker
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 281 Seiten, 17 EUR
9783518296844

Wolfgang Welsch
Homo mundanus
Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne
Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist-Metternich 2012.
1004 Seiten
78 EUR
9783942393416
 

 


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