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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Zeiten des Übergangs

Ulf Erdmann Zieglers ambitionierter Roman »Nichts Weißes«

Von Lothar Struck

Den "Roman einer Generation" verspricht der Klappentext und wieder einmal frage ich mich, warum ich Klappentexte lese, wenn ich das Buch gelesen habe. Als wäre eine geschlossene Generation in der Mittelklasse situiert, würde studieren und dann später abbrechen und schließlich Pendler zwischen der deutschen Provinz, Paris und New York. All das trifft auf Marleen Schuller, 1965 geboren, zu. "Nichts Weißes", der Roman von Ulf Erdmann Ziegler, konzentriert sich auf Marleens Jahre zwischen 1984 und 1990. Dabei sind es vor allem die Ausflüge in die Kindheit und frühe Jugend, die in diesem Roman eingewobene Ortserzählung der "Pomona"-Siedlung im rheinischen Neuss, das Zusammenleben mit den Geschwistern Johanna (ein bisschen melodramatisch am Tage der Ermordung Kennedys geboren), Cristina (etwa anderthalb jünger; die beiden werden zeitweilig unzertrennlich) und dem "Nachzügler" Linus (wie der aus den "Peanuts"), 1972 geboren, die dem Buch diese fast vibrierende epische Intensität geben, die, sobald sich der allwissende Erzähler ganz Marleen zuwendet, nicht verschwindet, aber verflüchtigt. Auf eine merkwürdige Art wird das Buch dann plötzlich eindimensional, als würde man bei einer Theateraufführung ein Auge schließen.

Neuss, Gruiten und Poona

Aber gemach. Pomona kennt der aufmerksame Leser durch Zieglers Teilnahme am Bachmannpreis. Ich konnte damals nicht nachvollziehen, warum es keinen Preis dafür gab. Der Grad der Verdichtung, der in dieser Ortserzählung einer Neusser Siedlung auf kleinstem Raum erzeugt wurde (es gibt im Kapitel des vorliegenden Romans nach vier Jahren nur kleinere Änderungen), konnte es mit einigen der prämierten Texte allemal aufnehmen, aber das Nichterkennen von Qualität schien besonders 2008 ausgeprägt zu sein. Ziegler las damals mit einem großen "ß" auf dem Pult, was zunächst Rätsel aufgab, sich spätestens jetzt aber erklärt. Es geht um Typographie als Ästhetik, die Schönheit des Buchstabens (nicht um den Buchstaben selber, ansonsten verstehe ich nicht, warum der Roman in neuer Rechtschreibung gedruckt ist, also mit "dass" statt "daß"). Marleens Vater Petrus ist seit 1954 in der Werbebranche tätig, Mutter Lore illustriert später Kinderbücher. Petrus schmiedet Kampagnen, entwirft Logos und widmet sich dem Design von Schrift, den Buchstaben und Zeichen. Seine wichtigste Kampagne ist für den Tamponhersteller "o.b.". Sie wird als kleine Binnenerzählung mit Originalnamen fast wie eine Reportage erzählt.

Petrus' Agentur (er ist nur ein Angestellter) wird in den 70er Jahren internationaler. Er reiste jetzt viel, USA (einmal verbringt die Familie einen Weihnachtsurlaub auf Einladung eines Olivetti-Managers, eines Geschäftsfreundes, in Florida), Australien und Asien (Indien!). Der Vater entfernt sich nicht nur räumlich von der Familie. Ein Sommer wird noch einmal, eher bodenständig, in Gruiten bei Lores Mutter verbracht; Petrus kommt spät und wird von den Kindern wie ein Popstar empfangen. 1974 ist Petrus fast nur noch unterwegs, schickt merkwürdige Faxe aus Indien (man hat einen solchen neuen Fernkopierer angeschafft). Er ist jetzt 41 und wird sich einer Sekte in Poona anschließen. Marleen ahnt schon früh, dass der Vater nicht mehr zurückkommt. Lore verkauft die Luxusautos und trifft Arrangements mit der Bank, damit Haus und Vermögen nicht der Sekte überschrieben werden. Es gibt irgendwann Versuche von Petrus, Kontakt mit den Kindern aufzunehmen. Diese zeigen aber ein verblüffend strenges Desinteresse.

Die perfekte Druckschrift

Johanna wendet sich bereits als Kommunionkind exzessiv dem Katholizismus zu, während Marleen den Katechismusuntericht abbricht, weil sie als Mädchen nicht Messdienerin wie ihr Schulfreund Ingolf werden darf. Sie ist auch viel mehr fasziniert von Buchstaben, Typographen und gesteht Ingolf, dass sie die perfekte Druckschrift zu finden und zu erfinden gedenkt, was dieser ein bisschen fragend kommentiert, denn Marleens Leseschwäche ist inzwischen schulbekannt. Aber direkt nach dem Abitur, noch vor dem Studium, widmet sich Marleen der Bleisatzwelt und macht in Nördlingen, im Hohenlohischen, ein Praktikum (hier wird die Eigene Bibliothek gedruckt; der Meister kommt auch in einem ganz kurzen Cameo-Auftritt vor). Fräulein Schuller bekommt einen Heiratsantrag (glücklicherweise löst sich in diesem Moment die Markise des Cafés mit Karacho und lenkt ab), erwirbt sich Respekt und ihre Leidenschaft erhält weitere Nahrung. Die Universitätszeit ab Mitte der 80er Jahre (das Fach nennt sich "Visuelle Kommunikation") gerät dann fast ein bisschen slapstickhaft. Ziegler wechselt vom (temporären) Hermann-Lenz-Ton (das Hohenlohische halt) in eine Art pochiertem Sven-Regener-Duktus, wenngleich die Schilderungen über "Betrieb" und Zeitgeist von süffisant-ironischer Klarheit durchdrungen sind: Gerüchte gibt es viele, aber man fällt doch nicht drauf rein. Jüngere sehen Älteren dabei zu, wie sie Eingebungen haben: dann haben sie plötzlich auch welche. So wie man im Liebesbett eine Sprache schneller lernt, lernt man hier künstlerische Sensibilität. Paare trennen sich selten im Streit. Die Kreise wachsen. Wissen und Ahnen, erotische und fachliche Reputation verschränkt wie Yin und Yang. Geld spielt keine große Rolle. Einige werden zu Vertrauten der Dozenten. Zum Glück kann man nicht ewig studieren, sonst wäre bald ein Platz mehr dort, wo sich die Talente tummeln. […] jede Generation glaubt, die Rollen erfunden zu haben, in die sie schlüpft. Die Professoren lesen kursorisch Theweleit und sind noch im Post-68er-Kater, und es ist die erste Studentengeneration, die den zurückgelassenen Nektar ihrer Vorgänger verwertet (und gelegentlich verschüttet). Wohngemeinschaften sind irgendwie wild und chaotisch und die sieben Zimmer von Marleens WG durchdrungen von einem Blechsound, ein Scheppern und Jaulen, zusammengehalten vom kapriziösen Gesang einer männlichen Stimme. Marleen lernt Franziskus kennen (den sie Franz nennt), ein Kauz und intellektuell Hochbegabter, also unterfordert, der ihre sexuellen Verführungen fast mehr erträgt als genießt.

Schließlich bewahrt sie ein Professor vor dem Schicksal, sich an der Hochschule und ihren Ritualen aufzureiben und vermittelt ihr eine Stellung in der Werkstatt des Meister-Typographen von Titus Passeraub in Paris. Der Wechsel fällt nicht schwer, da Franz sich andeutungs- und kommentarlos aus dem Staub gemacht hatte. Sie bekommt einen Arbeitsvertrag für ein Jahr und betreut wie nebenbei noch die Kinder der Schweizer Familie Jaccottet, die ihr eine kleine Kammer vermietet hat. Die typographischen Fachexkurse und -dialoge nehmen zu. Es geht um Minuskeln, Serifen, Versalien, englaufend, Flattersatz, oder randscharf; der ahnungslose Leser muss einiges nachlesen. Passeraub hatte die Schrift Kosmos erfunden. Mit der weitgehend noch geheimen Entwicklung von Tempi Novi soll schließlich die Vollendung der modernen Schrift gelungen sein. Marleen ist gepeitscht von Tatendrang, darf an der Weiterentwicklung in ultrafett mitarbeiten, aber Passeraub, das Genie, bleibt ob der eigenen Kreation skeptisch. Am Rande wird eine kleine Philosophie der Typographie entwickelt. Auch hier bekommt Marleen Anerkennung und wird als großes Talent erkannt. Fast en passant lebt Marleen Gleichberechtigung und das ohne elaboriert-ideologischen Ballast. Eine der subtilen Botschaften in diesem Roman.

Weniger gelingen die sporadischen Erzählungen der erotischen Erlebnisse Marleens. In Bezug auf Ingolf zeichnet Ziegler leicht überspannt schon im warmen Hauch von Freundschaft die beiden Kinder zu Liebenden. Später dann heißt es, dass Marleen die männliche Schüchternheit sehr gut kannte und ein bisschen despektierlich klingt das schon, dass sich in ihren Betten keine Draufgänger gefunden hätten. Überhaupt scheint Ziegler seiner erzählerischen Kraft gegen Ende weniger zu vertrauen. Immer mehr wird dem Roman zugemutet. Dass Marleen Legasthenikerin ist, spielt überhaupt keine Rolle, außer, dass es einmal als Kontrast zu ihrem Interesse Buchstaben gegenüber verwendet wird. Bemüht wirkt auch das gegen Ende fast hektische Fortschreiben eines Plots. Der Vater ist nach mehr als zehn Jahren zurückgekommen, gibt ein Interview in einer Fachzeitschrift und baut sich mit einem Partner eine neue Werbeagentur in Hamburg auf. (Es ist das letzte Mal, dass Petrus in dem Buch vorkommt.) Und natürlich (natürlich?) trifft Marleen auch den verlorenen Franz in Paris. Überglücklich imaginiert sie schon ein Zusammenleben, aber Franz flieht abermals, diesmal jedoch mit Nachricht. Er will ein Keuschheitsgelübde ablegen und Mönch werden. Da ist Marleen jedoch schon von ihm schwanger. Den anfangs als unvermeidlich angesehenen Schwangerschaftsabbruch lässt sie nicht vornehmen; Antoine wird am 8. August 1988 geboren.

Ambitioniert und zuweilen übermotiviert

Eine Woche später sitzt sie wieder bei Passeraub und den anderen Kollegen in der Werkstatt. Der Chef nimmt sie mit zu einem seiner großen Kunden in den USA (die Firma heißt hier "IOM"). Am Ende wird die aktuelle Gegenwart als Zukunftsvision vorweggenommen: Der Siegeszug des Computers und dann des PC ist unaufhaltsam; die Branche muss sich umstellen, die Frage ist nur wie. Marleen bewirbt sich bei IOM, obwohl Passeraub sie befördert. Sie lernt die beiden schwulen Kjell und Hans kennen (Hans ist schon von seinem baldigen Tod gezeichnet). Und sie zieht mit Kjell, David und Tom zusammen, lebt dann in den USA. Irgendwann stößt der kleine Antoine zu ihnen. Zwischendurch wird Marleen (und mit ihm der Leser) in wenigen Zeilen durch ein Telefonat mit Cristina auf den neuesten Stand gebracht: Lore lebt mit dem ehemaligen Kaplan, der nun wieder Arzt ist, zusammen. Cristina wird ihren südafrikanischen Freund heiraten. Lores Mutter, anlässlich der Gruiten-Sommerfrische einhundert Seiten vorher eingeführt, ist im Krankenhaus. Und Franz hatte sich in Neuss gemeldet, aber Marleen hatte in ihrem trockenen Pragmatismus längst beschlossen, Franz zu vergessen, wenn möglich. Sie erfindet am Küchentisch noch Dingbats (mit einem Auge als "e"). Das alles findet auf den letzten zwanzig Seiten statt und noch fünf Seiten vor Schluss wird die Geschichte von Muddy erzählt, weil diese einen Spruch gesagt hat, an den sich Marleen erinnert.

Es ist schon klar: Da sich die Perspektive Marleens immer mehr verschiebt (weg vom Vergangenen, hin zur Zukunft), muss dies auch ein Erzähler aufzeigen, mitmachen. Aber es ist ein allwissender Erzähler, der sich sogar gelegentlich ein joviales "wir" erlaubt. Da hat man das Gefühl, die Fäden zu den eingeführten Figuren werden allzu fahrlässig gekappt. Dabei erreicht die Durchlaufgeschwindigkeit der Protagonisten zuweilen rasante Dimensionen. Man kommt sich vor, als würde einem auf einer Party dauernd neue Gäste vorgestellt, die aber schon auf dem Weg zur Tür sind und nur einen kurzen Abschiedsgruß zurufen können. Dabei gibt es sehr schöne Stellen, die Zieglers Könnerschaft zeigen. Die Schilderungen der 60er und 70er Jahre geraten stimmungsvoll. Und als Marleen ihren 20. Geburtstag mit Cristina in der Düsseldorfer Altstadt feiert und da es Silvester ist, schnorren sich die beiden Frauen durch die Theken und ein seltsames Gemeinschaftsgefühl jenseits bloßer Trinkerseligkeit entwickelt sich für kurze Zeit.

Wunderbar expressiv und gleichzeitig ein bisschen verträumt schildert Ziegler, wie sich Paris der jungen Marleen als fast körperliche Erfahrung zeigt: Sie Stadt ließ sich anschauen wie ein Kino, sie sah nicht zurück. Männer mit schmalen Gürteln über expandierenden Bäuchen. Frauen im Galopp auf klappernden Schuhen. Kinder in Schuluniformen, sich zum Abschied küssend. Bustüren, die sich zischend öffnen. Bäume mit Eisenkragen im Asphalt. Metropolitain. Tabac-Presse. Défense d'afficher. Da war ein Fuchteln und ein Schmatzen, ein Rufen und ein Augenzwinkern. An der Concorde stieg sie nicht um wie sonst, sondern ließ sich mit den anderen treiben. Die merkwürdige Lust, Männern in Anzügen zu folgen. Die sahen so aus, als wüssten sie, wo es hingeht.  

Ulf Erdmann Ziegler hat ein sehr ambitioniertes Buch geschrieben: Mal Campus-, mal Orts-, mehr als man denkt Religions- und, vor allem, Entwicklungsroman, eine kleine Kulturgeschichte der Typographie an der Schwelle zum Computerzeitalter und ein Abgesang auf die zu Ende gehende Heimeligkeit der alten Bundesrepublik. Das wirkt manchmal etwas übermotiviert, aber das ist eine Kritik an einem Werk, das sich auf hohem Niveau befindet. Zieglers Roman verdeutlicht, was die 80er Jahren waren: Zeiten des Übergangs; noch gar nicht so lange her und doch schon fast eine "alte Zeit". Und der Abschied vom Bleisatz ist die Metapher für den Einzug in eine wie auch immer noch zu bezeichnende Epoche ("Post-Moderne" gilt nicht). Dabei ist der Titel, "Nichts Weißes" (mit "ß" auf dem Schmutztitel), multisymbolisch. Zum einen Symbol für den Verfall der einst so schönen Neusser Siedlung (das Weiße bröckelt ab und mit ihm die Kindheit und Jugend) oder, zum anderen vielleicht, ein Bild für etwas Verborgenes, etwas immer schon Vorhandenes, welches durch eine Umkehrung erst sichtbar gemacht wird. Im Traum kann Marleen was weiß ist, als schwarz sehen. Dann liest man die Buchstaben über die weißen Zwischenräume.  

Und da ist das Buch aus und man blättert zum Anfang, als eine Frau in einem Flugzeug von CDG nach JFK ist und schläft, behütet von einem Kind und träumt, dass sie schläft. Das muss irgendwann 1991 ein, vor mehr als zwanzig Jahren. Ja, trotz (und ein bisschen auch wegen) aller Kritik: ich möchte wissen, wie es weitergeht mit Marleen, ihrer Familie, den Freunden und Antoine. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 








Ulf Erdmann Ziegler
Nichts Weißes
Roman
Suhrkamp
Gebunden, 259 Seiten
19,95 €
ISBN: 978-3-518-42326-4

 


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