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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Kontrolliertes Unglück

Über Hinrich von Haarens filigranen Romanerstling »Brandhagen«

Von Lothar Struck

"Panorama einer kleinen Gesellschaft" untertitelt Hinrich von Haaren sein Buch "Brandhagen". Am Ende, nach 300 Seiten, kommt er darauf zurück und zieht fast eine Bilanz seines Romans, den ich lieber "Erzählung" nennen möchte: Und nach und nach entstand so in mir ein Bild, das meine Gedanken vervielfältigte, ein Panorama, über das Krankenzimmer, über Erdmutes Kammer, die Kleine Straße, Hohengraben, über Brandhagen hinaus, ein Panorama, in dem ich lebendig war, immer lebendig gewesen war, von dem ich aber auch mit unfehlbarer Sicherheit wusste, dass ich darin wohl schon bald jene zersetzenden Zweifel, jene Verwüstung und Flucht entdecken würde, die wir nur für den katzenhaften Moment der Kindheit und auch dann nur mit fremden, porösen Worten verborgen halten können.  

Um es gleich vorweg zu nehmen: "Brandhagen" ist ein im besten Sinne bemerkenswertes Buch. Erzählt werden 12, 13 Jahre einer Kindheit Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre. Die ersten Erinnerungen des Ich-Erzählers setzen vielleicht mit drei oder vier Jahren ein; am Ende ist er 15 oder 16. Alles spielt sich in dem norddeutschen (fiktiven) Dorf Brandhagen ab. Die zuweilen kapriziöse Mutter hatte einen Laden mit Porzellan und Nippes (das Cover simuliert die im Buch vorkommenden Porzellanengel), der Vater führte ein Eremitendasein in seiner Werkstatt, in der er Porzellan wieder restaurierte (für Kinder muss es herrlich gewesen sein, sich in diesem Porzellanstaub zu tummeln) und sich ansonsten aus allem heraushielt. Heimliche Herrscherin war die eher autoritäre Großmutter (väterlicherseits). Bei ihr fühlte sich das Kind aber geborgen; sie begegnete ihm ohne die übliche erwachsene Herablassung und beschützte es beispielsweise vor der allzu rigorosen Kindergärtnerin. Immer wieder gab es Sticheleien und Revierkämpfe zwischen Großmutter und Mutter; beide saßen sicher auf der Insel ihres Hochmuts.

Nach und nach werden die Protagonisten vorgestellt. Im Haus gegenüber wohnte Tante Alma mit ihrem Mann Olaf und ihren vier Kindern, Georg, dem Ältesten, den Zwillingen Linda und Liane und Alexandra, nur ein Jahr älter als der Erzähler. Sie wird seine erste Spielgefährtin und vermutlich wurde niemals anmutiger das Spielen mit dem Kaufmannsladen erzählt als in diesem Roman. Für die Großmutter stand schon sehr früh fest: Alexandra wird die legitime Nachfolgerin für den Laden, den sie ihrer Schwiegertochter nur ungerne überließ.

Aus Marsch-am-Marsch kommt die 18jährige Erdmute als Haushaltshilfe. Was zunächst als feiner Schliff im Anschluss an die Hauswirtschaftsschule gedacht war, dauerte schließlich zehn Jahre. Das zunächst schüchterne Mädchen in ihrer sauber aufgeräumten, fast spartanisch eingerichteten Kammer war für das Kind im Laufe der Zeit große Schwester, Spielpartnerin, Respektsperson, Vertraute, Schwärmerei, Kumpel und Eifersuchtssubjekt. Ihre Heirat, die gleichbedeutend mit ihrem Auszug war, nahm er wie einen Verrat an seiner Kindheit. Da passt es, dass ausgerechnet auf der Hochzeitsfeier das erste eigene Besäufnis stattfand und gleichzeitig die geliebte Großmutter in ihrer Stube einen Schlaganfall erlitt, der sie von nun an zum hilflosen Pflegefall machte (wobei ihr in ihrer Eingeschränktheit immer noch ein gewisses Drangsalierungspotential unterstellt wurde).

Filigrane Portraits

Geheimnisvoll bleibt die somnambule Schwedin Asta von Merk mit ansonsten ungewisser Herkunft und ihrem Faible für französische Literatur (Voltaire,  Stendhal, vor allem aber Proust - Bücher, die man in der Leihbücherei niemals fand, sondern stattdessen "Angelique"). Später zeigt sich, dass Asta nicht nur der Literatur zusprach, sondern auch jungen wie älteren Männern aus Brandhagen. Astas Ehemann Henry trieb in seiner Freizeit in seinem Studierzimmer weitgehend unbekannt bleibende Blätterbeschriftungen, die, wenn sie als Briefe doch einmal verschickt wurden, in einem unverhohlenen und unbeholfenen Hass sprühende Angriffe auf die Vollstrecker der Brandhagener Lokalpolitik zum Ausdruck brachten und ein klebriges Netz des Nepotismus und der Selbstbereicherung anklagten. (Nicht auszudenken, welche Karriere dieser Mann als Netzquerulant vierzig Jahre später hätte machen können.)

Mit wechselnden Intensitäten bildeten Pauline von Merk, Nelly Blank von nebenan und Krystina, die (uneheliche!) Tochter von Tante Lise, der Heimkehrerin, die für einige Zeit mit ihrem herrischen Wesen für Furore sorgte, zusammen mit Alexandra und der bedächtigen Erdmute den Umgang des Kindes und Jugendlichen. Später gab es Klavierunterricht bei Hannah Jennings (und ihrer Mutter, die auf einem Sofa als Sidekick assistierte). Er genoss diese Stunden und mochte die bisweilen schrulligen Frauen, weil sie nicht dazugehörten und so ganz anders waren. Im Gegensatz zu Frau Trautwein, einer Lehrerin der alten Schule, die in vielen Fächern das Neue Testament in das Zentrum rückte.

Später dann, mit der erwachenden Reflexionsfähigkeit, entstehen aus den zunächst nur grob gestrickten Figurenbildern fast beiläufig filigrane, genaue Portraits und so schließlich ein Psychogramm einer Dorfgesellschaft. Die nächstgrößere Stadt ist C. und gilt schon als andere Welt (was subtil die Abkürzung zeigt). Und Hamburg, nur eine Zugstunde entfernt, war ein anderes Lebensuniversum. Zudem es der Ort des Unfalltodes von Tante Lise ist, der die Familie, und vor allem des Erzählers so geliebte Großmutter nachhaltig prägen und verändern wird.
Lises Tod ist fast das einzige Ereignis, das man als "Katastrophe" in dieser Brandhagen-Welt ausmachen kann. Ansonsten plätschert (scheinbar) das Zusammenleben dahin. Der Ich-Erzähler schöpft aus seiner Erinnerung und reflektiert gleichzeitig mit seinem heutigen Wissen. Dass er dabei Sachen weiß, die er damals noch nicht wissen konnte, stört nicht, sondern bereichert den Roman, weil von Haaren damit explizit der Versuchung widersteht, aus der Kinderperspektive zu erzählen (und sich entweder dümmer zu machen als er sein kann oder als altkluger Balg zu inszenieren). Und noch einen anderen Fehler vermeidet der Autor: Er denunziert seine Figuren und ihr heute manchmal unverständliches Handeln nicht. Das damals Schöne ist auch heute noch schön; die (seltenen) Stockschläge werden auch heute noch als das empfunden, was sie waren: erniedrigend und schmerzhaft (aber das Anschweigen war noch schlimmer). Und in den schönsten Momenten wird die Kindheit wiedergeholt und noch einmal genossen. Dabei geht es weder um eine nachträgliche Idyllisierung noch um Anklage. Doch niemand saß über die Unglücklichen zu Gericht oder bezog moralisch und religiös Stellung wird einmal festgestellt und auch von Haaren verweigert sich dem selbstgefälligen und larmoyanten Nach-Urteilen. Über genaue Beobachtung und Reflexion entsteht die Brandhagen-Welt als Phänomen erneut; klarer und zugleich geheimnisvoller denn je.

Genaue Miniaturen

Daneben gibt es unzählige kleine und kleinste sorgsam gearbeitete Miniaturen. Beispielsweise wenn am Morgen nach einer rauschenden Faschingsfeier die Kinder auf eine Art Entdeckungsreise durch das Haus gehen: Die Dekoration, die am Abend das Haus in ein vollbusiges Theater verwandelt hatte, diese mühevoll hergestellte Kulisse, hing jetzt in Fetzen von den Wänden. Vorsichtig bewegten wir uns zwischen den Partyresten und dem abgestandenen Geruch vorwärts, steuerten auf den klobigen Glastisch mit den Chrombeinen zu, an dem Alma sich so oft das Schienenbein stieß, da hier noch eine große Auswahl an Snacks vorrätig war und wir uns vor dem Frühstück heimlich mit Chips, Würmern und Crackern vollstopfen konnten. Im engansitzenden Frotteeschlafanzug führte ich diesen kleinen Stoßtrupp an, obwohl natürlich Alexandra gern kommandiert hätte, doch war sie nach der nächtlichen Entdeckung in der Küche noch steif und verschwiegen. Am Tisch griffen wir bei dem salzigen Zeug zu und bedienten uns auch aus den Wein- und Biergläsern. Das Haus war still, aber es schien mir, als ruhten sich die Geräusche der Party nur aus, als könnten sie jeden Moment wieder mit voller Kraft auffahren.

Oder wenn Anka von Merk ihre in herzlicher, gegenseitiger Abneigung verbundene Schwiegermutter in ihrer Neubauwohnung - natürlich in C. - besucht. Dies geschah jeden Donnerstagnachmittag zwischen 15 und 17 Uhr. Die alte Dame genoss diese Donnerstagsbesuche nicht im Geringsten, selbst nicht als unwillkommene Abwechslung in ihrer zunehmenden Einsamkeit. Sie wäre lieber ein für alle Mal allein geblieben heißt es zunächst. Alle verfielen in einen längst ritualisierten Smalltalk, Pauline erfand Ereignisse in der Schule, ihre Mutter tat so, als sei sie stolz auf ihre Tochter. Und dann geschah doch manchmal etwas sehr merkwürdiges wenn es nach genau zwei Stunden Zeit war, sich zu verabschieden…flog ein Schatten des Entsetzens über Frau von Merks Gesicht, und es kam mir vor, als hätte sie in einer für sie selbst überraschenden Anwandlung nun alles getan, um uns zurückzuhalten, wenigstens für ein paar Minuten, als wäre jede Quälerei, jedes Lächeln, je des "Wie schön du es hier hast" von Asta besser zu ertragen gewesen als das Alleinsein. Die alte Dame hatte dann ihre kleinen Tricks, uns zum Verweilen zu zwingen. Plötzlich musste sie noch den Rest des Apfelkuchens "für die Kinder" einpacken, oder sie erinnerte sich an ein Buch, das sie für Pauline gekauft, oder einen Zeitungsartikel, den sie für Asta ausgeschnitten hatte. Ach, wenn sie doch nur wüsste, wo er war. Aber es würde ihr sicher gleich wieder einfallen, wenn wir nur ein paar Minuten Geduld hätten. Dann lief sie nervös und ziellos durch die Wohnung auf der Suche nach dem Artikel oder dem Buch oder einer Tüte für den Kuchen und verschaffte sich so einen ungnädigen Augen blick Aufschub (Astas Augen auf der Armbanduhr), bevor die Stille sich in den Zimmern wieder über die Geistermöbel senkte, eine Stille, so dicht und fest, dass die Woche bis zum nächsten verhassten Besuch wie eine nicht zu erobernde Festung schien.

Kontrolliertes Unglück

Aus der Alltäglichkeit des Kindes, Jungen, Pubertierenden inmitten seiner Eltern, Cousinen, der jungen Haushaltshilfe Erdmute, Großmutter, Lehrer und anderen Dorfbewohner spannend zu erzählen ohne dabei in einen schnöden Realismus zu verfallen, ist eine Kunst. In der fast durchweg chronologischen Erzählung spiegeln sich die schleichenden aber doch sukzessive von statten gehenden Änderungen und Entwicklungen (des Protagonisten sowohl als auch der Dorfstruktur). Hinrich von Haaren hat einen klugen, epischen Bildungsroman geschrieben, wobei die Entwicklung des Helden nicht rebellisch, sondern evolutiv erfolgt. Dies steht (scheinbar) im Gegensatz zum 2010 erschienenem Erzählband Die Überlebten (es waren eher Novellen als Erzählungen), in dem die Protagonisten eine regressive Verwandlung vom Daseienden zum nur noch Seienden durchlebten, weil sie ihre Liebes- bzw., allgemeiner, Sozialfähigkeit durch ein einschneidendes Erlebnis scheinbar irreversibel eingebüßt hatten.

Brandhagen bleibt ein hermetischer, von jeglichen politischen und sozialen Einflüssen scheinbar unberührter Biotop. Ganz selten und meist nur auf dem Schulhof wird das Kind beispielsweise über das Fernsehen mit der Welt konfrontiert; historische und/oder politische Ereignisse (Mondlandung? Fußball-WM? Terrorismus?) gibt es nicht. (Nur die Großmutter schimpfte ab und zu über die Nazis im Ort, die nach 1945 unbehelligt weitergemacht hätten.) Dennoch hat man fast nie den Eindruck von Beklommenheit oder Enge. Erst wenn die Älteren, Mitte/Ende der 70er Jahre, an Wochenenden oder Feiertagen aus den Universitäten zurückkommen und einige von ihnen an fernen Orten studieren, regt sich endlich ein Fernweh im Protagonisten nach den Orten, deren Namen das Gefühl des Zurückgebliebenseins…bis ins Unerträgliche wachsen ließ. Die Bilanzierung des Zusammenlebens, nein, besser: Nebeneinanderlebens des Ehepaares Asta und Henry von Mark steht generalisierend für den Brandhagener Kosmos. Man lebte in einer Art kontrolliertem Unglück, in dem eine verzweifelte Hand die andere wusch und ein Tag nach dem anderen zwar in Hoffnung, aber ohne Überzeugung auf ein besseres Leben an ihnen vorüberrollte.

Hinrich von Haaren entwickelt eine bisweilen anrührende Empathie für diese Unglücklichen, die er dann jedoch - zwangsläufig und gerne - verlassen musste, um sein Leben zu beginnen. Alles geschieht ohne billiges Pathos und ohne Rührseligkeit. Vielleicht kann man das nur verstehen, wenn man diese Zeit aus der Perspektive des Erzählers kennt. Und der eigenen Kindheit einen Platz jenseits aller Plüschigkeit und Larmoyanz eingeräumt hat. Es ist schön, dieses Buch zu lesen.

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 










Hinrich von Haaren
Brandhagen
Roman
Luftschacht Verlag,
Wien 2012
geb., Fadenheftung, Schutzumschlag, Lesebändchen
12.8*20.8 cm, 296 Seiten
ISBN 978-3-902373-94-6
€ 22.40 [D], € 23.00 [A], sfr 32.50



 


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