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Jahrestage: Hermann Hesse 02.Juli 1877 - 09.August 1962 |
»Sei Du selbst!« »Man wird ja immer verdrießlich-wählerisch in Dingen der Lektüre und kommt mit dem Meisten nicht mit. Der Steppenwolf hat mich seit langem zum erstenmal wieder gelehrt, was Lesen heißt.« (Thomas Mann) Die hier in einem Brief vom 3. Januar 1928 zum Ausdruck gebrachte hymnische Anerkennung eines Literaturnobelpreisträgers galt einem Gleichrangigen. Wie Thomas Mann, so gehört auch sein Freund Hermann Hesse zu den literarischen Titanen des 20. Jahrhunderts. Das Glasperlenspiel, Demian, Der Steppenwolf: Noch heute beginnt die Entdeckung der Weltliteratur für viele Leser mit den Romanen Hermann Hesses. Jede Generation hat in diesen Büchern etwas gefunden, was ihr wichtig wurde, und das für Hesses anhaltenden internationalen Erfolg bis heute sorgt. Zum 50. Todestag am 9. August 2012 erschienen zwei bedeutsame Biografien, die den Spuren dieses eigenartigen wie genialen Kauzes von seinem Geburtsort Calw bis zu seinem langjährigen Wohn- und Sterbeort Montagnola folgen. Da ist zum einen Gunnar Deckers Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten, erschienen beim Carl Hanser Verlag; ein 703-Seiten starkes Werk, das Hesse von den ideologischen Vereinnahmungen des letzten Jahrhunderts befreien will und ihn als einen Menschen vorstellt, der lebenslang mit immer neuen Krisen und Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. In eine streng pietistische Familie hineingeboren, fand Hesse erst über schmerzhafte Krisen zur Literatur. Dabei blieb er – dem promovierten Philosophen und Biografen Decker zufolge – stets ein passionierter Einzelgänger, der Freunde und Ehefrauen meist nur aus der Distanz ertragen konnte. Die Gewissheit, dass jeder Mensch eine Welt in sich birgt, und die Erkenntnis, dass die äußere Realität und die anderen Bewohnern dieses Planeten einander ab einem gewissen Grad fremd bleiben, prägt Hesses Literatur. Decker beschreibt zugleich sehr detailfreudig die vielen Neuanfänge Hesses, seine Wanderungen mit dem Ziel, ein literarisch gelingendes Dichterleben zu erschreiben. In die Darstellung fließt das umfangreiche Briefwerk – insgesamt umfasst es schätzungsweise 44.000 Briefe – mit ein. Auch wenn Hesse es zeitweise selber nicht so empfunden haben mag, so belegt Decker, dass dieser große und eigenwillige Erzähler ein durchaus gelungenes Leben geführt hat, und mehr denn je auch ein noch immer präsenter »Gegenwartsautor« ist.
Kein
deutscher Autor des 20. Jahrhunderts hat mehr Leser begeistert als Hermann
Hesse, befindet denn auch der Autor der zweiten großen Biografie – Heimo Schwilk
– in seiner Aufarbeitung
Hermann Hesse.
Das Leben des Glasperlenspielers,
vom Piper Verlag herausgebracht. Auf 432 Seiten schildert der Publizist und
Berliner Redakteur der Welt am Sonntag das Leben des Dichters, das in der
Rückschau bei Weitem nicht so beschaulich war, wie es auf den ersten Blick
erscheinen mag. Schon als junger Mann empfand es Hesse als Befreiung, der Enge
seines pietistischen Elternhauses zu entfliehen und seiner Berufung zum Dichter
zu folgen. Und ob Asket, Buddhist oder ruheloser Nomade – Hesse hat sich immer
wieder neu erfunden. Am Ende blieb er doch nur einem treu: sich selbst.
Herausgekommen
sind insgesamt zwei Biografen mit faszinierenden Einblicken in das Leben und
Werk eines bedeutenden Dichters und Schriftstellers, der uns allen auch heute
noch viel zu sagen hat. Fazit: Hermann Hesse besitzt eine zeitlose Bedeutung.
Wer sich vor allem philologisch interessiert auf seine Spuren begeben will, ist
bei Decker sehr gut aufgehoben; wer dagegen vorrangig fundierte, mehr
biografische Informationen und Unterhaltung sucht, dem sei Schwilk ans Herz
gelegt. Der Sohn frommer Pietisten
Hermann Hesse
wird am 2. Juli 1877 als zweites Kind von Johannes Hesse und seiner Frau Marie,
geb. Gundert, in Calw/Schwarzwald geboren. Die väterliche Familie ist
baltendeutscher, die mütterliche schwäbisch-schweizerischer Herkunft. Hesse hat
insgesamt fünf Geschwister, von denen aber zwei früh versterben.
»Um meine
Geschichte zu erzählen, muß ich weit vorn anfangen. Ich müsste, wäre es mir
möglich, noch viel weiter zurückgehen, bis in die allerersten Jahre meiner
Kindheit und noch weit über sie hinaus in die Ferne meiner Herkunft zurück.« Die Rückkehr nach Calw erfolgt bereits 1886. Der neunjährige Hesse tritt in das Calwer Reallyzeum, die Lateinschule, ein. Zuerst wohnt die Familie im Haus des Verlagsvereins, später in der Ledergasse. 1890 wird Hesse zur Vorbereitung für das Landexamen auf das Gymnasium Göppingen gebracht. In diesen vier Jahren ist das Städtchen Calw, das Hesse zur »schönsten Stadt zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapore« verklärt, Inbegriff der Heimat geworden. Die Calwer Kindheit und Jugend kehren in vielen seiner Dichtungen und prosaischen Arbeiten wieder. 1906 kommt die Erzählung Unterm Rad heraus, die weitgehend in Calw geschrieben wurde und auch dort spielt. Auch Hermann Lauscher (1900) und Knulp (1915) spielen an den Ufern der Nagold. Wenn Hesse über seine schwäbische Heimatstadt schreibt, verwendet er in seinen Erzählungen den Decknamen Gerbersau. Doch nicht der Dichterberuf ist für den Knaben geplant, vielmehr soll Hermann das Seminar im Kloster Maulbronn besuchen.
Der Seminarist Am 15. September 1891 wird Hesse nach glänzendem Bestehen des Landexamens Seminarist im Kloster Maulbronn. Das alte Zisterzienser-Kloster beherbergt ein theologisches Seminar mit dem Auftrag, die Zöglinge frühzeitig durch die alten Sprachen auf das Studium der Theologie vorzubereiten. Mit seinen ungefestigten 14 Lebensjahren tritt der junge Calwer in das Klosterseminar ein. Hier erwartet ihn ein überdimensioniertes Lernprogramm: Nach dem Aufstehen um 6.30 Uhr ist der ganze Tag minutiös durchgeplant von der Morgenandacht, über Lektionen, Arbeitszeiten, stille Beschäftigung bis zum Abendgebet. Wie Hans Giebenrath in der Erzählung Unterm Rad und Josef Knecht im Glasperlenspiel wohnt Hesse in der Stube beziehungsweise im Haus »Hellas«. Mit Hingabe widmet er sich dem Studium der Klassiker, übersetzt Homer und beschäftigt sich mit der Dichtung Schillers und Klopstocks. »Ich bin froh, vergnügt und zufrieden. Es herrscht ein Ton, der mich sehr anspricht«, schreibt er in einem Brief vom 24. Februar 1892. Am 7. März jedoch brennt Hesse ohne ersichtlichen Grund durch. Nach einer eiskalten Nacht auf freiem Feld wird der Ausreißer von einem Gendarmen aufgegriffen und ins Seminar zurückgebracht. Dort erhält er als Strafe acht Stunden Karzer. In den folgenden Wochen manifestiert sich bei ihm eine depressive Stimmung, unerklärliche Atemstillstände stellen sich ein. Anderen Seminaristen wird der Umgang mit ihm verboten. Die Folge ist eine Vereinsamung und Isolierung. Hesse führt sich sonderbar auf, provoziert u.a. mit Selbstmordankündigungen seine Umgebung, die alsbald an seinem Verstand zweifelt. Nach sieben Monaten im Seminar holt ihn der Vater nach Calw zurück.
Über die
Zwischenstation in der Evangelischen Akademie von C.J. Blumhardt in Bad Boll, wo
Hesse einen Selbstmordversuch unternimmt, folgt schließlich im Sommer 1892 die
Einweisung in die Irrenanstalt Stetten. Von hier aus richtet er schwere Vorwürfe
gegen seine Eltern:
Hesse zeigt
sich auch in der Folgezeit aufsässig und oppositionell gegen die Regeln der
Eltern. Er fühlt sich unverstanden und alleine. Briefe aus der Anstalt
unterzeichnet er mit: Ab November 1892 kann er schließlich das Gymnasium in Cannstatt besuchen, wo er ein Jahr später zwar das Einjährigen-Examen besteht, aber die Schule dann doch abbricht. Es folgt ein 1 1/2 jähriges Praktikum in der mechanischen Werkstatt des Calwer Turmuhrenfabrikanten Heinrich Perrot.
Der BuchhändlerlehrlingZwischen Oktober 1895 und Juni 1899 absolviert Hesse in Tübingen eine dreijährige Buchhändlerlehre, der sich ein Jahr als Gehilfe anschließt. Seine Arbeitsstelle ist die Heckenhauerische Buchhandlung. Die Tätigkeit verschafft ihm eine gewisse Befriedigung, auch wenn sie ihn anstrengt. Die Bildung seiner Vorgesetzten nötigt ihm Respekt ab. Der elterlichen Aufsicht entronnen, beginnt der Achtzehnjährige mit einer erstaunlichen Selbstdisziplin ein literarisches Selbststudium. Er liest die Klassiker, vor allem Goethe, in denen er sein literarisches Evangelium entdeckt, und widmet sich dann den Romantikern. Viele Stunden verbringt er im Zimmer und hält die Außenwelt auf Distanz. Eine Ausnahme bildet die Freundschaft zu dem Jurastudenten Ludwig Finckh, der selber als Schriftsteller in Erscheinung treten wird, und mit dem er einen Freundeskreis Gleichgesinnter, den Petit Cénacle gründet. Der Bohemekreis fürs Wochenende und nach Feierabend ist nichts, was zuhause in Calw gefällt, vor allem nicht, wenn er zur Produktion eigener Literatur animiert. Im November 1898 kommen die selbst finanzierten Romantischen Lieder heraus, es folgt das Prosabändchen Eine Stunde hinter Mitternacht. Hesses Mutter entsetzt sich:
»Papa hat also
Dein Buch nicht ansehen können. Ich habe es schnell durchgehastet und dann
nachts nicht schlafen können. [...] Mein Herz empört sich gegen solches Gift.« Freier Schriftsteller
Als Erwachsener
kehrt er nach Basel zurück. Hier beginnt er im September 1899 als
Buchhandelsgehilfe in der Reich’schen Buchhandlung, ab April 1901 dann im
Antiquariat Wattenwyl zu arbeiten, wo er bis zum Frühjahr 1903 bleibt. In Basel
sucht und findet er eine neue geistig anregende Umgebung. Es gelingt ihm, sich
einen Bekanntenkreis aus kulturell aktiven und gebildeten Menschen aufzubauen.
Er verkehrt im Haus des Historikers und Staatsarchivars Rudolf Wackernagel und
widmet sich dem Selbststudium der bildenden Küste. Der Besuch im Basler
Kunstmuseum wird zur lieben Gewohnheit. In Basel entdeckt Hesse auch seine
Leidenschaft fürs Reisen und Wandern. Im Frühjahr 1901 fährt er zwei Monate lang
durch Oberitalien.
Gunnar Decker
bemerkt hierzu: »Es gehört zu
den Merkwürdigkeiten im Leben des Autors Hermann Hesse, das er seine
Lebensabwehr allein schreibend zu überwinden vermag. In seinen Texten findet
statt, was im wirklichen Leben ausbleibt. So findet sich dann im Peter
Camenzind eine Schilderung des Sterbens seiner Mutter, dem er sich im
wirklichen Leben nicht ausgesetzt hat, getreu dem Motto, die Wirklichkeit sei
das, was man unter keinen Umständen akzeptieren dürfe. Nur im nachholenden wie
im vorauseilenden Schreiben, das sein eigentliches Leben ist, tritt der Tod dann
doch hervor, aber dann schon wieder in poetischen Bann geschlagen.«
»Nicht nur das,
was Sie mitteilen, sondern wie die an sich nicht bedeutungsvollen Erlebnisse uns
durch die Natur eines Dichters vermittelt werden, – das gibt dem Werk Fülle und
Glanz«, schreibt Fischer enthusiastisch. Hesse erhält einen Verlagsvertrag
(immerhin das Doppelte von dem heute Üblichen: 20 % vom Nettoverkaufspreis) und
einen Vorschuss auf die Hälfte der ersten 500 Exemplare. Sofort kündigt er seine
Stelle im Antiquariat und erklärt sich zum freien Schriftsteller. Ehemann und Familienvater
In Gaienhofen
am Bodensee findet man ein leer stehendes Bauernhaus. Am 10. August 1904 zieht
das junge Paar dort ein. Der neue Lebensabschnitt stellt für den Jungautor eine
neue Form der Gefangennahme dar; sie bringt ihm – laut Decker – das, »was Hesse
am wenigsten erträgt: Familie und Kinder. Maria Bernoulli wird zur
„Platzhalterin“ der gestorbenen Mutter.«
Noch ahnt Hesse
nicht – so Decker –, »dass der tödliche Ausgang der Erzählung mehr als dreißig
Jahre später auch seinen Bruder Hans treffen sollte. Das Rad dreht sich weiter,
nicht nur das große Weltenrad, dem das Lebensrad entspricht, auch jenes grausame
Folterinstrument, auf das jene, die zu schwach sind, ihre Umwelt zu zwingen, und
die doch als Außenseiter erkennbar bleiben, lebendig geflochten werden. Immer
von einer gleichgültigen Mehrheit und ihren anonymen Institutionen.« Der AsienreisendeAm 6. September 1911 besteigt Hesse in Begleitung seines Freundes, des Malers Hans Sturzenegger, in Genua die „Prinz Eitel Friedrich“ um nach Indien zu fahren, dem Land in dem seine Großeltern, sein Vater und seine Mutter im Missionsdienst tätig waren. In Wirklichkeit wird daraus aber keine Indienreise, sondern eigentlich eine Indonesienreise: Penang, Singapur, Sumatra, Borneo und Burma. Den Subkontinent berührt die dreimonatige Reisestrecke nur am Rand: Das Schiff legt zwar in Ceylon an, wo Hesse an Land geht, das buddhistische Heiligtum Kandy besucht und den höchsten Berg besteigt, aber aus dem Vorhaben, die Küste Malabars zu sehen, wird nichts. Die Bildungsreise in den fernen Osten fällt in eine Zeit der Neuorientierung: Bei seiner Familie in Gaienhofen, gerade war der dritte Sohn Martin geboren worden, fühlt sich Hesse zunehmend fremd und unwohl, Aufbruchstimmung und Wanderlust werden immer stärker. Er träumt vom Junggesellendasein.
Die Asienreise
wird zu einer wesentlichen Wegscheide in Hesses Leben. Hier vollzieht sich für
ihn das, was mit Nietzsche eine Umwertung aller Werte nennen kann:
Hesse
postuliert: Der Mahner
Von Gaienhofen
zieht die Familie Hesse im September 1912 nach Bern um. Allerdings nicht in die
Stadt, sondern in ein ländliches Haus in dem stillen Vorort Ostermudingen. Der
Dichter findet alles, was er sucht: schöne Landschaft, nahe Berge und eine
anregende, kultivierte Gesellschaft. Allerdings nehmen die ehelichen Probleme
zu. Mia wird zunehmend gemütskranker. Hesse kann seine Funktionen als
Familienvater, Schriftsteller und Zeitkritiker immer schwerer koordinieren. In
diese Phase fällt auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dem er seine
politischen Mahnrufe entgegensetzt. Hesse ist Patriot, will, dass Deutschland
den Krieg gewinnt, aber er weigert sich gleichzeitig, alle Franzosen und
Engländer als Feinde zu betrachten. Dadurch steckt er in der Klemme. Diese
Haltung bringt Pazifisten und Nationalisten gleichermaßen gegen ihn auf. Sein
öffentlicher Aufruf, dass der Krieg doch einen Frieden zum Ziel haben müsse,
wird als Verrat betrachtet. Er lehnt auch den Boykott gegen Kunst und Dichtung
feindlicher Völker ab.
Nach dem Tod
des Vaters 1916 steht der Dichter am Rande des nervlichen Zusammenbruchs,
weshalb er sich in eine Psychotherapie begibt. Ein wichtiger Freund und Berater
wird ihm der zum Kreis von C. G. Jung gehörende Psychiater Dr. Josef Bernhard
Lang (1881-1945). Der Mediziner ist zu dieser Zeit genau der richtige
Gesprächspartner für den Dichter, der zögernd an einer Schwelle steht. Er hat
sich – so Decker – mit der »Geschichte der Gnosis befasst, der
Zwei-Welten-Lehre, die wie geschaffen scheint für Hesses Doppelgängerprinzip,
dem Entwerfen gegensätzlicher, aufeinander bezogener Figuren, die Trennungen
eines ursprünglichen Ganzen darstellen: so wie Tag und Nacht, Hell und Dunkel,
Ordnung und Chaos.«
Im Jahr 1919
bricht Hesse mit dem Familienleben und der Sesshaftigkeit. Er verlässt Bern, um
allein ins Tessin zu ziehen. Mia befindet sich zu dem Zeitpunkt bereits in
klinischer Behandlung, die Kinder werden ins Internat gegeben oder bei Bekannten
untergebracht. Trotz aller Schwierigkeiten waren die Berner Jahre für den
Schriftsteller Hesse fruchtbare und erfolgreiche Jahre. Rosshalde und
Knulp werden in dieser Zeit vollendet und es entsteht der Roman Demian,
der vor allem die Jugend begeistert und eine neue Stufe im dichterischen
Schaffen einleitet. Auch äußerlich markiert er einen Neuanfang, indem Hesse das
Buch zunächst unter dem Pseudonym Emil Sinclair erscheinen lässt.
Montagnola
Im Mai 1919
findet Hesse im Tessiner Ort Montagnola oberhalb des Luganer Sees die pittoreske
Casa Camuzzi, ein romantisches Schlösschen, in dem er einige Zimmer mietet. Mit
Montagnola beginnt eine einschneidende Veränderung im Leben des 42-jährigen, der
sich persönlich und künstlerisch in einer tiefen Krise befindet. Seine erste Ehe
ist gescheitert, im Ersten Weltkrieg hat sein Weltbild Risse bekommen und seine
auf deutschen Konten lagernden Ersparnisse werden von der Inflation aufgezehrt.
Es ist ein Neuanfang mit viel Ruhe, Schreiben und Malen. Die angestauten
psychischen Spannungen entladen sich buchstäblich in einem kreativen
Schaffensrausch, der seinen Dichterruhm begründet.
Die vielleicht
wichtigste Kernbotschaft in Hesses Werk enthält dabei Siddhartha mit
seinem Versuch einer Synthese von östlichem und westlichem Denken, von Buddha
und Heraklit. Hesse sucht ein »europäisches Nirvana«. Im postulierten und
richtungsweisenden »Sei Du selbst« sieht er die entscheidende Brücke und
Aufforderung an die Leser. Am 22. Juli 1919 trifft Hesse bei einem Ausflug nach Carona die Stahlwarenfabrikantenfamilie Wenger in deren Sommerhaus. Während Theo Wenger Inhaber der Besteckfabrik Coutilier Suisse ist, gehört seine Frau Lisa zu den bekanntesten Romanschriftstellern in der Schweiz. Die gemeinsame damals 21jährige Tochter Ruth erscheint Hesse wie ein erotischer Traum. Ruth Wenger ist jedoch keine Künstlerin, sie bleibt lebenslang „nur“ die musisch begabte Tochter aus gutem Hause; sie ist von daher keine wirklich geeignete Partnerin für einen schwierigen Charakter wie Hesse. Dennoch nimmt ein beiderseitiges Missverständnis seinen Lauf. Der einflussreiche und wohlhabende Theo Wenger unterstützt in der Folgezeit Hesses Scheidung von Mia, die im Juli 1923 erfolgt; er sorgt auch für die Einbürgerung seines künftigen Schwiegersohnes in die Schweiz, und die Beschaffung aller notwendigen Dokumente für eine neue Verehelichung des Dichters mit seiner Tochter am 11. Januar 1924.
Das Paar lebt
fortan meistens mehrere Hunderte Kilometer voneinander entfernt. Ruth widmet
ihre Leidenschaft vor allem ihren Hunden, Katzen, Papageien und anderen
Haustieren, was Hesse wenig interessiert. Die Ehe wird für 3 Jahre aufrecht
erhalten, bis Ruth nach einem kurzfristigen Liebesverhältnis mit dem Maler Karl
Hofer im Januar 1927 die Scheidung einreicht, die am 26. April 1927
ausgesprochen wird. Ebenfalls in diesem Jahr nimmt die Kunsthistorikerin Ninon Ausländer (1883–1971) den Platz an Hesses Seite ein. Bereits 1910 nach der Lektüre von Peter Camenzind hatte sie dem Dichter geschrieben, ihn 1922 auch bereits persönlich kennen gelernt. Ninon hat alle seine Bücher gelesen, kennt sie fast auswendig; sie weiß um den biographischen Kern seines Schreibens. Sie kommt, um ihm zu helfen, ihm etwas Glück in sein Leben zu bringen, von dem er klagt, es sei ihm eine kaum noch zu ertragende Last. Doch Hesse will gar nicht gerettet werden, reagiert mit heftiger Abwehr auf alle Eingriffe in sein Leben. Ninon ist rund um die Uhr für ihn da, wenn er ihr nur winkt – doch er spricht davon, dass das Leben die Hölle für ihn sei.
Ab 1931 bewohnt
Ninon mit Hesse die am südlichen Ortsrand gelegene Casa Hesse, eine Art
Doppelhaus, dessen zwei Teile intern miteinander verbunden sind und jedem der
Partner seinen eigenen Lebensbereich gestattet. Die räumliche Gestaltung des
Zusammenlebens ermöglicht die schwierige Liebesbeziehung. Nachdem die noch
verheiratete Lebensgefährtin im Juni 1931 geschieden ist, heiratet Hesse sie im
November desselben Jahres.
In der Zeit des
Nationalsozialismus wird die Casa Hesse zum Anlaufpunkt politisch Verfolgter wie
Thomas Mann und Bertolt Brecht. Ab Mitte der Dreißiger Jahre wagt keine deutsche
Zeitung mehr, Artikel von Hesse zu veröffentlichen. Der Suhrkamp-Verlag kann
1943 nur noch den Knulp nachauflegen. Hesses geistige Zuflucht vor den
politischen Auseinandersetzungen und später vor den Schreckensmeldungen des
Zweiten Weltkrieges ist die Arbeit an seinem Roman Das Glasperlenspiel,
der 1943 in der Schweiz gedruckt wird. Nicht zuletzt für dieses Spätwerk wird
ihm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen, nachdem sich u.a. auch Thomas
Mann vehement für seinen Dichterkollegen eingesetzt hat. Im Dezember 1961 diagnostizieren die Ärzte bei Hesse Leukämie. Ein Gedicht, das der Todkranke zur Jahreswende 1961/62 schreibt, verrät bereits seine Ahnung vom Kommenden:
Unruhevoll und
reiselüstern
Statt zu ruhen,
statt zu liegen
Kurz nach
seinem 85. Geburtstag stirbt Hermann Hesse am 9. August 1962. |
Hermann
Hesse
Hermann
Hesse
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