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Literatur und Zeitkritik


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Ein Gefühlsautist obduziert die französische Gesellschaft

Was erlauben BILD. - Houellebecq wie Flasche leer? - Ich habe fertig.
Es gab in der ersten Woche nach Erscheinen von Houellebecqs Roman
»Unterwerfung« schon zahlreiche Kommentare und Rezensionen zu lesen.

Von Thomas Brasch





 

Den Vogel schoss BILD mit ihrem Fazit zur Lektüre ab: »Jede Zeit hat die Bücher, die sie verdient. 'Unterwerfung' heißt das Buch der Stunde. Es ist eine Art YouPorn fürs Hirn, ein 'Shades of Grey' für Intellektuelle. Man muss darüber Bescheid wissen, ob man will oder nicht.«

Ich gestehe, dass ich Michel Houellebecqs schon vor diesem Roman in die Ecke der zynisch-miesepetrigen Intellektuellen einquartierte, die zwar jaulen und bellen, jedoch kaum beißen können. Und auch »Unterwerfung« konnte mich da nicht vom Gegenteil überzeugen. Dass aber das größte Boulevardblatt Deutschlands, dessen Redaktion sich conditio sine qua non nur aus Zynikern zusammensetzen kann, einzig das oben Genannte am Roman bemerkenswert findet, das zeigt mir doch, dass dort wohl jegliches geistreiche Denken abhanden gekommen ist.



Während Houellebecq den harmlosen Lebensweg wählte, seinen Zynismus mittels seines literarischen Talents zu sublimieren und uns damit sehr lesenswerte, wenn auch unbehagliche Literatur anbietet, demonstrieren uns Bild-Redakteure tagtäglich ihre zynische Hybris. Das Blatt liefert tagtäglich Ausgeburten intelligenter Menschen, die herablassend schenkelklopfend die Klischees, Ressentiments und die Tumbheit einer anspruchslosen Masse bedienen. Und Bild ist exemplarisch für die bigotten Medienmacher, die am Tag nach dem Attentat auf Charlie Hebdo lieber die voyeuristische Geilheit der Gesellschaft mit grausamen Attentäterbildern befriedigen als den Opfern kollegial ihre Titelseite zu widmen. Das ist NewsPorn.

Wie unbedenklich dagegen ein Schriftsteller, der Literatur verfasst, die selbst gebildete Leser fordert und – wie ich schon nach den ersten 100 Seiten schrieb – auch amüsant und spannend unterhält.

Vergleichende Literaturwissenschaft kann ich in diesem Fall nicht leisten, da ich »Shades of Grey« (bislang) nicht gelesen habe. Doch über einen der meist genutzten Contentanbieter im Netz (dessen Businessmodell Medienhäuser wie Springer neidvoll erblassen lässt) kann ich mitreden. Und bei dem wäre mir nie in den Sinn gekommen, eine Analogie mit »Hirn« zu formulieren.

Sicher gibt es in dem Buch einigen Sex. Meist derb und emotionslos, doch auch mal – zumindest für mich – ziemlich erotisch und lustvoll. Den hat Francois, der Antiheld des Romans, mit der jüdischen Studentin Myriam. Myriam war eine Überraschung für mich im Roman. Denn über die ersten 80 Seiten stellt uns Houellebecq eine fast schon stereotype Hauptfigur als Erzähler vor: lebensfrustrierter, »verhärtet und vertrockneter« Typ, der sich zwar klar und amüsant zu analysieren weiß, jedoch keinerlei Ambitionen zur Veränderung mehr verspürt. Ein Gefühlsautist, der in seinem selbst versifften Weltbild allmählich versumpft. Und dann taucht plötzlich die kecke, lebensfreudige Myriam – herzlich von Francois ersehnt – zu seinem Geburtstag auf. Es folgt eine Szene, die ich im Buch markiert und als »fast romantisch« bezeichnet habe.

Zum einen konkret der Katholizismus, repräsentiert durch J.-K. Huysmann, einem französischen Autor des 19. Jahrhunderts. Er ist das lebenslange Studienobjekt von Francois. Wie man im Roman ausführlich erfährt – und Huysmann deshalb auch nicht gelesen haben muss –, wendet sich auch dieser ähnlich angewidert von der dekadenten Gesellschaft des Fin de Siècle ab und konvertiert letztlich zum katholischen Glauben.
Und zum anderen der islamische Glaube. Das dramaturgisch sehr gelungene Szenario, indem sich Frankreich im Jahre 2022 nach kurzen politischen Kapriolen und Komplotten innerhalb von nur wenigen Monaten in einen »gemäßigten« islamischen Staat wandelt, in dem sich Frauen verschleiern und unterordnen, die Polygamie und Päderastie legalisiert ist und einzig nur noch staatliche Bildung bis zum 7. Schuljahr finanziert wird, ist wirklich faszinierend schaurig. Jedoch auch sehr fiktiv. Die Schilderung blendet erheblichen Widerstand aus und attestiert der überwiegenden Mehrheit der Franzosen (und damit wohl allen »Westlern«) feigen Opportunismus, korrupte Egomanie und leichtfertigen Verrat aller Werte einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft.

Nicht Islamophobie macht den Roman bedenklich, sondern eben diese durchgängige Unterstellung, dass eine säkularisierte Gesellschaft, die sich den Krücken eines Gottesglauben entledigte, selbst nicht ausreichend Werte und Sinn bieten könne, um sich vor einem Rückfall zu wappnen. Religion ist nicht nur für Marx, sondern auch für Houellebecq Opium fürs Volk. Doch für Houellebecq besteht das Volk aus nicht therapiefähigen Junkies. Früher oder später gewinnt immer wieder die Sucht nach göttlicher Auserwähltheit.

Wem das im Roman so nicht deutlich wird dem empfehle ich die Interviews mit Michel Houellebecq in der Süddeutschen und der Zeit. In der Zeit sagte er z.B.:

»Es tut mir leid, wenn ich hier etwas pedantisch werde. Aber diese Idee hatte vor mir schon Auguste Comte. Er hat vorausgesagt, dass das Zeitalter der Revolution und der Aufklärung von einem neuen religiösen Zeitalter abgelöst werden wird. Diesem Gedanken habe ich schon immer zugestimmt. Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig. Der Laizismus, der Rationalismus und die Aufklärung, deren Grundprinzip die Abkehr vom Glauben ist, haben keine Zukunft. Sie finden in vielen meiner Romane Entwürfe einer neuen Religion.«

Das Bittere ist, dass ich der Diagnose – oder soll man schon Obduktion sagen – unserer Gesellschaft in vielem zustimme. Wir sind apolitisch, wirken saturiert, moralisch bigott und verteidigen humanistische Werte kaum mehr für die gesamte Gesellschaft, sondern nur für persönlich bevorzugte Kreise. Mit dem Wert »Freiheit« wissen viele nichts mehr anzufangen, ja hadern sogar mit ihm, so dass Houellebecq kaltschnäuzig in Raum stellen kann, dass es manchen sicher gefällt, keine Freiheit und keine Sorgen mehr zu haben.

Wenn er mit seiner Fiktion letztlich Recht behalten sollte, dann dürfen meinetwegen auch gerne die Macher der BILD weiter ihrer zynischen Lust frönen. Es wundert kaum, dass Medien und Politik das politische desinteressierte Alter Ego Francois anekeln. Ihm sei jedoch klar,

»dass der seit Jahren sich verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen – also Politiker und Journalisten –, notwendiger Weise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen müsste.«

Noch unzählige weitere provokative – und wie zu erwarten, auch misogyne – Sätze hat Michel Houellebecq auf den rund 270 Seiten uns überlassen. Ein sehr geistreicher, relevanter und angesichts der Fülle an Themen auch ein sehr kompakter Roman. Schon auf Seite 9 erklärt uns der Literaturwissenschaftler Francois seine besondere Wertschätzung von Literatur gegenüber anderen Künsten:

»Aber allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderem menschlichen Geist, … Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre – …

Bei allem Respekt, den ich vor dem Autor Michel Houellebecq und seinem Werk habe, ich mag sie sicher nicht einem intensiven Gespräch mit einem guten Freund vorziehen. So sehr ich gute Literatur schätze, so neige ich nicht dazu, sie zu überschätzen und stimme Houellebecq gerne zu, wenn er im Interview der NZZ zitiert wird:

»Noch nie habe ein Leser wegen eines Romans seine Weltanschauung geändert.«

Sollte es jemand nun aufgrund der Lektüre von »Unterwerfung« doch tun, so lasse sie/er es mich bitte wissen.

Artikel online seit 25.01.2015
 

Michel Houllebecq
Unterwerfung
Roman
Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek
DuMont Buchverlag
271 Seiten
22,95
978-3-8321-9795-7

Siehe auch unseren Beitrag:

Selbstmord auf offener Bühne
Von Thomas Hummitzsch
Text lesen
Grandios inszeniert Michel Houellebecq in seinem Roman »Karte und Gebiet« den eigenen Tod.
Ein Aufschrei ging durch Frankreich, als La carte et le territoire erschien. Die bereits in den vorgestanzten Kritiken einkalkulierten Sexorgien, die Frauen verachtenden Perversitäten, die ausländerfeindlichen Tiraden und zum Blasphemievorwurf taugenden Reminiszenzen fehlten. Dem neuen Roman des Skandalautors fehlte schlicht und einfach der Skandal. Ein Skandal!

 


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