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Prinzessin ohne Land
Lukas Hartmanns west-östliche Familiensaga Von Bettina Johl
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Merkwürdig verhält es sich von jeher mit Geschichten, die von Prinzessinnen handeln. Zu allen Zeiten haben sie unsere Phantasie beflügelt, und das märchenhafte Flair, das sie umgibt, hält zuweilen selbst nüchternster Realität stand. Als 1886 ein Buch mit dem Titel »Memoiren einer arabischen Prinzessin« in einem Berliner Verlag erschien, erregte dies entsprechend Aufsehen und wäre aus heutiger Sicht durchaus dazu angetan gewesen, Bestsellerlisten zu stürmen, – allein solche gab es in dieser Form zu jenen Zeiten noch nicht. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und musste innerhalb eines Jahres gleich viermal nachgedruckt werden. Seiner Leserschaft bot es Einblick in eine exotische Welt und faszinierte einmal mehr durch den Umstand, dass es sich bei der Autorin Emily Ruete um eine wirkliche Prinzessin, Sayidda Salme bint Sayd, eine Tochter des Sultans, des regierenden Herrschers über Sansibar und Oman, und einer seiner Nebenfrauen handelte. Als Witwe des Hamburger Kaufmanns Heinrich Ruete, dem sie zwanzig Jahre zuvor nach Deutschland gefolgt war, lebte sie dort in gänzlich anderen als prunkvollen Verhältnissen. Ruete, mit dem sie zunächst in einem repräsentativen Haus in Hamburg auf der Uhlenhorst gewohnt und drei Jahre lang – abgesehen von Heimweh – ein durchaus glücklich zu nennendes Familienleben geführt hatte, wurde eines Tages beim Abspringen von einer Pferdebahn überrollt und verunglückte tödlich. Sie blieb mit drei Kindern in der Fremde zurück, – nahezu mittellos, da man sie nach Hamburger Recht von Amts wegen unter Vormundschaft stellte, ihr nur einen geringen monatlichen Betrag zubilligte und das Vermögen ihres Mannes recht bald anderweitig durchbrachte, so dass weder sie noch ihre Kinder je viel davon zu sehen bekommen sollten.
Prinzessin
Salme mit Ehemann Die Schattenseiten: Als Kind ihrer Zeit und Gesellschaft, obwohl selbst Tochter einer als Kind verschleppten, tscherkessischen Sklavin aus dem Kaukasus, verteidigte sie die Sklaverei, bezeichnete diese als notwendige Institution. Das Palastleben hingegen wurde – wie wohl in Palästen weltweit üblich – bestimmt von Intrigen, in die auch sie entscheidend verwickelt war. Sansibar – Zauberwort, Zauberort. Die Insel im Indischen Ozean, Wunschziel vieler ungestillter Sehnsüchte. Wer es sich leistete, in der Schule den Geographie- und Geschichtsunterricht zu verschlafen, benötigt zur genauen Bestimmung ihrer Lage einen Atlas. Erinnerungen an den exotischen Namen im Zusammenhang mit einer Lektüre aus lange zurückliegenden Deutschstunden: »Sansibar oder der letzte Grund« von Alfred Andersch. Angestrengtes Durchforsten des Gedächtnisses, was es in jener Schilderung einer Flucht aus Nazi-Deutschland über die Ostsee eigentlich mit Sansibar auf sich hatte. Ein Anlass zum erneuten Lesen. In diesem Roman steht die Gewürzinsel vor der ostafrikanischen Küste stellvertretend für alles Fernweh und alle Reise- und Abenteuerlust, die einen jungen Menschen befallen kann, in jenem Fall den unter der Eintönigkeit des Lebens in einer unbedeutenden kleinen Hafenstadt und dem Fehlen jeglicher Perspektive leidenden Fischerjungen, der sich plötzlich in der Rolle eines Fluchthelfers wiederfindet.
Das Interesse europäischer
Regierungen an Sansibar, insbesondere derer des gründerzeitlichen Deutschlands
und des viktorianischen Englands, richtete sich jedoch auf ganz andere als rein
touristische Abenteuer. Sansibar als Sitz der omanischen Dynastie der Al-Bu-Said,
deren Macht und Einfluss bis nach Somalia, Uganda, Zaire und Malawi reichte,
bildete sozusagen das Tor zu Afrika. Um es genauer zu sagen: Zu jenem begehrten
Teil Afrikas, in dem Handelsgüter und Bodenschätze winkten und die Ökonomie auf
der Arbeitskraft von Sklaven basierte, was man zwar begonnen hatte, vornehm zu
kritisieren, aber billigend in Kauf nahm, solange es dem eigenen Profit diente.
Jenes Afrika, welches durch die Erreichbarkeit auf dem Seeweg über das
Mittelmeer durch den 1869 fertiggestellten Suezkanal in verlockende Nähe rückte.
Keine umständlichen und beschwerlichen Landwege mehr, keine
Wüstendurchquerungen, nicht länger das zeitraubende, gefährliche Umschiffen des
riesigen Kontinents um das Kap der Guten Hoffnung, – sofern man sich den
Kanalzoll leisten konnte. Auf Sansibar trafen sich Afrika und der Orient; die
erträumten Reichtümer aus Tausendundeiner Nacht schienen nur darauf zu warten,
gehoben zu werden, und hierbei wollte – wie üblich – jeder der Erste sein. Wäre sie auch unter anderen als diesen Umständen mit nach Deutschland gegangen? Wir wissen es nicht. Die Trauer um den Sohn Heinrich jr., der die beschwerliche Reise nicht überstand und noch als Säugling starb, trug sie tief in sich verschlossen. Ihre weiteren Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, wurden in Deutschland geboren und europäisch erzogen. Sie sollten ganz im Sinne ihres Vaters als Deutsche aufwachsen; dies stand für sie außer Frage, und so zog sie auch später als Witwe eine endgültige Rückkehr nie ernstlich in Betracht. Allerdings kämpfte sie einen mehrjährigen zähen, erfolglosen Kampf um ihr väterliches und mütterliches Erbe, das man ihr nach dem Verlassen des Landes enteignet hatte, denn der Tod ihres Mannes sowie die Verweigerung der Behörden, über dessen Vermögen verfügen zu können, stürzte sie in erhebliche wirtschaftliche Bedrängnis. Sie zog mit ihren Kindern mehrmals um, lebte in verschiedenen deutschen Städten, darunter Dresden, Rudolstadt, Berlin und Köln, in zunehmend dürftigen Verhältnissen, nur gelegentlich aufgebessert durch das Erteilen arabischen Sprachunterrichts oder durch Zuwendungen vereinzelter Vertreter des deutschen Adels, denen ihr Schicksal naheging. Ihren Sohn gab sie alsbald in eine Kadettenanstalt; so war zunächst für dessen Unterhalt gesorgt, und mit der Aussicht auf eine militärische Laufbahn auch für seine Zukunft, wovon man im säbelrasselnden Europa des späten neunzehnten Jahrhunderts überzeugt war. Dass der als sensibel geltende Junge unter der Trennung von der Familie, der leidlichen Versorgung und dem in jenen Einrichtungen üblichen harten Drill litt, mag ihr schmerzlich bewusst gewesen sein; eine Wahl hatte sie jedoch auch hier nicht.
1885 reiste sie erstmals
in Begleitung ihrer drei Kinder nach Sansibar, eine Aktion, die in Begleitung
deutscher Kriegsschiffe, unter Wahrung strenger Geheimhaltung stattfand. Die
Unterstützung Bismarcks dürfte kaum darauf zurückzuführen gewesen sein, dass man
sich allzu sehr für Prinzessin Salmes persönliches Schicksal interessierte.
Vielmehr instrumentalisierte man sie angesichts schwelender
Gebietsstreitigkeiten für deutsche Kolonialinteressen. Wäre ihr als deutscher
Staatsbürgerin bei dem Versuch, ihre Erbansprüche durchzusetzen, etwas
zugestoßen, hätte man dies als willkommenen Vorwand für ein militärisches
Eingreifen Deutschlands angesehen. Dies jedoch geschah nun nicht; die Prinzessin
wurde von ihrem regierenden Halbbruder schlicht nicht empfangen. Auch eine
zweite Reise 1888, auf der nur noch ihre jüngste Tochter sie begleitete, blieb
ohne Erfolg. Infolge des Helgoland-Sansibar-Vertrages, in dem Deutschland 1890
endgültig auf Gebietsansprüche, Sansibar betreffend, verzichtete, verebbte das
deutsche Interesse an der Prinzessin. Von britischer Seite hingegen war
ebenfalls keine Unterstützung zu erwarten, vereitelte man ihr bereits 1875 einen
Versuch der Kontaktaufnahme anlässlich eines Staatsbesuchs ihres Bruders in
London, ohne je die im Gegenzug versprochenen Unterhaltszahlungen zu leisten.
Eine Rückkehr zum islamischen Glauben, die einzige Möglichkeit zur
Wiederaufnahme in die königliche Familie, stand für sie, die sich selbst als
»schlechte Christin« bezeichnete, außer Frage. Erst ein Jahr vor ihrem Tod wurde
ihr seitens eines Neffen des Sultans eine kleine Rente in britischen Pfund
zugebilligt, verbunden mit der Auflage, auf alle weiteren Ansprüche endgültig zu
verzichten. Die älteste Tochter Antonie Thawka lebt lange mit der Mutter in Beirut, heiratet spät, mit dreißig Jahren, den Kolonialbeamten Eugen Brandeis, mit dem sie mehrere Jahre auf den mikronesischen Marshallinseln im westlichen Pazifischen Ozean lebt, wo auch ihre beiden Töchter zur Welt kommen. Auch sie betätigt sich schriftstellerisch, verfasst ein »Kochbuch für die Tropen« für Frauen der Kolonisten. Die Härte und Grausamkeit ihres Mannes gegenüber der einheimischen Inselbevölkerung, die ihm letztlich sogar seitens seiner gewiss nicht zimperlichen Vorgesetzten eine frühzeitige Versetzung in den Ruhestand einträgt, erträgt sie nur schwer. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland engagiert sie sich im Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft und wirkt an der Gründung einer Frauenkolonialschule und an der Internationalen Ausstellung für Hygiene 1911 in Dresden mit. Von Brandeis entfremdet sie sich zunehmend. In späten Ehejahren erwirkt sie die Trennung. Die jüngste Tochter Rosalie Ghaza heiratet ebenfalls spät den patriotisch gesinnten Offizier Martin Troemer, der es zum Rang eines Generalmajors bringen wird, um nach dem Ersten Weltkrieg als Überlebender der Schlachtfeldhölle Verdun als in sich gekehrter, schweigsamer Mensch zurückzukehren. Eine ihrer beiden Töchter wird den berüchtigten nationalsozialistischen Militärjuristen Erich Schwinge ehelichen. Der Sohn Said, der später den zusätzlichen Namen Rudolph tragen wird, schlägt die militärische Laufbahn ein, in deren Verlauf er, den es in den Orient zieht, Bismarck persönlich mit Erfolg um Versetzung ins Konsulat nach Beirut ersucht. Als fast Dreißigjähriger gibt er die Offizierskarriere jedoch unvermittelt auf, wird zunächst Eisenbahninspektor in Ägypten, betätigt sich danach als Bankier, angetrieben von der Idee, durch Förderung von entsprechenden, auf Ausgleich und Verständigung ausgerichteten Projekten dem Frieden dienen zu können. Zuletzt wird er mit seiner Frau, der aus begüterter Familie stammenden Jüdin Therese Matthias, mit der er einen Sohn und eine Tochter hat, abwechselnd in London und in der Schweiz leben. 1906 erhält er vom Hamburger Senat die Erlaubnis zum Führen des Doppelnamens Said-Ruete.
Die Katastrophe des Ersten
Weltkrieges bringt zahllose Verwirrungen und Veränderungen mit sich. Emily Ruete,
die sich bei dessen Ausbruch zu Besuch bei ihrer Tochter Rosalie in Bromberg in
der damaligen Provinz Posen, heute Bydgosc in Polen, befindet, wird nicht in den
Nahen Osten zurückkehren. Sie lässt sich zunächst an Ort und Stelle nieder und
zieht später mit Familie Troemer nach Jena, wo sie 1924 plötzlich schwer
erkrankt und stirbt, ohne ihre Heimat nochmals gesehen zu haben. Ihre Kinder
setzen ihre Urne im Familiengrab der Ruetes auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf
bei. Danach werden sich die Wege der Geschwister nur noch selten kreuzen.
Im Roman kommen die
Geschwister im Wechsel zu Wort, wenngleich Rudolph die Hauptfigur der Handlung
bleibt. Die einzelnen Kapitel beginnen mit Auszügen aus einem Brief, den
Prinzessin Salme 1883 in arabischer Sprache an ihren Bruder, Sultan Bargash von
Sansibar, mit der Bitte um Aussöhnung sandte. Auf der Grundlage intensiver
Nachforschungen zeichnet Lukas Hartmann fernab jeglichen Prinzessinnenkitsches
ein berührendes Bild des ungewöhnlichen Lebens einer ungewöhnlichen Frau und
Schriftstellerin, auf deren Grabplatte zuletzt ein Vers Theodor Fontanes aus der
Ballade »Archibald Douglas« stehen wird: "Der ist in tiefster Seele treu, wer
die Heimat liebt wie Du." Die Zerrissenheit ihrer Familie hingegen spiegelt auf
beklemmende Weise die Zerrissenheit der menschlichen Gesellschaft während eines
unruhigen Jahrhunderts mit all seinen nur schwer durchschaubaren Verwicklungen
wider. Der Aktualität des Erzählten, auch hundert Jahre später, wird sich
deutlich bewusst, wer sich mit den Konflikten unserer eigenen Zeit konfrontiert
sieht und diese nicht allzu verschieden von den früheren findet. Verworrener
noch als ehedem, von einer friedlichen Beilegung in vielen Fällen weiter
entfernt als je zuvor, beunruhigender allemal im Hinblick auf die Existenz von
Massenvernichtungswaffen, deren Gefahrenpotenzial unsere Vorstellungskraft
übersteigt. Wir Nachgeborenen, die wir aufgefordert sind, das Erbe der
Verantwortung für eine friedlichere Welt anzutreten, keine Wahl haben, es
auszuschlagen, werden uns dem nicht stellen können, ohne uns mit der Geschichte
auseinanderzusetzen. Historische Daten, Zahlen und Fakten beschreiben das
beobachtete und dokumentierte äußerliche Geschehen. Was die einzelnen Menschen
jeweils zu ihren Zeiten in ihrem Inneren bewegte, bleibt jedoch im Verborgenen.
Nachgelassene persönliche Aufzeichnungen helfen, Licht in dieses Dunkel zu
bringen. Sie gilt es wiederum zu deuten und zu interpretieren. Nicht jeder lässt
hierbei die Sorgfalt walten, die geboten wäre. Lukas Hartmann hingegen bringt
uns die Akteure der Handlung auf sehr glaubwürdige Weise nahe. Er zeichnet klar
umrissene Charaktere mit Stärken und Schwächen, räumt ihnen das Recht ein, zu
scheitern und lässt sie davon Gebrauch machen, ohne deshalb je ihre Würde in
Zweifel zu ziehen. Der Roman stimmt nachdenklich, traurig zuweilen, ohne jedoch
zu deprimieren. Er redet nicht der Kapitulation vor dem Leiden an den
Verhältnissen das Wort, vielmehr – bei aller Tragik – einer unerschütterlichen
Zukunftshoffnung, die über alle Zeitlichkeit hinauszureichen vermag. |
Lukas Hartmann |
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