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Artikel online seit 14.11.12

Wieviele bin Ich?

John Irvings neuer Entwicklungsroman »In einer Person«
handelt von der Suche nach sexueller Identität.


Von Krisha Kops
 

Stellen Sie sich eine Figur vor, die auf seinen Stiefvater, eine ältere Frau mit maskulinen Zügen und ein wenig auf seine beste Freundin steht – die also so ziemlich "verknallt in all die falschen Leute" ist. Dann haben Sie Billy, den Protagonisten von John Irvings neuem Roman In einer Person.

In einer Person ist der Entwicklungsroman eines bisexuellen Jungen in einer Zeit, in der es nicht leicht ist für jemanden, der nicht den Konventionen folgt. Billy wird in den 40er Jahren in einer fiktiven Stadt namens Seven Sisters geboren und besucht eine Jungenschule. Dort wird  ihm von dem Schularzt versichert: "Es gibt eine Kur für diese Krankheiten".
Wie der Titel vielleicht suggeriert, hat Billy zwei Sexualitäten in einer Person. Sprich: Er ist bisexuell. Tatsächlich scheint er eher omnisexuell zu sein, zumal er seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Intersexuellen und seiner besten Freundin macht, deren BH stiehlt, um ihn selbst nachts zu tragen. Man könnte sagen, er sei der Inbegriff eines altgriechischen Liebhabers.
Billy ist nicht die einzige sonderbare Figur in diesem Roman. Da gibt es den Großvater, ein unterdrückter Homosexueller, der auf seine eigene Art rebelliert, indem er Frauenrollen am Theater spielt; oder aber die weibliche Bibliothekarin, ein ehemaliger Spitzenringer, der sich vor keinem Kampf scheut.
Ringen und starke doch komische Charaktere sind lediglich zwei der Leitmotive, welche man bereits aus Irvings vorangegangenen Romanen kennt. Abermals befinden wir uns in Neu England und Wien, werden Zeugen von tödlichen Unfällen, trauern absenten Eltern nach und treffen auf Bären wie auch Drehbuchautoren.

Manche Kritiker argumentieren, dass Irving zu repetitiv in seiner Themenauswahl wäre. Meiner Meinung nach funktionieren die Wiederholungen jedoch, ohne dabei langweilig zu werden. Vielleicht weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist, oder aber da wir alle unsere Lieblingshaustiere haben: John Irving seine Bären und Haruki Murakami seine Katzen.

Die Schulzeit ist für Billy die Zeit der Selbstfindung, der Entdeckung seiner Persönlichkeit. Es überrascht nicht, dass das Theater einer der dominierenden Thematiken des Romans ist. Das Wort "persona" stammt von der Maske ab, die Schauspieler im antiken Griechenland trugen. "Wer ist's, der mir kann sagen, wer ich bin?" ruft Billys Onkel trefflich in einer König Lear Aufführung.
Die Richtige Maske zu finden, erweist sich als schwierig, besonders für jemanden, der den Drang verspürt, zwei zu tragen. Das Theater selbst ist eine konstante Hinterfragung und Parallele der Hauptnarrative. So ist es kaum ein Zufall, dass Billy in einer Aufführung von
Der Sturm Ariel, die "veränderliche", polymorphe Figur, spielt.
Gleichzeitig hilft es den Figuren sich in oft repressiven Umfeldern selbst zu schützen. Zum Beispiel geben Billy und seine beste Freundin Elaine vor in einer Beziehung zu sein, um Belästigungen dritter zu verhindern.

Allerdings scheint Billy nicht der Einzige zu sein, der sich unsicher ist, welche Maske er tragen soll. Neben seinem Großvater, der die Vorliebe für die Garderobe seiner Ehefrau nicht verhehlen kann, entpuppen sich alle noch so scheinbar straighten Charaktere als auf die eine oder andere Weise queer.
Während eine Frau versucht, die Weiblichkeit ihres effeminierten Sohnes auszutreiben, indem sie zuerst mit ihm schläft und dann mit dem Mädchen, das er geschwängert hat, hat eine andere Frau ausschließliche Analsex, aus Angst schwanger zu werden. Billy trifft diese Freundin – eine Opernsängerin, die "ein Es-Dur” trifft, wenn sie kommt – in Wien.

Die Art und Weise, wie Irving nicht nur seine Charaktere, sondern auch die meisten seiner Szenen in satirische und lustige Extreme zieht, hält dem Leser vor Augen, dass die ganze Welt eine Bühne ist. Dennoch, abhängig von der Neigung zu und dem Wissen über Shakespeare und Ibsen, kann die Wiederholung des Theaters nervend sein.
Da Billy später einmal in New York ein Schriftsteller sein wird, ist es unvermeidlich, dass neben dem Theater, auch fiktive Prosa zu einem weiteren "cross-dressing" wird. Deshalb werden Dickens, Baldwin, Flaubert und die Brontës zur Bibel von Billys Sexualität und Leben. Nochmals setzt der Autor eine stark Affinität für Bildungsliteratur voraus.

Irving versucht den Roman durch seine ungewöhnlichen und interessanten Charaktere faszinierend zu machen. Da jedoch der eigentliche Erzählstrang nur aus Billys Leben und  keinen weiteren Spannungszügeln besteht, schlaft das Buch beizeiten ab. Irving versucht dem aus dem Weg zu gehen, indem er Zeitfenster überspringt und immer wieder Köder mit Informationen für den Leser hinterlässt, um diesen hungrig nach mehr zu machen.

Nichtsdestotrotz zeigt der letzte Teil des Romans, der gegen den Hintergrund der von AIDS-zerrütteten 70er und 80er Jahre erzählt wird, Iriving in bester Form. Traurig und absorbierend beschreibt er wie die Epidemie um sich greift.
In einer Person ist mehr als ein 400 Seiten Kinsey-Report eines Bisexuellen. Es ist ein humorvoller Appell für Akzeptanz jeglicher sexueller Identität. Es ist ein zutiefst menschliches Buch und vergisst nur manchmal in seiner humanitären Mission, etwas fesselnder zu sein.

Der Artikel war ursprünglich in Englisch abgefasst und wurde vom Autor ins Deutsche übertragen.

 

John Irving
In einer Person
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz
Roman
Diogenes Verlag
Hardcover Leinen, 736 Seiten
€ (D) 24.90 / (A) 25.60
sFr 35.90*
ISBN 978-3-257-06838-2


John Irving über In one Person



 

 


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